Es war einmal ein armer Ziegenhirt, der lebte glücklich und zufrieden inmitten seiner großen Ziegenherde in St. Nirgendwo, einem schönen Land, irgendwo zwischen Weihnachten und dem Nordpol. Eigentlich war er gar nicht arm, denn alles was er zum Leben brauchte, bekam er von seinen Ziegen. Jeden Tag gab es frische Ziegenmilch - morgens, mittags und abends. Wenn er müde war und sich neben einem Stein ausruhen wollte, waren sofort alle Ziegen zur Stelle, legten sich neben ihn und wärmten ihn so mit ihren Körpern. Auch die Kleidung, die er trug, bestand aus warmen, weichen Ziegenfellen.
St. Nirgendwo war ein herrliches Land mit dunklen Wäldern und hohen schneebedeckten Bergen. Im glasklaren Wasser der Flüsse tummelten sich viele Fische und in den hohen Bäumen zwitscherten lustig die Vögel. Die Ziegen fühlten sich wohl in St. Nirgendwo, denn es gab dort saftiges Gras und duftende Kräuter.
Alles wäre in bester Ordnung gewesen und der Ziegenhirt würde heute noch in St. Nirgendwo glücklich und zufrieden leben, wäre da nicht dieses kleine, schwarze Zicklein gewesen. Ein kleines schwarzes Zicklein inmitten einer Herde schneeweißer Ziegen. Eines Morgens war es da – einfach so. Niemand wusste genau, woher es kam und warum es ein schwarzes Fell hatte. Die weißen Ziegen machten sich oft lustig über das schwarze Ziegenkind, doch die Ziegenmutter liebte ihr schwarzes Zicklein ebenso sehr, wie ihre weißen – oder vielleicht noch ein klein wenig mehr. Übermütig sprang es den ganzen Tag über Stock und Stein, versteckte sich einmal hinter diesem Busch und dann wieder hinter jenem Baum. Die Ziegenmutter hatte ihre liebe Not mit dem Zicklein, denn es wollte und wollte nicht bei der Herde bleiben.
Eines schönen Tages war das Zicklein verschwunden. So sehr die Ziegenmutter auch suchte und meckerte, es war nirgends zu sehen. Da wurde sie sehr traurig und begann zu weinen. Als der Ziegenhirt ihren Kummer sah, machte er sich sofort auf die Suche nach dem Ausreißer und versprach der Ziegenmutter:„Hör auf zu weinen. Ich bringe dir dein Kind wieder und wenn ich bis ans Ende der Welt wandern muss.“
Er fragte die Vögel in der Luft: “Habt ihr ein schwarzes Zicklein gesehen?“
Sie antworteten: „Nein, da musst du weiter gehen!“
Dann fragte er die Fische im Wasser: „Habt ihr ein schwarzes Zicklein gesehen?“
Doch auch die Fische antworteten: „Nein, da musst du weiter gehen!“
Da beschloss er, über die hohen Berge bis ans Ende der Welt zu marschieren, irgendwo musste das Zicklein doch sein. Er nahm seinen Wanderstab, packte seine Flöte, eine Schüssel mit frischer Milch und ein Bündel frische Kräuter in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg.
Am Abend erreichte er den Gipfel des höchsten Berges, der weit in den Himmel hineinragte. Von hier aus konnte er sogar mit den Sternen sprechen und so wie zuvor die Fische und die Vögel fragte er auch die Sterne: „Habt ihr ein schwarzes Zicklein gesehen?“, und er bekam auch diesmal die gleiche Antwort: „Nein, da musst du weiter gehen!“
So wanderte er weiter, sieben Tage und sieben Nächte, von Berg zu Berg und von Tal zu Tal, doch nirgends sah er das schwarze Zicklein. Er fragte unterwegs alle Tiere und alle Menschen die er traf, doch niemand hatte es gesehen.
Am Ende des siebenten Tages kam er zu einer hohen Mauer, die sich weit ins Land erstreckte. In der Mitte der Mauer war ein großes, goldenes Tor, vor dem ein Wächter stand. „Ist hier das Ende der Welt?“, fragte er den Wächter.
„Wenn du das Ende der Welt suchst, bist du hier falsch. Hinter dieser Mauer beginnt doch erst die Welt. Das hier ist der Eingang zum berühmten Königreich Meckeranien“, antwortete der.
„Eigentlich suche ich gar nicht das Ende der Welt, sondern ein schwarzes Zicklein. Kannst du mir vielleicht dabei helfen?“
„Ein schwarzes Zicklein? Lass mich einmal nachdenken – vielleicht habe ich eines gesehen. Doch was bekommen ich von dir, wenn ich eines gesehen habe?“
„Ich tue alles, was du verlangst, wenn du mir nur mein Zicklein wieder gibst. Ich bin schon sieben Tage und sieben Nächte gelaufen und möchte mich endlich ein bisschen ausruhen.“
„Gut, abgemacht“, sagte der Wächter und öffnete das Tor.
Hinter dem Tor war eine riesengroße Wiese mit saftigem Gras und wunderschönen bunten Blumen. Inmitten der Wiese auf einem gelben Teppich aus Löwenzahnblüten tummelte sich eine große Ziegenherde – lauter schwarze Ziegen. Das übermütigste und fröhlichste Zicklein war aber das aus St. Nirgendwo. Als es den Ziegenhirt sah, kam es sofort herangesprungen und ließ sich bereitwillig auf den Arm nehmen.
„So, hier ist nun dein Zicklein“, sagte der Wächter „und jetzt zu deiner Aufgabe:
Unser Herrscher, der König von Meckeranien ist ein gütiger und gerechter Mann. Leider ist er schon sehr alt und möchte sich langsam zur Ruhe setzen, doch er hat niemanden, dem er das große Reich übergeben kann. Seine einzige Tochter ist zwar recht hübsch, aber sehr wehmütig. Sie kann nicht lachen und macht Tag für Tag ein böses, griesgrämiges Gesicht. So sehr sich der König und die Königin, ja der ganze Hofstaat auch bemühen, nicht das kleinste Lächeln huscht über ihr Gesicht. Der König hat schon Spaßmacher aus der ganzen weiten Welt in das Land holen lassen, um die traurige Prinzessin aufzuheitern, doch niemand hat es bis jetzt geschafft. Es findet sich auch kein Prinz, der sie heiraten will. Viele sind schon gekommen, denn unser Königreich ist sehr schön und riesengroß – für junge Prinzen durchaus verlockend – doch wenn sie die traurige Prinzessin sehen, ergreifen alle sofort die Flucht. Wer will schon mit einer Frau verheiratet sein, die jeden Tag ein finsteres Gesicht macht. Da nach uraltem Brauch unser Land nur von einem König regiert werden kann, ist die Not sehr groß, denn sollte unser König einmal sterben, würde unser Land im Meer des Vergessens versinken und mit ihm alle Bewohner. Fremder, bitte hilf uns. Rette uns vor dem Untergang“, bat der Wächter und führte den Ziegenhirt zur Prinzessin.
Der Wächter hatte nicht übertrieben, die Prinzessin machte wirklich kein freundliches Gesicht. So sehr sich der Ziegenhirt auch um sie bemühte, sie schien den Fremden gar nicht zu bemerken, sondern blickte immerzu nur zu Boden und sprach kein einziges Wort. Der Ziegenhirt sah aber nicht nur in ihr abweisendes Gesicht, sondern er sah auch tief in ihr Herz. Dort sah er viel Liebe und Güte, aber auch die große Einsamkeit, die sie so unglücklich machte. Er bekam Mitleid mit der unglücklichen Prinzessin und wollte ihr unbedingt helfen, wenn er auch noch nicht genau wusste, wie.
Im prunkvollen, reich mit Gold und Edelsteinen geschmückten Palast fühlte sich der einfache Ziegenhirt nicht besonders wohl, er vermisste den blauen Himmel, das Vogelgezwitscher und das Summen der Bienen über den bunten Blumen. Darum bat er die Prinzessin, mit ihm auf die Wiese vor dem Palast zu kommen und hoffte, es würde auch ihr dort, inmitten der vielen Blumen gefallen. Widerstrebend ging die Prinzessin mit. Sie setzten sich inmitten der großen Ziegenherde auf den gelben Löwenzahnteppich und genossen die warmen Sonnenstrahlen. Der Ziegenhirt holte seine kleine Flöte aus dem Rucksack und begann leise darauf zu spielen. Langsam entspannten sich die strengen Gesichtszüge der Prinzessin, einmal hob sie sogar den Kopf, so dass er in ihre wunderschönen blauen Augen sehen konnte. Als er ihr zuletzt noch einen Strauß leuchtendgelber Löwenzahnblüten überreichte, lächelte sie bereits ein ganz klein wenig. Am Abend bereitete der Ziegenhirt aus den Kräutern, die er aus St. Nirgendwo mitgebracht hatte, einen wunderbaren Kräutertee, den die Prinzessin in kleinen Schlucken trinken musste. Die Milch war inzwischen zu köstlichem, duftenden Ziegenkäse geworden und auch davon bekam sie ein kleines Stückchen. So geschah es drei Tage lang. Zusehends wurde die Prinzessin fröhlicher und fröhlicher, doch richtig lachen konnte sie noch immer nicht. Am vierten Tag, als sie wieder inmitten der Ziegenherde in der Sonne saßen, war auch das kleine Zicklein aus St. Nirgendwo dabei. Übermütig tollte es herum, vollführte die tollsten Sprünge und stupste die anderen Ziegen mit den Hörnern. Schließlich kletterte es gewandt wie ein Eichhörnchen auf den höchsten Baum und holte sich ganz oben von der Spitze das saftigste Blatt. Das gefiel der Prinzessin so sehr, dass sie plötzlich ganz laut und herzlich zu lachen begann. Ja, sie hielt sich den Bauch vor lauter Lachen und konnte gar nicht mehr aufhören.
Endlich war sie geheilt und konnte genau so fröhlich sein, wie andere Menschen auch.
Eigentlich hätte der Ziegenhirt jetzt sein schwarzes Zicklein nehmen und wieder nach St. Nirgendwo zurückwandern können, wenn – ja, wenn er sich nicht inzwischen unsterblich in die hübsche Prinzessin verliebt hätte.
Dem König lag das Glück seines einzigen Kindes sehr am Herzen und er gab gern sein Einverständnis zur Hochzeit. Vorher wollte der Ziegenhirt aber noch sein Versprechen einlösen und das schwarze Zicklein zu seiner Mutter zurückbringen, doch das Zicklein wollte auf keinen Fall mitkommen. Ihm gefiel es in Meckeranien viel, viel besser.
Da machte sich der Ziegenhirt kurzerhand allein auf den Weg nach St. Nirgendwo und holte alle seine weißen Ziegen zur Hochzeitsfeier. Es wurde ein großartiges Fest, sieben Tage und sieben Nächte wurde getanzt und gefeiert. War das ein Gelächter und Gemeckere. Am lautesten meckerte die Ziegenmutter, hatte sie doch ihr Zicklein wieder.
Seither gibt es in Meckeranien schwarze, weiße und schwarz-weiß gefleckte Ziegen und immer, wenn dem Ziegenhirt und seiner Frau, der schönen Prinzessin etwas Zeit bleibt, sitzen sie auf dem gelben Löwenzahnteppich, spielen mit den Ziegen und lachen.