Fünfte Kapitel der ersten Episode.
Joy vermied es das Dorf zu betreten. Sie blieb auf Abstand, machte die Straße aus, die der Mann gemeint hatte, und folgte ihrem Verlauf. Ihre Anspannung äußerte sich nach wie vor im Zucken ihrer Schwanzspitze. Die Umgebung ließ sie nicht aus ihren Augen und jedes Mal, wenn ihr jemand entgegen kam, verkrampfte sie sich und bereitete sich innerlich auf eine Auseinandersetzung vor. Glücklicherweise waren es nicht viele Leute, die ihr begegneten. Viele von ihnen würdigten sie auch nur eines schnellen Blickes und beeilten sich dann sie zu passieren. Es machte sie stutzig, doch überwog ihre Erleichterung sich nicht jedes Mal wieder aufs Neue erklären zu müssen. Jedoch gab es ein paar wenige Leute, die die gleichen Reaktionen zeigten, die auch der junge Mann gezeigt hatte. Sie lachten sie aus. Doch eine Sache unterschied sich von ihm. Sie bezeichneten Joy als krank. Nachdem sie zwei dieser Frauen mit einer Demonstration ihrer Zähne und Klauen verstummen ließ und ihren Weg wieder fortsetzte fragte sie sich murmelnd:
„Meine Wünsche? Waren das wirklich meine Wünsche? Diese Göttin meinte sie hätte sie mir erfüllt. Aber warum auf diese Art und Weise?“
Eine Antwort auf diese Fragen fand sie nicht. Dennoch mussten sich erst die Umrisse einer Stadt am Horizont abzeichnen, um sie von ihren Gedanken abzulenken. Ihre Aufregung wuchs und sie beschleunigte ihre Schritte.
„Ich hoffe bloß, dass ich diesen Idioten schnell finde…“, brummte sie, während sie das Tempo ihrer Schritte noch weiter erhöhte, bis sie förmlich über die Straße zu fliegen schien. Sie wollte unter allen Umständen die Stadt noch vor Sonnenuntergang erreicht haben.
Als die Sonne den Horizont küsste und die Welt in ein schimmerndes, surreales Rot tauchte, hatte Joy die Stadt erreicht. Einige Meter vor den Stadttoren kam sie schließlich angestrengt atmend zum Stehen, um die Situation aus der Entfernung beurteilen zu können. Die Stadt war von einer riesigen Mauer aus kaltem Stein umgeben, die im Abendrot wie mit Blut überzogen schien. Hinter den Mauerzinnen konnte Joy in regelmäßigen Abständen rote Lichter erkennen, in denen sich verschwommene Gestalten bewegten. Das Stadttor stand den Ausmaßen der restlichen Mauer in nichts nach. Seine Breite betrug mehrere Meter, sodass dort hunderte Menschen gleichzeitig passieren konnten, ohne dass es eng wurde. Doch reichten nur vier Menschen aus, um Joy sich in ihre Unterlippe beißen zu lassen. Sie war zwar noch weit wog, doch die scheppernden Geräusche ihrer Rüstungen und Schwertscheiden jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Unsicher beruhigte Joy zuerst ihren Atem und sah dann einmal skeptisch zum Himmel hinauf. Die Sonne würde nicht mehr lange Licht spenden und ihre Instinkte sagten ihr, dass es keine gute Idee war die Nacht draußen zu verbringen. Zögernd ging sie auf die Wachen zu. Trotz der nahenden Dunkelheit wurde sie schnell entdeckt und die Soldaten richteten ihre Aufmerksamkeit auf Joy. Ihre Ankunft erwartend stellten sie sich nebeneinander auf und blockierten damit das Tor. Joy schluckte, ihre Beine wurden weich, doch sie setzte ihren Weg fort, bis sie schließlich kurz vor den Soldaten stand.
„Bist du ein Neuankömmling?“, fragte einer der Soldaten schroff, bevor Joy auch nur ein Wort murmeln konnte. In seiner Stimme vernahm sie ein seltsames Rasseln, das sie stutzig werden ließ. Eingeschüchtert nickte sie und meinte:
„Mir wurde gesagt, ich solle hier her kommen.“
„Das ist richtig. Du hast Glück. Die Ausgangssperre fängt gerade an. Wärst du einen Moment später gekommen, hättest du dich vor einem verschlossenen Tor wiedergefunden“, erklärte der gleiche Soldat. Joy konnte sein Gesicht nicht sehen, da er einen Helm trug, dessen Visier jeglichen Augenkontakt unterband. Seine Rüstung war die gleiche, wie auch die der anderen, jedoch war seine Schwertscheide mit aufwendigen Ornamenten verziert. Er musste der ranghöchste der Soldaten sein.
„Wir wollen schließen. Also geh rein“, forderte er sie gebieterisch auf. Joy nickte zögerlich. Ihre Instinkte warnten sie und brachten ihre Schwanzspitze zum Zucken.
„Folge mir“, gebot ihr der Soldat, drehte sich um und ging voraus. Nach einem weiteren Zögern folgte Joy ihm. Doch schon nach den ersten Schritten wurde ihre schlechte Vorahnung stärker. Skeptisch beobachtete sie die Soldaten, die ihnen folgten. Die drei bildeten einen Halbkreis, um Joy, als würden sie davon ausgehen, dass sie flüchten würde. Sie sah wieder nach vorne. Der Hauptmann passierte das Stadttor und würdigte sie keines weiteren Blickes. Als sie auf Höhe des Fallgitters war, zögerte Joy und blieb stehen. Alles in ihr sagte, sie solle nicht weitergehen. Die Soldaten hinter ihr kamen näher, der Hauptmann drehte sich zu ihr um und forderte sie barsch auf:
„Folge mir! Oder willst du nicht zurück in deine Welt?“
Die anderen Soldaten hatten sich mittlerweile hinter Joys Rücken positioniert. Hätte sie es gewagt sich umzusehen, hätte sie gesehen, wie die Soldaten ihre Hände auf die Schwertgriffe gelegt haben.
„Ich suche jemanden. Könnt ihr mir vielleicht helfen ihn zu finden?“, erwiderte Joy unsicher. Darauf näherte sich der Hauptmann mit scheppernden Schritten. Immer wenn das Metall den Steinboden berührte, zuckte Joy innerlich zusammen. Wenige Schritte vor ihr stoppte er und bot ihr seine gerüstete Hand an.
„Oberste Priorität ist es dich nach Hause zu bringen. Und dafür musst du den König treffen. Also sei ein braves Mädchen und komm mit uns.“
„Ich muss diese Person zuerst finden. Ich werde nicht ohne sie zurückkehren.“
Der Soldat ließ seine Hand sinken und legte sie auf seinen Schwertknauf. Reflexartig wich Joy einen Schritt zurück.
„Das können wir nicht zulassen. Die Befehle des Königs sind absolut. Du wirst mit uns kommen.“ Mit diesen Worten ertönte ein klirrendes Geräusch, während der Hauptmann sein Schwert zog. Ohne zu zögern stieß Joy ein Fauchen aus, ihr Schwanz sträubte sich und sie wirbelte herum, um aus der Stadt zu fliehen. Doch da stürmten die anderen Soldaten mit gezogenen Waffen auf sie los. Der Anblick der scharfen Klingen verdrängten Joys Verstand. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken, der zugleich ihren gesamten Willen widerspiegelte. Entkommen. Innerhalb eines Wimpernschlags hatten ihre Instinkte die Kontrolle über ihren Körper übernommen. Ein tiefes Knurren bildete sich in ihrem Brustkorb, als sie dem ersten Soldaten mit katzenhafter Geschicklichkeit zur Seite auswich. Doch die anderen beiden reagierten augenblicklich. Mit unmenschlicher Schnelligkeit versperrten sie Joy den Weg. Wieder stieß sie ein Fauchen aus und entblößte dabei ihre Zähne. Unbeeindruckt rückten die Soldaten näher. Ihre Schwerter schlagbereit erhoben. Joy hörte die Schritte des Hauptmanns in ihrem Rücken.
„Gib auf, Mädchen. Wir wollen dich nicht umbringen. Also zwing uns nicht dir weh zu tun“, beschwor sie der Hauptmann. Doch sie glaubte ihm nicht. Statt auf seine Forderung zu reagieren, brach sie nach zur rechten Seite aus. Doch die Soldaten reagierten erneut mit übermenschlicher Schnelligkeit. Sie schnitten Joy den Weg ab, bevor ihr erster Schritt den Boden berührt hatte. Aber sie hatte es erwartet. Sobald ihr Fuß den Boden berührte, stieß sie sich nach hinten ab, drehte ihren Körper in der beinahe fliegenden Bewegung und hetzte am überrumpelten Hauptmann vorbei. Trotzdem reagierte er schnell. Seine Hand schoss ihr hinterher, berührte sogar die Spitze ihres Schwanzes, griff dann aber nur in die Leere. Verdattert blieb er einen Wimpernschlag lang stehen und schrie dann mit seiner rasselnden Stimme:
„Hinterher! Schnappt sie euch! Lasst das Tor herunter! Sie darf nicht entkommen!“
Das Krachen des Fallgitters betäubte beinahe Joys gespitzte Ohren. Doch sie hörte nicht auf zu rennen. Die Soldaten waren schnell. Das Scheppern ihrer Rüstungen war hinter ihr. So schnell sie konnte tauchte sie die Schatten einer nahen Gasse ein. Die Soldaten folgten ihr, doch sie wusste, dass sie den Vorteil hatte. Ihre Schritte waren lautlos. Ihr Gehör würde ihr die Position aller Feinde verraten.
Und so hatte Joy schon bald ein Versteck gefunden. Es war eine sehr enge Straße, dessen Eingang von einem Haufen gestapelter Kisten versperrte wurde. Nur dank ihren Krallen hatte sie dort hochklettern können und sich vorerst hinter der hölzernen Wand in Sicherheit wiegen können. Dort saß sie nun am Boden, lehnte sich mit ihrem Rücken an eine kühle Steinwand und versuchte ihr pochendes Herz zu beruhigen. Doch die Soldaten wollten sie noch nicht ruhen lassen. Immer wieder hörte Joy sie an der Gasse vorbeirennen. Jedes Mal hielt sie ihren Atem an und kauerte sich mit eingeklemmtem Schwanz in die Ecke zwischen den Kisten und der Wand.
„Moah, Kyrill, was hast du mir da nur wieder eingebrockt?“, murmelte Joy kleinlaut, während sie schutzsuchend ihre Beine umschlang.
Sie verharrte so noch weitere Stunden, bis sie plötzlich die Müdigkeit in den Knochen spürte. Die hohen Wände und die Enge der Gasse tauchten Joy in beinahe völlige Dunkelheit. Sie wollte nicht schlafen. Doch dann wurde das Scheppern der Rüstungen immer leiser. Die Soldaten entfernten sich. Ein Gefühl der temporären Sicherheit überkam sie und im nächsten Moment sackte ihr Kopf zur Seite. Der Schlaf überwältigte sie und zerrte ihr das Bewusstsein aus dem Körper.
Am nächsten Morgen wurde sie durch die Geschäftigkeit der Straße geweckt. Schlaftrunken murmelte sie:
„Wo bin ich? Wa… Warum bin ich in einer Gasse?“ Dann erblickte sie ihren Schwanz und die Erinnerungen kehrten zu ihr zurück. Zwar nur langsam, aber unaufhörlich spielte sich der letzte Tag vor ihrem geistigen Auge ab. Sie stöhnte und murmelte geistesabwesend:
„Womit habe ich das verdient… Kyrill, du Dummkopf. Warum hast du mich auch allein gelassen…“ Dann schüttelte sie ihren Kopf, sodass ihre langen blonden Haare flogen und rief sich selbst zur Ordnung:
„Frühstück! Ohne etwas im Magen, überleb ich den Tag nicht. Ich hab seit gestern Morgen nichts mehr gegessen…“
Damit stand sie auf und spitzte ihre Ohren. Die Straße vor ihrem Versteck wurde nicht sonderlich stark benutzt. Dennoch würde sie sofort erkannt werden. Die Ohren und der Schwanz waren ohne Hut und vernünftige Klamotten unmöglich zu verstecken. Sie biss sich auf die Lippe und fluchte leise, worauf ihr Magen umso lauter knurrte.
„Verdammt noch mal, was soll ich tun? Ich kann so unmöglich durch die Stadt laufen… Zumindest nicht am helllichten Tag.“ Sofort ertönte ein protestierendes Knurren ihres Magens. Joy strich sich mit einem seufzen über den Bauch und murmelte:
„Schon gut, schon gut… Ich versuch doch schon etwas daran zu ändern.“
Doch genau in diesem Moment vernahm sie hinter sich ein dumpfes Geräusch. Erschrocken sprang Joy auf und sah sich hektisch um. Verdattert entdeckte sie an der Wand links neben ihr eine Tür. Und das dumpfe Klopfen, das sie aus dem Gebäude vernahm, kam immer näher. Panik ergriff sie. Sie hatte sich geradewegs in eine Sackgasse hineinmanövriert.
„Wie hatte ich das übersehen können?!“, fluchte sie und suchte panisch nach einem Ausweg. Reflexartig fuhren ihre Krallen aus und sie sah zu dem Berg aus Kisten hoch. Doch sie zögerte. Würde sie jetzt auf die Straße flüchten, würde sie von allen gesehen werden. Die Soldaten wären ihr bestimmt direkt wieder auf den Fersen. Ihr Zögern reichte aus, um dem Fremden genügend Zeit zu geben die Tür zu erreichen und sie zu öffnen. Joy erstarrte und biss sich auf die Lippe. Ihre Augen verengten sich und sie senkte ihr Becken angriffsbereit. Dann trat die Person aus dem Gebäude hervor. Es war eine Frau mittleren Alters. Ihr schmales, gar mageres Gesicht wurde von braunen Haaren umrahmt, deren splissige Spitzen auf Höhe ihrer Schultern endeten. Als sie Joy entdeckte weiteten sich ihre blassen blaugrauen Augen in Überraschung. Die beiden Frauen verharrten für einen Moment. Joy tastete die Fremde mit warnenden Blicken ab und ergriff zuerst das Wort. Leise meinte sie:
„Ich will dir nichts tun. Aber wenn du schreist, oder zu den Wachen rennst, wirst du mir keine andere Wahl lassen.“
Die Frau blinzelte und nickte langsam, während ihr Blick auf Joys Krallen verweilte.
„Du warst es also, die gestern Abend diesen Aufruhr verursacht hat?“
Joy nickte gequält.
„Leider. Diese Soldaten haben mich entführen wollen.“ Überrascht entgegnete die Frau:
„Aber willst du denn nicht zurück in deine Welt? Du weißt doch schon, dass der König deine einzige Chance ist hier wieder wegzukommen, oder?“ Joy nickte, wollte etwas erwidern, wurde dann aber von ihrem knurrenden Magen unterbrochen. Darauf schmunzelte die Frau und meinte nach einem kurzen Zögern:
„Wenn du mir hilfst eine der Kisten zu tragen, kannst du gerne mit mir frühstücken.“
„Huh? Wirklich?“
Die Frau lächelte und nickte. Darauf zogen sich Joys Krallen zurück, ihr Schwanz streckte sich freudig in die Höhe und sie erwiderte:
„Das würde mich retten! Vielen, vielen Dank!“
Die Frau winkte ab, schnappte sich eine Kiste und ging zurück ins Haus. Joy tat es ihr gleich und folgte ihr.
Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss und Joy fand sich in einem niedrigen Lagerraum wieder, in dem mehrere Krüge und andere Kisten standen. Ein dichter Schleier aus den verschiedensten Gerüchen lag in der Luft und trieb Joy Tränen in die Augen. Sie rümpfte ihre empfindliche Nase und musste sich beherrschen nicht zu niesen. Mit einem breiten Grinsen registrierte die Frau das, beließ es aber dabei und bedeutete Joy ihr in den nächsten Raum zu folgen. Dankbar tapste sie der Fremden hinterher und fand sich in einer Küche wieder. Der Geruch hier war nach wie vor stark, aber nicht so penetrant, wie zuvor. Neugierig sah sich Joy um. Der Raum machte keinen gehobenen, dafür aber einen sauberen Eindruck. Die Wände bestanden aus einfachem, grauen Stein. An der Wand, die sich gegenüber von Joy befand, gab es zwei Feuerstellen, die sich neben einem langen Tisch, auf dem verschiedenen Kochutensilien lagen, befanden. Die rechte Wand war fast vollständig mit Schränken verschiedener Größen gespickt. Links neben Joy führte ein Flur weiter ins Haus hinein. Sie entdeckte dort zwei weitere Türen und eine Treppe, die nach oben führte. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch mit drei Stühlen.
„Stell die Kiste doch bitte neben die andere Feuerstelle.“
Die Stimme der Frau holte Joy zurück ins Hier und Jetzt. Hastig nickte sie und tat wie ihr geheißen. Dann beobachtete sie schweigend, wie die Frau ihre Kiste öffnete und das dort befindliche Feuerholz unter den Kessel auf die Feuerstelle packte. Dann richtete sie sich auf und fragte Joy freundlich:
„Ich hoffe eine Suppe ist dir recht? Leider kann ich dir nichts Größeres anbieten, weil mich mein Meister sonst köpfen würde. Wir leben hier nicht in der besten Gegend und brauchen, alles um uns selbst über Wasser zu halten.“ Bescheiden antwortete Joy hastig:
„Nein, gar nicht! Wenn es dir Umstände bereitet, brauchst du mir auch nichts zu geben.“
„Du bist ein braves Mädchen“, meinte die Frau schmunzelnd, „Aber da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich muss schließlich auch etwas essen. Ob ich jetzt für eine Person oder zwei etwas koche, macht keinen großen Unterschied. Mein Meister wird’s wahrscheinlich nicht einmal merken. Und jetzt steh da doch nicht so doof rum! Setz dich. Fühl dich ganz wie Zuhause.“
Joy nickte dankbar und ließ sich auf einem der Stühle nieder, während die Frau die Schränke nach verschiedenen Zutaten durchsuchte. Einige davon erkannte Joy. Zwiebeln, Lauch, es waren Pflanzen die es auch in ihrer Welt gab. Doch der Rest war ihr gänzlich unbekannt.
„Darf ich dich was fragen?“
„Natürlich, Mädchen. Ein Neuankömmling hat bestimmt einige Fragen“, meinte die Frau gut gelaunt.
„Was ist das hier für eine Welt? Diese Göttin meinte es wäre die Welt hinter der Schwelle… Aber was bedeutet das? Warum sind hier so viele Menschen? Ich dachte der König würde sie zurückschicken.“
Die Frau überlegte einen Moment, bevor sie antwortete.
„Die Welt hier ist ein Wunsch. Und viele der Menschen hier sind auch nur Wünsche. Angeblich gab es einst jemanden, der sich eine Welt nur für sich gewünscht hat. Darauf hat die Göttin die Landschaft und Erde geschaffen. Dann kam ein Mensch durch das Tor, der sich ein Leben voller Magie wünschte. Darauf brachte die Göttin ihre Magie in die Welt. Nach vielen Jahren kam schließlich ein Mann, der sich wünschte König zu sein. Die Göttin gab ihm das Recht über die Menschen zu herrschen und seitdem ist er unser König. Währenddessen kamen auch immer Menschen, die sich die Rückkehr eines Gestorbenen wünschten, oder ein Kind, oder eine Schwester, oder einen Bruder wünschten. Doch die Göttin hat nur Macht in ihrer Welt. Würden die gewünschten Personen zurück in die andere Welt gehen, würden sie verschwinden. Als hätten sie niemals existiert. Und deswegen gibt es hier so viele Menschen. Viele haben entschieden bei ihren Geliebten zu bleiben. Und die Erwünschten haben ohnehin keine andere Wahl, als hier zu bleiben. Beantwortet das deine Frage?“
Joy schluckte und nickte zögerlich.
„Das war ein Haufen an Informationen“, gestand sie mit einem entschuldigenden Lächeln. Die Frau lachte, während sie ein unbekanntes Gemüse gekonnt in Streifen schnitt und in den Kessel gab.
„Aber jetzt musst du mir auch die Frage von zuvor beantworten, Mädchen. Warum bist du vor den Soldaten weggelaufen?“
„Ich habe jemanden, den ich unbedingt finden muss. Ich bin nur durch dieses verfluchte Tor gegangen, um ihn zurückzuholen und dafür zu sorgen, dass er sich nicht verändert.“
Die Frau warf ihr einen kecken Blick zu.
„War es dein Geliebter?“
„Nein, mein Bruder!“, erwiderte Joy hastig, aber mit Bestimmtheit in der Stimme.
„Wie langweilig…“, kicherte die Frau, „Aber gut. Und wie planst du ihn zu finden? Und was ist, wenn er bereits wieder in die andere Welt übergegangen ist und sich nun wundert, wo du abgeblieben bist?“
„Ngh… Das… War alles nicht so geplant“, gestand Joy niedergeschlagen,
„Ich konnte ja nicht wissen, dass ich in einer anderen Welt lande und zu einer halben Katze mutiere. Wie zum Teufel, soll man so etwas denn auch bitte einplanen?“
„Mit anderen Worten bist du aufgeschmissen“, stellte die Frau sachlich fest. Hilflos nickte Joy und bohrte einen ihrer Eckzähne in ihre Lippe. Aber dann schwebte ein köstlicher Geruch aus dem Kessel zu ihr herüber und lenkte sie von ihren trüben Gedanken ab. Erwartungsvoll schnupperte sie immer wieder, wartete dabei aber geduldig bis die Frau ihr einen vollen Teller servierte.
„Hau rein, ich hoffe es schmeckt dir“, meinte sie und wandte sich ab, um sich auch etwas zu nehmen. Joy ließ sich das nicht zweimal sagen und fing an zu essen. Der Geschmack war seltsam, aber ihr Magen nahm die warme Mahlzeit dankend entgegen. Doch dann verschwamm plötzlich die Welt vor ihren Augen.
„Wa…“, entschlüpfte ihr noch, bevor die Schwärze sie überkam und sie ihr Bewusstsein verlor.