Kapitel 10 - Ausflug
„Oh mein Gott, ich glaub ich sterbe“, bringe ich beim Anblick unseres Gemeinschaftsraums hervor, zumindest sagen alle Gemeinschaftsraum dazu – eigentlich ist es eine Raum, indem sich Schüler aufhalten, wenn sie nicht gleich nach dem Unterricht nach Hause können. Nachdem die Mistschlampen abgehauen sind und ich den restlichen Schultag überlebt habe, hatten meine drei Freundinnen darauf bestanden, mir diesen Teil meiner neuen Schule zu zeigen. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, vermutlich ein Klassenzimmer, indem eine Gruppe Sterber versucht Schach zu spielen (ich bin total mieserabel in Schach, ich kann einfach nicht den Turm und das andere eckige Ding auseinander halten. Die sind doch eckig, oder?). Aber jetzt kommt mir das ganze eher wie eine grandiose Mischung aus Wohnzimmer, Internetcaffeé, Jugendzentrum und WG vor. Schüler gammeln auf mehreren Coachen, Sesseln oder einfach auf dem Boden herum und beschäftigen sich mit ganz normalen Freizeitaktivitäten. Bei einem Mädchen kann über den ganzen Raum hinweg die blaue Standardfarbe von Facebook auf ihrem Laptop erkennen, mehrere Leute diskutieren über die neusten Trends, jemand anderes ließt Harry Potter und der Feuerkelch (Himmel, das ist mein absoluter Lieblingsteil und der ist zusammen mit meinen anderen Sachen verschwunden, als meine Eltern anfingen zu glauben, sie hätten keine Tochter) und ein paar andere schauen doch tatsächlich die aktuelle Staffel von The Vampire Diaries (Der sterbende Damon hat Elena gerade seine Liebe gestanden, aber dann ist Katherine reingeplatzt, eine meiner absoluten Lieblingsszenen). Scheinbar wird der Raum nicht ganz so genutzt, wie ursprünglich gedacht.
„Da fällt mir ein, dass wir unbedingt mal wieder einen DVD Abend machen müssen“, sagt Hayley.
„Aber bitte keinen dieser abscheulichen Horrorfilme wie beim letzten Mal mehr. Davon konnte ich ewig nicht schlafen, wir wärs mit einem Mädchenfilm?“ antwortet Sara und verzieht bei der Erinnerung das Gesicht.
„Girl’s Club ist gut“, meint Evy und fängt an uns irgendwas über den Inhalt zu erzählen, schweift dann aber ab, als sie sich erinnert, dass sie den Film mit ihrem Exfreund angeschaut hat.
„Leute, können wir uns nicht irgendwo hinhocken?“ frage ich und deute auf den letzten von Menschen freien Fleck im Chaos dieses Raums.
„Nein, auf keinen Fall“, erwidert Sara und die Drei schütteln einträchtig die Köpfe, „Das ist feindliches Terretorium. Wenn du dich dahinhockst, unterzeichnest du automatisch einen Ja-ich-bin-bereit-dafür-dass-ihr-mein-Leben-zerstört-Vertrag. Das ist der Stammplatz von Santana und ihren Kotzkühen. Genau daneben sitzen die heißesten Jungs der Schule und Footballer und dann kommt das normale Fußvolk.“ So viel zum Thema KEINE Rangordnung und der Vorstellung, dass ich endlich mal nicht am Fuß der Angesagten-Leute-Pyramide stehen würde.
„Toll“, bemerke ich trocken und muss herzhaft gähnen, „Ich glaub, ich wird jetzt dann eh ein wenig Schlaf nachholen gehen. Mr Gordon hat erwähnt, wenn Sara und ich morgen wieder zu spät kommen, lässt er uns die ganze Woche lang jeden Tag Nachsitzen.“ Mr Gordon ist unser Mathelehrer. Im ersten Moment sieht er ein bisschen aus wie Johnny Depp in jünger, nur könnte ich wetten, dass der sehr viel netter plus weniger schwul ist und dass bei ihm nicht nur höchstens drei Schüler in der Lage wären, aufzupassen.
Ein schrilles Läuten reißt mich aus einem Traum, der irgendwas mit übergroßen Stühlen zu tun hatte, die beängstigenderweise auf mich zufliegen.
„Mum, hast du schon wieder einen neuen Wecker gekauft?“ lalle ich im Halbschlaf und taumle aus dem Bett. Erst nachdem ich merke, dass sich meine Socken nicht in der Schublade meines Blümchenkleiderschranks befinden, kapiere ich, dass ich nicht zu Hause bin. Dass das Läuten nicht von einem neuen Wecker kommt, sondern von meinem uralten Handy. Dass Mum nicht da ist um mich aufzuwecken. Dass sie nie wieder da sein wird.
Um nicht weiter nachdenken zu müssen, schnappe ich mir mein sau teures Glätteisen und mache mich an die Arbeit. Erst nach dieser Prozedur nehme ich das Zimmer um mich herum richtig wahr, einfach und geordnet. Ein Bett, ein Schrank, ein Regal, ein Bad, ein Tisch plus Stuhl. Nichts besonderes. Das Gästezimmer im Haus von Teresa und Cathy eben. Mitten im Raum steht mein Kram – immernoch in einem Koffer, Rucksack und einem Karton. Ich krame ein Foto heraus, auf dem meine Eltern um die zwanzig Jahre alt sind. Ich habe es mal irgendwo gefunden und es ist das einzige Bild, auf dem sie vor meiner Geburt abgebildet sind, als sie einen Urlaub mit ihren Motorrädern gemacht haben. Die Motorräder, die sie verkauft haben, als ich geboren wurde, weil sie meinten es sei zu gefährlich für mich, wenn ihnen etwas passieren würde. Wie viel haben sie noch für mich geopfert? Vielleicht werden sie jetzt, wo sie mich für immer vergessen haben, dies alles nachholen. Für immer. Ich werde sie nie wieder sehen.
„NIE WIEDER, VERDAMMT!“ schreie ich und weiß, dass ganz allein ich selbst damit gemeint war. Das Ich, das gerade sich selbst von jedem Foto wegreißt, weil Mum und Dad ohne sie besser dran sind. Das Ich, dass dem Rucksack einen Tritt verpasst, spürt wie Tränen über das Gesicht laufen.
Das Ich, dass wütend auf sich selbst ist, Gegenstände gegen die Wand wirft und schließlich schluchzend auf dem Boden zusammenbricht.
„Habe ich erwähnt, dass wir heute einen Ausflug machen?“ kommt es von Sara, nachdem ich mit dem Bus hergefahren bin und wir uns vor der Schule getroffen haben.
„Nein, aber wenn wir dann kein Mathe haben, kann es nur gut werden. Wohin geht’s denn?“ antworte ich.
„In irgendeinen komischen Garten wo wir uns noch viel komischere botanische Pflanzen anschauen sollen oder so.“ Klingt ja spannend. Pflanzen. Nicht-sprechendes Grünzeug mit dem Drang verwirrende lateinische Namen bekommen zu wollen. Supi.
„Wer fährt denn alles mit?“ will ich wissen.
„Hayley und Evy leider nicht. Aber ein paar Jungs aus unseren Kursen sind dabei. Und einige echt heiße ältere Typen, das kannst du mir glauben, aber die interessieren sich meistens nur für so Bitches wie Santana und Co.“
„Hm“, ist alles was ich dazu sage, denn diese Nachricht ist nicht besonders vielversprechend. Da ich zu den Ältesten in unserer Jahrgangstufe gehöre, sind fast alle Jungs jünger als ich, da wäre dieser Ausflug doch eine willkommene Chance für ein paar Inspektionen bei den Älteren gewesen. Aber nein. Mit wenig Begeisterung mache ich mich fertig und folge Sara schließlich zum Bus.
Nachdem wir vorne in den Bus eingestiegen sind, hat sich Sara in Rekordgeschwindigkeit zu den coolen Plätzen ganz hinten durchgequetscht, aber ich stecke immer noch zwischen den, sich durch die Tür hereindrängelden Schüler, dem fetten Busfahrer und einem Streber mit Anzug und extrem billig aussehender Krawatte fest. Warum habe ich nicht den hinteren Eingang genommen? Jetzt ist es zu spät. Jedenfalls habe ich es schon halb durch den Gang geschafft, als mir eine mit-blauen-Lidschatten-bis-zu-den-Augenbrauen-geschminkte Lehrerin einen Zettel mit Fragen darauf in die Hand drückt. Ach ja, Sara hatte erwähnt, dass wir möglicherweise Antworten auf den Schildern der Pflanzen suchen müssten. Und irgendjemand hatte gedroht, wenn wir nicht mindestens zwei Drittel davon richtig hätten, müssten wir Nachsitzen. Das kann ja nicht allzu schwierig werden, denke ich, bis ich die fünf Seiten sehe. Nein. Fünf verdammte Seiten mit je mindestens fünfzehn Fragen drauf. Entsetzt gehe ich in Richtung hinteren Ende des Busses, als ich fast in jemanden reinlaufe, der so schlau war den Hintereingang zu nehmen. Ich schaue von dem Höllenblatt auf und mein Gehirn unterbricht den ständigen Strom an Beschimpfungen, der mir durch den Kopf schießt, wenn ich daran denke, wem die dämliche Idee kam, diese total beschissenen Arbeitsblätter zu erstellen.
Vor mir steht ein ultra gut aussehender Typ und starrt mich an, als hätte ich ihm gesagt, er sei ein irischer Kobold. (Die sind doch aus Irland oder? Und grün?) Wieso schaut er nicht weg? Wieso schau ich nicht weg? Es geht nicht. Ich kann meinen Blick nicht von seinen seltsamen blau-grünen Augen losreißen. Verdammt. Was ist los mit mir?
„Dieses Kleid steht euch geradezu fantasitisch, my Lady.“ Eine nur allzu bekannte Stimme lässt mich kurz zusammenzucken, dann wende ich mich jedoch wieder dem Fenster zu, durch das man die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwinden sieht, die einen wunderschönen Tag abschließen. Durch die bläulich-rosafarbenen Töne des sich immer dunkler färbenden Abendhimmels sieht man schon den einen oder anderen Stern glitzern.
„Wunderschön“, entfährt es ihm, als er neben mir stehen bleibt und den Blick dem sich zu Ende neigenden Tag zuwendet.
„Euch dürfte wohl bewusst sein, wie viel Ärger es für euch bedeuten würde, wenn Lord William erfahren würde, dass ihr euch in den Gemächern einer Lady aufhaltet“, erwidere ich und versuche nicht so zu klingen, als würde es mich trotzdem freuen.
„Er lässt ihnen nicht genug Freiheiten“, stellt er fest und als ich nicht antworte, fährt er fort: „Wann waren sie das letzte Mal draußen? Haben die Sonnenstrahlen auf der Haut gespürt? Sind nachmittags durch Blumenfelder geritten?“
„Er würde euch verbannen lassen, wenn er euch noch einmal hier erwischen würde“, sage ich schlicht und ignoriere seine Vorwürfe. Freiheit. Was heißt Freiheit, wenn man dabei Leben aufs Spiel setzt?
„Freiheit ist das Leben selbst. Wie wollt ihr wissen, wie es ist, wenn ihr euch nicht traut, es auszuprobieren?“ fragt er mich.
„Ich habe keine andere Wahl. Wenn mein Vater seine Schulden dafür erlassen bekommt, werde ich hier bleiben. Lord William ist kein schlechter Mensch. Er hat meiner Familie in der Not geholfen“, erkläre ich energisch.
„Indem er euch für sich beansprucht hat“, meint er schroff. „Was soll das für eine Hilfe sein, wenn er eure Familie zwingt, ihre einzige Tochter ihm zu überlassen und sie dann einzusperren?“
„Er hat hat mich nicht gezwungen hier zu sein. Ich werde ihn heiraten. Er ist nur besorgt um meine Sicherheit.“
„Es ist wohl weniger eure Sicherheit, als eure Fähigkeiten. Er weiß, dass ihr einfach fliehen könnten, deshalb hält er euch hier gefangen.“ Ich sehe in seine Augen und weiß, was er damit sagen will. Ich könnte es.
„Kommt mit mir. Lasst uns ein neues Leben anfangen, irgendwo weit weg.“
Wenn ich mit ihm käme, wäre dies alles hier vorbei. Ich weiß, dass Lord William meinen Vater nicht bestrafen würde, wie schon erwähnt, er ist kein schlechter Mensch. Meine Flucht würde ihn jedoch verletzen, auf eine gewisse Weise. Was auch immer er an mir findet, seit wir uns zum ersten Mal begegnet waren, auch wenn ich es immer noch nicht verstanden habe, weiß ich, dass er mich genau hier haben will. Hier, bei ihm, in Sicherheit vor den Leuten, die mir etwas anhaben wollen, wie er immer sagt. Doch mit Jared ist es etwas völlig anderes. Ein neues Leben, keine Verpflichtungen, keine Schulden. Keine Heirat, für die ich mich noch viel zu jung fühle, nur mit derer ich meine Familie vor der Straße retten kann. Es wäre eine ganz neue Art des Lebens. Eine, in der man unendlich viele Sonnenuntergänge ansehen kann, ohne eine Fensterscheibe dazwischen. Ohne, dass man Angst haben muss, dies sei der letzte, den man zu sehen bekommt, ohne an jemanden gebunden zu sein, den man nicht einmal kennt. Eine, in der man für immer gemeinsam mit dem Mann bleiben kann, den man liebt. Freiheit.
Wieder wundere ich mich über die seltsame Vision, die ich gerade hatte. Entweder, ich schaue zu viele geschichtsträchtige Filme, oder ich werde schlicht und einfach verrückt. Bekommen andere Leute auch manchmal ziemlich lebhafte Vorstellungen von früheren Jahrhunderten, die wie ein Film duch den Kopf laufen? Ich glaube nicht. Oder vielleicht, vorausgesetzt man ist Geschichtslehrer.
Da merke ich jedoch, dass ich immer noch den Typ anstarre, doch als jemand anderes „JAY!“ ruft, wende ich schnell den Blick ab und schaue, wer gemeint ist. Tatsächlich winkt ein blonder Junge den Typen mir gegenüber, zu sich. Jay, heißt er also. Interessant. Er verschwindet in Richtung seines Kumpels, ich lasse mich auf meinen Platz neben Sara fallen und sehe ihn, wie er sich auf einen Sitz weiter vorne hockt. Seine dunkelbraunen Haare erkenne ich selbst von hier hinten.
„Wer ist dieser Typ davorne?“ frage ich Sara, deute auf Jay und sehe sie kurz das Gesicht verziehen, als sie antwortet scheint sie jedoch genauso wie immer.
„Jared ich-hab-den-Nachnamen-vergessen“, erwidert sie scheinbar leicht gelangweilt. Nachdem ich den Und-weiter?-Blick angewendet habe, fährt sie genervt fort: „ Ja, er gehört zu den echt heißen älteren Typen, die ich erwähnt habe.“ Shit. Wenn er sich für die Mistkühe interessiert, kann ich das Ganze sofort vergessen.
In diesem Moment fährt ein brenndender Schmerz an der Innenseite meines Handgelenks entlang, wie als wäre ich an einem herausstehenden Draht an einem Zaun hängengeblieben und hätte mir dabei die Haut aufgeritzt. Langsam und schmerzvoll zieht sich eine ungefähr drei Zentimeter lange scharlachrote Linie parallel neben meiner Hauptschlagader. Wie gebannt starre ich auf meinen Arm und versuche einen Grund für diese Verletztung zu finden. Wie zum Teufel ist das passiert? Hier gibt es nichts, an dem ich mich hätte verletzen können. Und ich ritze mich auch nicht selbst – ganz sicher nicht.
„Was hast du da?“ kommt es von Sara, die offensichtlich auch den Grund meiner Aufregung entdeckt hat.
„Ach nichts“, sage ich und ziehe schnell den Ärmel meines Sweatshirts darüber. Als meine Freundin jedoch aus dem Fenster schaut, kann ich nicht anders, als noch einmal nachzusehen. Ja, er ist immer noch da. Ein gerader Schnitt, der sich verstörend rot von meiner blassen Haut abhebt. Und dem nicht genug, ist ebenso ein Blutstrich an der Innenseite des grauen Stoffs zu sehen. So eine verdammte Mistkacke. Was ist neuerdings los mit mir?
„Ach ja, außerdem ist er mein Ex-Freund“, mischt sich Sara’s Stimme in meine Gedanken ein.
„Äh…was?“
„Jared. Oder Jay. Wie auch immer. Er ist mein Ex-Freund.“ Besser hätte es nicht kommen können. Ich interessiere mich für den Ex meiner besten Freundin, was sie nicht besonders toll zu finden scheint, habe seltsame Visionen aus vergangenen Jahrhunderten, in denen ganz eindeutig Ich und Jared und ein mysteriöser Lord William die Hauptrollen spielen und dann schneidet irgendetwas Unsichtbares vor meinen Augen mein Handgelenk auf. Langsam bin ich wohl bereit für einen Besuch bei Doktor-Erzählen-sie-mir-all-ihre-Probleme. Und wohl oder übel werde ich mich wahrscheinlich auch nicht mehr auf diese Pflanzen oder Fragen konzentrieren können – wird man von solchen Aufgaben befreit, wenn man aussieht, als hätte man sich gerade mit einem Schnitt durch die Hauptschlagader umbringen wollen? Nicht, das ich das vorgehabt hatte, oder, dass ich mich vor irgendwelchen Sachen drücken wollen würde.