Seelenamt
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Ich gehe unbemerkt durch die Reihen der gut gefüllten Kirchenbänke. Es ist nun soweit. Das Seelenamt wird in wenigen Minuten beginnen. Erstaunlich viele Menschen sind hier. Auf dem Altar erblicke ich ein wunderhübsches Rosengesteck in weiß und lachsfarben. Es kommen immer noch Menschen in die Kirche. Auch mein Ex ist da, alleine, seine Neue hat er wohl aus Taktgefühl meinen Kindern gegenüber zuhause gelassen. Finde ich sehr rücksichtsvoll von ihm. Die Frau meines verstorbenen Cousins entdecke ich, sie weint. Sie macht sich Vorwürfe, weil sie mich nicht besucht hat im Pflegeheim.
Die geschiedene Frau meines Bruders sitzt mit meiner Nichte, ihren Söhnen und deren Partnerinnen in einer Bank. Sie denkt darüber nach ob ihr Exmann wohl auch da ist. Wenn ich könnte würde ich sie beruhigen. Er ist nicht da, der hat gerade anderes vor. Der wartet auf dem Friedhof bis der Bestatter die Kondolenzliste auslegt. Er will als Erster seinen Namen eintragen, als Ärgernis für seine Exfrau, er rechnet fest damit, dass sie es sehen wird, dann wird er wieder verschwinden. Er hat nicht vor an der Beerdigung teilzunehmen. Es soll jedoch so aussehen, als wäre er da gewesen. Tja, so ist mein Bruder, ein verrückter Kerl.
Alle meine Nachbarn sind da, noch lebende Schulkameraden, Frauen mit denen ich die letzten gesunden Tage ab und an unterwegs war, und welche, die wegen der Kinder da sind, ihre Schwiegereltern soweit noch am Leben und Freunde, die mich auch kennengelernt hatten. Eine stattliche Anzahl Menschen ist hier, ich schätze dass es um die zweihundert Leutchen sind. Ich staune. Mir war nicht bewusst, dass so viele sich meiner erinnerten. Lebte ich doch seit eineinhalb Jahren sehr zurückgezogen und hatte nur mit wenigen noch Kontakt. Für mich altes Weibchen doch eine große Überraschung.
Meine Kinder sitzen mit ihren Familien in zwei Reihen hintereinander. Sie sind still, keiner weint.
Jeder in Gedanken bei mir. Verschiedene Geschichten, Ereignisse aus unserem gemeinsamen Leben erscheinen ihnen. Meine Tochter denkt gerade, falls ich das alles sehe, würde ich wohl zufrieden sein. Ich bin mehr als zufrieden liebe Tochter. Ich bin in Frieden mit allem.
Ein Sohn bereut seine harten Worte und den Streit, den wir hatten vor drei Jahren. Ich trage dir nichts nach mein Sohn, es ist dein eigener Vorwurf und nur du kannst dir vergeben.
Mein ältester Sohn verurteilt sich, weil er keine Trauer fühlt. Gut so Sohn, es gibt keinen Grund zu trauern nicht wegen mir. Ich bin in Harmonie mit dem Geschehen. Nichts müsste anders sein.
So hängt jeder seiner eigenen Geschichte nach. Menschen denken einfach zu viel und nehmen alles viel zu wichtig im Leben. Nein, nicht alles, manches nehmen sie zu wichtig und das was ihnen wichtig sein sollte übersehen sie. Egal, jeder kommt irgendwann auf den Trichter.
Ich setze mich neben meinen Lieblingsenkel. Ja, ich hatte so etwas im Leben. Er kam genau zur rechten Zeit zu mir. Seine Mutter wollte nach dem Mutterschutz wieder arbeiten gehen um ihren guten Job nicht zu verlieren. So kam der kleine Mann in mein Leben und erfüllte mein damals depressives, sinnloses Leben mit einem neuen Sinn. Ein kleiner neuer Mann in meinem Leben, den ich umsorgen, behüten, liebkosen konnte. Einige Monate vorher hatte ich eine schmerzhafte Trennung von meinem Lebenspartner durchlitten. Dieses Kind war wie ein Engel für mich, es war einfach da und gab meinem Leben einen neuen Sinn. Ich streiche ihm lächelnd über sein trauriges Haupt. Er ist sehr traurig darüber, dass ich nicht mehr bin. Doch er wird es gut verwinden. Als ich noch zuhause wohnte hat er mit täglich besucht. Im Pflegeheim war das nicht mehr möglich. So ist mein Dahinscheiden nicht ganz so einschneidend für ihn. Er war für mich, wie ein eigenes Kind.
Er kratzt sich am Kopf, ob er mich fühlen kann?
Der Organist beginnt sein Orgelspiel. Der Kirchenchor stimmt mit ein. Schön singen sie, ach wie gerne habe ich früher mitgesungen, es war mit die größte Freude in meinem Leben, das Singen.
Nach ca. vierzig Minuten ist das Seelenamt zu Ende. Alle Anwesenden, der Kreuzträger voraus, gefolgt vom Pfarrer und den Ministranten, meine nächsten Angehörigen usw. wallen zum Friedhof. Das dauert nicht sehr lange. Ein paar Minuten. Dass ich meine eigene Beerdigung bei vollem Bewusstsein erlebe, das hätte ich mir nicht träumen lassen im Leben, echt nicht.
Es ist ein langer Zug, der sich dahinzieht.