Es war Dezember. Draußen war es kalt und große Schneeflocken fielen vom Himmel. Weihnachten stand vor der Tür. Im Kindergarten bastelte Jule gerade mit ihrer Freundin Sarah Silbersterne für den Weihnachtsbaum. Plötzlich stand eine Erzieherin mit einem kleinen Mädchen in der Tür.
„Hallo Kinder“, rief sie der Gruppe zu. „Ich habe euch jemanden mitgebracht.“ Die Kinder schauten das Kind neugierig an.
„Das ist Natalia. Natalia kommt aus Russland, und ab heute wird sie bei euch in der Gruppe sein.“ Jule sah Natalia von oben bis unten an. Ihr fiel auf, dass sie eine kaputte Hose und einen viel zu kleinen Pullover trug. Außerdem sah das neue Mädchen sehr traurig aus.
„Guck mal was die für Sachen an hat“, flüsterte Jule ihrer Freundin Sarah zu. „Ja, komisch“, antwortete Sarah. Dann kümmerten sich die beiden nicht mehr weiter um Natalia. Sie bastelten weiter an ihren Sternen.
Nach dem Basteln setzten sich alle in einen Stuhlkreis. Die Erzieherin erzählte ihnen etwas über Natalia. Sie war fünf Jahre alt und lebte erst seit ein paar Wochen mit ihrer Mutter in Deutschland. Sie sprach kaum Deutsch. Außerdem erfuhren sie, dass Natalia keinen Papa mehr hatte und ihre Mutter sehr arm war. Natalia tat Jule leid. Nie hätte sie gedacht, dass es so etwas gab.
Als Jule zu Hause am Mittagstisch saß, fiel Ihrer Mutter auf, dass sie sehr ruhig war und kaum etwas aß. Die Mutter wunderte sich.
„Nanu Jule, hast denn gar keinen Hunger?“ Doch Jule schüttelte nur den Kopf. Da nahm sie ihre Mutter auf den Schoß: „Erzähl mal, was ist denn los?“ Und Jule erzählte von Natalia. Ihre Mutter war verwundert und beeindruckt zugleich, dass Jule sich so viele Gedanken um andere Kinder machte. „Es ist bestimmt nicht leicht für Natalia“, sagte sie dann zu Jule. „Sie wird hier noch keine Freunde haben und ist deshalb bestimmt auch sehr traurig. Vielleicht hast du ja Lust ihre neue Freundin zu werden. Das würde ihr bestimmt sehr helfen.“ Ja, genau das würde Jule gleich am nächsten Tag versuchen. Ihre Traurigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Vergnügt setzte sie sich wieder auf ihren Platz und aß ihr Mittagessen.
Am nächsten Morgen im Kindergarten erzählte sie gleich Sarah von ihrem Vorhaben. Und auch Sarah gefiel die Idee. Sie warteten bis Natalia in den Kindergarten kam und wollten gleich mit ihr spielen. Doch leider verstand sie nicht gleich was die beiden von ihr wollten. Aber nach einigen Minuten saßen alle drei in der Puppenecke und hatten eine Menge Spaß. Dass Natalia nicht so gut Deutsch sprach, war für die Mädchen überhaupt kein Problem. Anschließend bastelten sie zusammen Weihnachtsschmuck.
Es waren nur noch ein paar Tage bis Weihnachten. Und bis dahin spielten Jule und Sarah jeden Tag mit Natalia im Kindergarten. Die Erzieherin und auch Natalias Mutter waren sehr froh darüber, dass sie so schnell Anschluss gefunden hatte.
Dann kamen die Weihnachtsferien. Die Kinder im Kindergarten verabschiedeten sich von einander und wünschten sich frohe Weihnachten und einen guten Rutsch. Langsam war auch es Zeit einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Jule fuhr mit ihren Eltern auf einen alten Gutshof. Dort kauften sie schon seit Jahren ihren Baum. Sie suchten sich den Schönsten aus, dann tranken alle heißen Punsch und aßen Schmalzkuchen. Die drei hatten dort immer großen Spaß. Doch in diesem Jahr war irgendetwas anders. Jule war nicht so fröhlich wie sonst. Sie schien in Gedanken versunken.
„Na Jule, in welchem Traum bist du denn gerade?“, fragte ihr Vater. Jule sah in eine Weile an, dann antwortete sie: „Ob Natalia und ihre Mutter auch einen Weihnachtsbaum haben? Ob sie überhaupt Weihnachten feiern können?“ „Bestimmt haben sie einen Baum und werden auch Weihnachten feiern“, antwortete ihr Vater. „Du machst dir ja ganz schön viele Gedanken über Natalia.“
„Naja, sie hat ja keinen Papa mehr, und ihre Mama hat nicht so viel Geld. Sie wird bestimmt auch keine Geschenke bekommen. Da kann man doch nicht schön Weihnachten feiern“, antwortete Jule ein wenig traurig. Jules Eltern sahen sich kurz lächelnd an. Dann sagte ihr Vater: „Ich bin mir sicher, dass der Weihnachtsmann sie bestimmt nicht vergisst.“ Nachdem der Baum im Auto verstaut war, fuhren sie wieder nach Hause. Der Baum sollte schließlich noch geschmückt werden.
Zwei Tage später war der große Tag, auf den alle Kinder sehnsüchtig warteten, endlich da. Heiligabend. Im ganzen Haus roch duftete es herrlich nach Plätzchen und Tanne. Alles war festlich geschmückt und jeder hatte sich fein angezogen. Jules Großeltern kamen gegen Mittag. Mit ihnen wollten sie den Heiligen Abend verbringen. Sie konnte es kaum abwarten bis endlich die Bescherung begann. Der Tag kam ihr unendlich lang vor. Doch vorher ging sie mit ihrer Familie in die Kirche, um das Krippenspiel zusehen. Das taten sie jedes Jahr. Das Krippenspiel war wieder schön. Doch währenddessen musste Jule wieder an Natalia denken. „Was sie jetzt wohl macht?“, überlegte sie.
Doch als sie kurze Zeit später wieder aus der Kirche gingen, waren die Gedanken bei ihren Geschenken. Was sie wohl bekommen würde? Jule konnte auf der Rückfahrt im Auto kaum stillsitzen. Als sie endlich zu Hause ankamen, lagen die Geschenke schon unter dem Baum. Jule fragte sich jedes Jahr, wie sie dort hinkamen. Doch dann ärgerte sie sich immer, dass sie den Weihnachtsmann schon wieder verpasst hatte.
Zu fünft saßen sie endlich am Tisch und aßen den leckeren Gänsebratenraten. Jule bekam kaum etwas herunter. Dann war es endlich soweit. Jule durfte ihr erstes Geschenk auspacken. Und es dauerte nicht lange bis sie alles ausgepackt hatte. Stolz betrachte sie anschließend ihre Geschenke: eine Puppe, ein Puzzle, ein Spiel, neue Rollschuhe und das Kleid, dass sie sich schon so lange gewünscht hatte. Glücklich sahen ihre Eltern und Großeltern ihr dabei zu. Doch plötzlich überkam Jule wieder diese Traurigkeit. Wieder einmal dachte sie an ihre kleine Freundin.
Sie stand auf, ging zu ihren Eltern und sagte: „Ich freue mich so über meine Geschenke. Aber ich habe noch einen Wunsch.“ Verwundert sahen sich alle an. „Ich wünsche mir, dass alle Kinder heute glücklich sind, auch Natalia.“ Und während der Vater den Großeltern die Geschichte von Natalia erzählte, standen Jules Mutter Tränen in den Augen. Sie nahm Jule fest in die Arme.
„Mama, ich möchte Natalia gerne etwas von meinen Geschenken abgeben. Darf ich?“, fragte Jule. Jules Mutter sah zu ihrem Vater herüber, er nickte. „Natürlich darfst du das mein Engel. Und wenn du möchtest gehen wir gleich zu ihr rüber.“ Jule war überglücklich. Ohne zu zögern nahm sie die neue Puppe unter dem Weihnachtsbaum hervor und packte sie wieder ein. Natalia wohnte nur zwei Hauseingänge weiter, es war also nicht weit. Ihre Mutter ging mit Jule mit. Nach ein paar Schritten standen sie vor Natalias Haustür und Jule klingelte.
Es dauerte einen Moment bis die Mutter öffnete. Neugierig schaute Natalia hinter ihrer Mutter hervor. „Ja bitte?“, fragte Natalias Mutter höflich. Als sie Jule und ihre Mutter erkannte, lächelte sie. „Hallo Jule“, sagte sie. „Hallo, ich möchte gerne zu Natalia“, antwortete Jule. Wortlos kam Natalia hinter ihrer Mutter hervor. Jule reichte ihr das Paket: „Frohe Weihnachten Natalia.“ Etwas schüchtern nahm sie das Paket entgegen. Vorsichtig packte Natalia es gleich an der Tür aus. Freudestrahlend und überglücklich hielt Natalia ihrer Mutter die Puppe entgegen. So etwas Schönes hatte sie noch nie bekommen. Natalias Mutter war sprachlos. Doch dann nahm sie Jule in die Arme und sagte: „Danke.“ Und hinter Jules Rücken liefen ihr leise Tränen über die Wangen.