Von den ehemals vier Wächterinnen ist nur noch Samantha übrig. Doch auch wenn der Verlust ihrer Freundinnen schmerzt, ist sie entschlossen das fliegende Reich Reilong zu beschützen. Zusammen mit Prinzessin Elisabeth und ihren vier Bildschönen Leibwächtern will sie gegen Reilongs Schicksal ankämpfen und diesen seit Jahrhunderten andauernden Teufelskreis beenden. Dabei hat sie jedoch immer noch im Hinterkopf, dass es da auch noch die Geheimnisse um die Nemesis gibt. Woher stammt ihre Ähnlichkeit mit den Rei und warum greifen sie Reilong an? Und wer ist Father und was sind seine Absichten? Enthält: Kapitel 36: alle gegen Xavier Kapitel 37: die vier Mächte Kapitel 38: letzter Angriff Kapitel 39: das Klingen einer Glocke Kapitel 40: EPILOG
Schwarze Nebel wallten um Xavier herum auf und die Nemesis wichen erschrocken zurück. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Anführers, als mehrere dunkle Lichter in dem düsteren Nebel aufleuchteten. Sie flimmerten in einem unheilverkündenden Rot und mit einem Mal schossen sie wie Blitze in unsere Richtung.
Elisabeth streckte erschrocken die Hände nach vorne und die Geschosse krachten gegen einen mächtigen Schild, doch dieser bekam bereits ganz leichte Risse, solch eine Kraft steckte in dem Angriff. Die Prinzessin verzog beunruhigt das Gesicht und ließ den Schild wieder erlöschen.
„Seht zu, dass ihr da wegkommt!“, brüllte sie stattdessen den Nemesis zu, die sich noch immer in der Nähe ihres Anführers aufhielten und ihn entgeistert anstarrten. Erst auf den Ruf hin gerieten sie endlich in Bewegung und die meisten flogen zu den Rei hinüber, die zwar noch leicht argwöhnisch wirkten, ihre schwarzgeflügelten Artgenossen aber auch nicht daran hinderten zu ihnen zu kommen.
Xavier grinste jedoch bösartig und schickte ihnen noch eine Salve dieser roten Lichter hinterher. Bevor sie die letzten Nemesis aber erreichten, prallten sie erneut gegen einen durchsichtigen Schild, den Elisabeth in letzter Sekunde gerufen hatte. Dieses Mal explodierten aber nicht alle, sondern mehrere der roten Lichter drückten immer stärker gegen den Schild, bis dieser schließlich von zahlreichen dünnen Rissen geziert wurde und es nur noch eine Frage der Zeit war, bis der Angriff hindurch brach. Die Prinzessin verzog das Gesicht und biss die Zähne zusammen, doch es war bereits ein besorgniserregendes Knacken zu hören.
„Verschwindet alle von dort!“, schrie Mikhail nun, „Kehrt sofort nach Reilong zurück!“
Die meisten Rei reagierten sofort und nicht wenige riefen kurz entschlossen auch den Nemesis zu, dass sie mitkommen sollten. Einige Nachzügler halfen noch den Verletzten, bis schließlich nur noch einige wenige Nemesis – meines Erachtens waren es die Kommandeure und noch ein paar der stärkeren Krieger – und die zwanzig Truppenführer der Streitmacht von Reilong übrig waren, die es sich nicht nehmen ließen, sich das Spektakel genauer anzusehen.
Inzwischen waren noch weitere der roten Lichter dazugekommen, die nun kreuz und quer durch die Luft zischten und immer wieder auf den großen Schild einschlugen. Auf diesem zeichnete sich mittlerweile ein riesiges Mosaik ab und Elisabeth stand der Schweiß auf der Stirn. Kein Wunder, denn sie musste ja auch immer noch ganz Reilong irgendwie fliegen lassen, da blieb nicht mehr viel Kraft übrig für einen Schild.
„Können wir denn nichts unternehmen?“, fragte ich zähneknirschend. Oder war das ein Kampf, der nur von den beiden Reichsführern bestritten werden konnte?
„Wir müssen versuchen alle gemeinsam anzugreifen“, erwiderte Sylia ernst, „Ich hab eine Idee, aber wir müssen uns beeilen.“
„Gut.“
Elisabeth hielt noch knapp eineinhalb Minuten lang durch, dann sank sie langsam aber sicher ab und auch Reilong verlor ein wenig an Höhe, während die roten Energiekugeln nach wie vor erbarmungslos auf den Schild einhämmerten, wobei die ersten kleinen Stücken bereits herausbrachen. Nicht mehr lange und sie würden durchdringen und damit als nächstes direkt auf Reilong losgehen.
„Du kannst aufhören, Lisa!“, rief ich in dem Moment aber und schwenkte im Einklang mit Sylia die Hand einmal quer durch die Luft. Eine riesige, silbern glänzende und messerscharfe Windböe schnitt frei durch das weite Feld und brach von innen durch den Schild. Den Zeitpunkt hatte ich allerdings gut abgepasst und direkt dahinter traf sie auf die roten Irrlichter und brachte sie zur Explosion.
„Hübscher Versuch“, kommentierte Xavier unbeeindruckt, „Aber da wirst du dir was Besseres einfallen lassen müssen, kleine Wächterin.“
Nun war ich diejenige, die lediglich ein gönnerhaftes Lächeln auf den Lippen hatte.
In dem Augenblick nämlich brachen die zehn Kommandeure der Nemesis und ihre acht besten Krieger – darunter auch Raven und Nina – durch den von der Explosion entstandenen Rauch und rauschten mit erhobenen Schwertern auf ihren ehemaligen Anführer zu. Sylias Plan, dass sie sich direkt hinter der Böe halten und nach der Explosion einen Überraschungsangriff wagen sollten, war wirklich brillant.
Kurz wirkte Father tatsächlich leicht überrascht, doch dann streckte er schon eine Hand nach vorne und die nächsten roten Lichter glühten flackernd auf, bereit die herannahenden Angreifer unschädlich zu machen.
„Nicht so schnell!“, brüllte da aber Vincent, der nun mit den anderen neunzehn Truppenführern Reilongs hinter Xavier auftauchte und direkt auf ihn zustürmte. Das war mein Teil des Planes, der einen zweiten Überraschungsteil vorsah, der uns laut dem Gesicht des ehemaligen Nemesisanführers auch gelungen war. Jetzt wurde er von gleich zwei Seiten mit je knapp zwanzig Mann angegriffen, die beide kaum mehr fünf Meter von ihm entfernt waren. Das musste einfach sitzen.
Jedoch tauchte da schon wieder dieses kalte Lächeln auf seinen Lippen auf und er streckte seine Arme nach beiden Seiten aus, von denen aus er attackiert wurde. Die ersten zwei Schwerter fing er mit den bloßen Händen ab und die Angreifer hinter den beiden wurden alle miteinander von einer kreisrunden, heftigen Druckwelle in alle vier Himmelsrichtungen davongeschleudert.
„Ein netter Versuch, ihr beiden“, sagte Xavier gelangweilt zu Raven und Vincent, deren Schwerter er gerade noch immer mit den Händen festhielt, ohne dass er sich dabei an den Klingen schnitt, „Aber das nächste Mal solltet ihr euch mehr anstrengen.“
Dunkelviolette Blitze zuckten von seinen Händen aus über das Metall der Schwerter und griffen auf die beiden Männer über, die vor Schmerz aufschrien. Beide versuchten dennoch dagegen anzukommen und ihrem Gegner wenigstens noch einen Denkzettel zu verpassen, doch Xavier erhöhte die Kraft der Blitze und die zwei schrien nur noch lauter auf, bevor sie schließlich ohnmächtig zur Seite kippten und in die Tiefe fielen.
„Raven!“, schrie Nina erschrocken und sauste ihm so schnell sie konnte hinterher. Sie bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er zwischen den Wolken verschwand, und versuchte angestrengt ihn wieder nach oben zu ziehen, bis ihr zwei andere Nemesis zur Hilfe kamen.
Vincent fiel ebenfalls ein ganzes Stück, doch Taylor und Nanuc erwischten den ersten Truppenführer wenige Meter über den schwarzen Gewitterwolken, die hier östlich immer noch überall um uns herum waren. Mit ihm kehrten zu den anderen Leitern der zwanzig Einheiten zurück, die nach all dem inzwischen ganz schön angeschlagen waren und verbissen zu dem Nemesis mit den sechs schwarzen Flügeln aufblickten.
„War das schon alles, was ihr gegen mich aufbringen könnt?“, fragte Xavier belustigt, „Ihr seid wirklich noch so einige Jahrhunderte zu früh, um es mit mir aufnehmen zu können.“
„Das wollen wir doch glatt mal sehen“, erwiderte nun plötzlich Ravi, der zusammen mit seinen drei Brüdern ein Stück weit über Father schwebte.
Ich blickte daraufhin verdattert nach oben in Richtung Elisabeth, in deren Nähe die vier eigentlich sein sollten, aber da war nur die Prinzessin, die genauso überrascht wirkte wie ich.
„Hooo.. ihr Schoßhündchen wollt es also auch mal versuchen“, stellte Xavier gelassen fest und blickte zu ihnen hoch, „Na dann los. Ich möchte gerne noch all eure verzweifelten Gesichter sehen, bevor ich euch den Gar ausmache.“
„Tut uns leid, aber das werden wir verhindern“, versprach Mikhail und stellte seine tief dunkelblauen Flügel senkrecht, damit er langsam tiefer sank und mit seinen Brüdern zusammen im Viereck um den ehemaligen Nemesisanführer schwebte.
„Alle vier auf einmal, wie ich sehe.“ Xavier sah sich mit vor der Brust verschränkten Armen um. „Na wenn ihr meint. Aber beklagt euch nicht, wenn ihr euch am Ende selbst im Weg steht.“
Die vier hoben vielsagend ihre Waffen und gingen in Stellung, während die Luft auch ohne das herannahende Gewitter vor Spannung beinahe knisterte und alle noch Anwesenden zu den Brüdern hinauf starrten.
„Das ist doch verrückt“, murmelte Sylia, „Die werden noch ihren eigenen Tod heraufbeschwören.“
Ich machte mir ebenfalls Sorgen, doch ganz konnte ich ihr nicht zustimmen. „Wenn es irgendwelche Krieger schaffen können, ihn zu schlagen, dann sind es die vier. Sie sind nicht umsonst Lisas Leibwächter und praktisch schon die Mitführer von Reilong.“
„Dein Wort in Gottes Gehör, wenn es so einen Typen im Himmel überhaupt gibt“, seufzte Sylia nur als Erwiderung.
In dem Augenblick wich Luke ein Stück zurück und spannte den Pfeil auf seinem Bogen, Tinto riss seine Brille von der Nase und stopfte sie grob in seine Tasche, Ravi wirbelte seine Lanze mit dem langen Schaft über seinem Kopf und Mikhail schoss mit erhobenen Langschwertern direkt auf Xavier zu. Dieser wich jedoch einfach aus, wobei Mikhail sich aber noch drehte und sein Schwert herumriss, weshalb er den Schwarzgeflügelten nur ganz knapp verfehlte. Es gelang diesem aber gerade weit genug zurückzuweichen, dass der Hieb um vielleicht zwei Zentimeter daneben ging.
Da tauchte allerdings schon Ravi neben ihm auf und ließ seine Lanze herabfahren, doch Xavier lenkte sie mit bloßer Hand ins Leere. Daraufhin sauste ein Pfeil direkt auf seinen Kopf zu, den er aber mit seiner anderen Hand gerade noch vor seinem Ohr abfing. Nun erschien Tinto hinter ihm auf und stieß mit dem Degen zu, doch urplötzlich tauchte direkt an der Stelle eine Miniaturversion des roten Lichtes auf und explodierte schlagartig, weshalb der Zweitälteste ein Stück zurückgeworfen wurde.
„Puh, das war ja sogar richtig knapp“, stellte Xavier belustigt fest, „Scheint als müsste ich sogar mal etwas ernster werden.“
Auf einmal leuchteten immer wieder kurz schwarze Löcher um ihn herum auf und verschwanden sofort wieder. „Wenn ihr in eines von denen hineingeratet, kann ich nicht dafür garantieren, dass ihr jemals wieder zurückkommt“, grinste der Verrückte und lachte kurz auf, „Na, was…“
Tinto tauchte mit hoch erhobenem Degen direkt vor ihm auf und seine kalten, dunkelgrauen Augen hatten ihr Ziel bereits im Visir. Im nächsten Augenblick machte er jedoch einen Satz zur Seite und an der Stelle, an der er eben noch gewesen war, tauchte für einen kurzen Moment eines dieser rund eineinhalb Meter großen und breiten, finsteren Löcher auf.
„Hui, gar nicht schlecht.“ Ein klein wenig erschrocken wirkte der gute Father tatsächlich, doch er fing sich sofort wieder. „Ich zolle euch Respekt, ihr vier Hündchen von Elisabeth.“
„Wir verzichten“, erwiderte Ravi, der im scharfen Zickzack zwischen den schwarzen Löchern hindurch zischte und prompt neben Xavier auflief, „Wenn du so freundlich wärst und dich besiegen lässt, wäre uns das viel lieber.“
Er schlug mit seiner Lanze zu, doch auf einmal war Xavier verschwunden und Ravi blinzelte überrascht, ehe er sich umsah. „Hey, Brüderchen, er ist weg!“, rief er Mikhail zu, der ein Stück weiter oben in der Luft schwebte und die Augen geschlossen hatte.
„Das hätte ich jetzt nicht gedacht“, erwiderte dieser sarkastisch, „Luke, fünf Grad Richtung Süden und dreiundvierzig nach oben.“
Der Bogenschütze reagierte augenblicklich und ließ den Pfeil in die angegebene Richtung von der Sehne schnellen. Ein leises, etwas überraschtes Fluchen war zu hören und plötzlich erschien Xavier unmittelbar vor Luke.
„Scheint als müsste ich erstmal dich erledigen, kleiner Langstreckenkämpfer“, sagte er mit einem niederträchtigen Grinsen und streckte seine Hand nach vorne, direkt vor Lukes verletzte Magengegend, vor der nun ein rotes Licht aufflammte, „Eure Schwachstelle ist, dass ihr euch im Nahkampf kaum verteidigen könnt.“
Luke aber griff plötzlich mit seiner freien Rechten nach links an seinen Gürtel, zog ein langes, dünnes Messer hervor und riss es nach oben. Xavier musste überrascht seine Hand zurückziehen und das rote Leuchten erlosch, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten.
„Mag sein, dass das auf die meisten zutrifft“, bemerkte der Drittälteste und seine purpurnen Augen bekamen einen kühlen Glanz, „Aber Ausnahmen bestimmen die Regel.“
Er schlug mit dem Bogen in seiner Linken kräftig zu und war damit der Erste, der einen echten Treffer gegen den ehemaligen Nemesisanführer landete. Dieser verzog das Gesicht und verschwand, um einige Meter weiter hinten wieder aufzutauchen und sich kurz den Unterarm zu halten, mit dem er den Schlag noch halbwegs abgeblockt hatte.
„Sieht so aus, als sollte ich den Spielchen langsam wirklich ein Ende bereiten“, sagte er nun ernster als zuvor – offensichtlich war ihm die Lust vergangen es weiter darauf anzulegen von den viern getroffen zu werden, die seine Erwartungen offenbar übertrafen. „Ich werde euch nun umbringen, ihr lästigen, kleinen Köter.“
„Vielleicht würde es Euch etwas bringen, weniger zu reden“, warf Mikhail trocken ein, woraufhin er einen finsteren Blick von seinem Gegner kassierte.
Dieser wandte sich aber augenblicklich wieder nach links, wo Ravi in dem Moment auftauchte und mit der Lanze auf seine Brust zielte. Xavier wollte die silberweiße Klinge eindeutig wieder mit der bloßen Hand abfangen, doch Ravi drehte sich einfach mitten im Satz nach vorne um die eigene Achse. Dadurch kam aber auch die Lanze in Rotation und war nun nicht mehr auf seine Brust, sondern auf seine Oberschenkel gerichtet. Father biss die Zähne zusammen und verpasste dem Jungen mit der Faust einen Stoß, weshalb dessen Lanze seinen linken Oberschenkel nur streifte, doch ganz konnte er dem Angriff nicht entgehen.
Ravi breitete daraufhin seine sandfarbenen Flügel geschwind wieder aus und flog in einem seichten Bogen um seinen Gegner herum. „Jetzt sind wir gleich auf, Luke!“, rief er grinsend und schien bereits nach der nächsten Möglichkeit für eine Attacke zu sein.
„Ich wusste gar nicht, dass wir einen Wettbewerb veranstalten“, warf der Drittälteste ein und legte wieder einen Pfeil auf.
„Wäre ohne doch viel zu langweilig“, erwiderte der Rotschopf keck. Dass er bei den ganzen Schrammen und blauen Flecken aus der Schlacht davor immer noch so wendig wie ein Wiesel war, erstaunte mich wirklich. So gut wieder jeder andere hätte sich in seinem Zustand wohl vor Schmerzen gekrümmt.
„Wer nicht zu übermütig, du kleiner Hitzkopf!“, rief Mikhail von oben.
„Schon gut, schon gut.“ Ravi streckte jedoch kurz die Zunge raus und so resigniert, wie Mikhail dreinblickte, hatte er das durchaus registriert, auch wenn er nichts darauf erwiderte.
Xavier verzog unterdessen allmählich wütend das Gesicht und schien gerade eine Drohung von sich geben zu wollen, doch da schoss Tinto auf einmal wieder von schräg hinten auf ihn zu. Unmittelbar vor ihm erschien aber eines der roten Lichter und glühte gefährlich stetig auf, doch anstatt abzubremsen schwang der Zweitälteste einfach seinen Degen und schnitt die Lichtkugel einmal quer durch. Sie explodierte daraufhin natürlich prompt, aber kaum eine Sekunde später sauste Tinto aus dem Rauch hervor und zielte mit dem Degen direkt auf Xaviers Kopf.
Doch kaum dachte ich, wir hätten die Sache endlich hinter uns, neigte der ehemalige Nemesisanführer plötzlich den Kopf gerade weit genug zur Seite, dass die Degenklinge an ihm vorbei ging, und packte mit seiner Rechten den Griff der Waffe.
„Überschätzt euch nicht“, zischte Xavier mit drohender Stimme, „Ein Haushund wird nie eine Chance gegen einen Wolf haben.“
Auf einmal begann das Metall unter seiner Hand zu schmelzen und Tinto zog seine sofort zurück, als er sich fast die Finger verbrannte und die dampfende, silberne Flüssigkeit von Fathers Rechter tropfte. Der Blick des Anführers war nun ein ganz anderer, nicht mehr höhnischer, sondern einfach nur furchteinflößender, kalter Blick.
In dem Moment war ein Zischen und Pfeifen aus gleich mehreren Seiten zu hören und ich sah mich verwirrt um, als mir plötzlich fast zweiduzend dieser runden, roten Lichter auffielen, die mit solch einer Geschwindigkeit in einem langsam immer enger werdenden Bogen um uns sausten, dass sie wie Sternschnuppen aussahen. Sie kamen jedoch von allen Seiten und als ich begriff, auf wen sie zuhielten, war es bereits zu spät.
Tinto versuchte noch auszuweichen, doch ausgerechnet in dem Augenblick verzog er schmerzerfüllt das Gesicht und stockte in der Bewegung – wahrscheinlich war eine seiner unzähligen Verletzungen aus dem Kampf mit Raven daran Schuld. Die blutroten Sternschnuppen trafen nur knapp eine Sekunde später alle gleichzeitig bei Tinto aufeinander und es gab eine ohrenbetäubende Explosion, die problemlos ganze Wolkenkratzer in meiner Welt zum Einsturz gebracht hätte.
„TINTOOO!“, brüllte Mikhail entsetzt.
Ich starrte die kurz auflodernden Flammen und den dunklen Rauch bloß fassungslos an. Diese Gewalt konnte ganze Menschenmassen einfach zerfetzen, also was war mit Tinto? War er tot? Entgeistert durchsuchten meine Augen den Rauch nach einem Lebenszeichen von dem Zweitältesten, doch da waren nur Funken und dunkle Schwaden.
Dann fiel auf einmal unten etwas aus dem Rauch heraus und ich machte mich schon auf einen grausamen Anblick gefasst, doch der junge Mann, der dort herab stürzte, sah zwar ein wenig verbrannt aus und war fast kohlrabenschwarz, aber wenn meine Augen mich nicht täuschten, war er noch am Leben!
„Tse“, machte Xavier nur, „Scheint als konnte er sich doch noch gerade weit genug vom Zentrum wegbewegen.“
Unterdessen wollte ich gerade versuchen den Zweitältesten aufzufangen, aber da waren Finnigen und sogar Belphegor – der Tinto meines Erachtens nicht leiden konnte – neben ihm und fingen den Bewusstlosen einigermaßen sanft auf.
Ich atmete nur erleichtert auf und war froh, dass Tinto noch lebte. Denn auch wenn er mich nicht leiden konnte und ich ihn auch nicht gerade sympathisch gefunden hatte, so hatte ich inzwischen auch seine guten Seiten kennengelernt und mochte ihn auf eine etwas schräge Art und Weise. Ich wollte nicht, dass er starb. Ich wollte keinen von ihnen sterben sehen, genug hatten ihr Leben bereits verloren.
Xavier aber streckte auf einmal seine Hand in die Richtung der drei da unten und wieder flackerte ein rotes Licht auf, das Tinto und seinen beiden Fängern wohl endgültig den Rest geben sollte. Ich wollte ihnen gerade zur Hilfe eilen, als ein lautes Brüllen zu hören war und Ravi mit erhobener Lanze auf den Schwarzgeflügelten zuschoss. Father blickte daraufhin auf und streckte die Hand mit der rot glühenden Kugel einfach in seine Richtung, doch kaum kam sie bei Ravi an, zerschlug dieser sie einfach wie Tinto in zwei Teile und sauste durch den Rauch hindurch.
Urplötzlich aber tauchte unmittelbar vor ihm eines dieser schwarzen Löcher von vorhin auf, von denen Xavier behauptete, dass man aus ihnen nie wieder einen Weg rausfinden würde, wenn man einmal in ihnen gefangen war. In letzter Sekunde gelang dem Rotschopf noch eine Bremsung und er flog zurück, doch just in dem Augenblick erschien direkt hinter ihm ein weiteres, düsteres Loch.
Seine gelben Augen weiteten sich noch, doch er war nicht mehr in der Lage seine Richtung zu ändern und verschwand rückwärts in dem schwarzen Nichts. Das Loch schloss sich anschließend sofort und verschluckte den Jungen. Er war einfach weg.
Völlig sprachlos starrten alle an die Stelle, an der eben noch der Jüngste der vier Brüder gewesen war. Dann zischten unvermittelt zwei Pfeile durch die Luft und verfehlten den ehemaligen Nemesisanführer nur um Haaresbreite. Dieser und auch alle anderen blickten daraufhin hoch zu Luke, der zwar stumm aber mit eiskalten, vernichtenden Augen bereits den nächsten Pfeil auflegte und zielte.
Xavier schien davon gänzlich unbeeindruckt und nicht mal eine Sekunde später tauchten um den Drittältesten herum lauter dieser schwarzen Löcher auf. Luke reagierte sofort und flog geschickt an den Fallen vorbei, noch während er zielte und den nächsten Pfeil von der Sehne schnellen ließ. Dieses Mal musste Father sogar ein Stück zur Seite fliegen, um nicht aufgespießt zu werden, und erwiderte Lukes finsteren Blick.
Dass Ravi nun einfach weg sein sollte, konnte auch ich nicht ganz fassen. Und ich konnte es dem Drittältesten ohne Probleme nachvollziehen, aber er machte mir gerade fast ein bisschen Angst mit diesem tödlichen Ausdruck im Gesicht und in den sonst so ruhigen und friedlichen, purpurfarbenen Augen.
Weitere Pfeile schossen durch die Luft und noch mehr dieser finsteren Portale – die die Löcher anscheinend waren – erschienen immer wieder an allen möglichen Stellen um Luke herum, doch keiner schaffte es den anderen zu erwischen.
Schließlich war der Drittälteste nur noch ein Stück von Xavier entfernt, als unmittelbar vor ihm wieder eines der Löcher auftauchte. Luke wich natürlich augenblicklich zur Seite aus, doch dort erschien gleich das Nächste. Mit dem Unterschied, dass aus diesem plötzlich jemand herauspurzelte und Luke direkt in die Arme fiel, weshalb dieser beinahe seinen Bogen fallen ließ.
„Huch?.. Oh, wie schön, ich bin wieder draußen“, grinste Ravi und breitete seine Flügel wieder richtig aus, „Habt ihr mich vermisst?“
Es musste echt ein unbeschreibliches Bild gewesen sein, wie wir alle diesen übermütig grinsenden Rotschopf völlig ungläubig anstarrten. Selbst Xavier sah so aus als wäre ihm ein Gespenst über den Weg gelaufen.
„Wie…?“, brachte Luke nur verblüfft hervor.
„Hm?“ Dieser schien den Ernst der Lage gar nicht zu kapieren, sondern blickte uns nur verständnislos an. „Wie ich da rausgekommen bin, vielleicht?“, riet er.
Luke nickte.
„Ist gar nicht so schwer“, antwortete Ravi spitz und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, während seine Lanze mit dem Schaft über seinen Schultern lag, „Ich rieche meinen Gegner und brauchte nur den passenden Moment abwarten, um durch eines dieser komischen Löcher wieder zurückzukommen.“
Ich hörte weiter oben ein Seufzen und sah, wie Elisabeth vor lauter Erleichterung auf die Knie sank und bloß den Kopf schüttelte. Scheinbar hatte sie den Jungen auch schon verloren geglaubt, genau wie Tinto zuvor, und war jetzt unendlich froh darüber, dass er noch lebte.
Gerade als Luke etwas erwidern wollte, schlug ihm und Ravi völlig unvermittelt eine heftige Druckwelle entgegen und schleuderte sie quer durch die Luft. Die beiden versuchten noch sich mit ihren Flügeln zu schützen, aber sie wurden dennoch hart getroffen und ihre bereits vorhandenen Verletzungen schienen den Rest zu tun. Zwar waren sie noch bei Bewusstsein, aber keiner von beiden schien mehr in der Lage zu sein, sich nach diesem unerbittlichen Treffer noch mal fangen zu können. Das sagten zumindest ihre verzogenen Gesichter, laut denen sie nur zu gerne etwas auf diesen hinterhältigen Angriff erwidert hätten, aber handlungsunfähigen Körper.
Es war vier der Nemesiskommandeuere zu verdanken, dass sie nicht weiter in den Wolken verschwanden, sondern vorher aufgefangen wurden.
„Jetzt hast du es zu weit getrieben.“
Als Xavier aufblickte, war Mikhail bereits direkt über ihm und bereit ihn mit einem einzigen Hieb zu köpfen. Unerwartet hatte der ehemalige Nemesisanführer aber ebenfalls zwei Schwerter – wenn auch mit pechschwarzen Klingen – in den Händen und parierte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit im allerletzten Moment noch Mikhails sonst mit Sicherheit tödlichen Schlag. Seine Wucht reichte jedoch, um Xavier ein ganzes Stück weiter nach unten zu drücken, sodass dieser mit allen sechs Flügeln arbeiten musste, um dagegen halten zu können.
Was auf diesen Patt folgte, war ein dermaßen schneller Schlagabtausch mit den Schwertern, dass ich nicht mal sagen konnte, wer von beiden eigentlich gerade die Oberhand hatte, denn in der nächsten Sekunde war es schon wieder der andere. Alles, was ich undeutlich mitbekam war, dass zu Mikhails im Verhältnis zu den anderen noch wenigen leichten Verletzungen noch einige weitere hinzukamen, aber auch Father so einige Schrammen davontrug. Sein schwarzes Hemd blieb nicht ganz unbefleckt und er war deutlich angestrengt, da er bei Mikhails Geschwindigkeit anscheinend auch keine Möglichkeit hatte von seinen magischen Angriffen Gebrauch zu machen.
Mit einem wütenden Mikhail sollte man sich wirklich nicht anlegen, da zog eigentlich jeder den Kürzeren. Ich drückte die Daumen und hoffte inständig, dass Mikhail es schaffte. Nur zu gerne hätte ich ihm auch geholfen, doch schon seit die vier Brüder das Ruder übernommen hatten, wusste ich nicht, wie ich sie unterstützen konnte, ohne ihnen dabei im Weg zu stehen. So blieb mir im Augenblick nichts anderes übrig als zu beten.
Dann, vollkommen unerwartet, war auf einmal ein lauteres Klirren zu hören als die davor. Zwei silberne Langschwerter fielen ungehalten in die Tiefe und Xavier packte Mikhail am Hals. Daraufhin verschwanden dessen Flügel auf einmal und er wurde nur noch von Father in der Luft gehalten, wobei er eindeutig fast erwürgt wurde.
Blankes Entsetzen zeichnete sich auf den Gesichtern aller Umstehenden ab und Stille kehrte ein. Ein leichter Windzug streifte über das weite Feld und trieb die dunklen Gewitterwolken mehr und mehr nach Westen, über die weißen Wolken Reilongs hinweg – wie ein dunkles Vorzeichen.
„Oh Gott.. was ist passiert?“
Finnigen und Belphegor blickten erschrocken zu dem verrußten jungen Mann in ihren Armen, der auf einmal anfing sich zu regen und blinzelnd die Augen aufschlug.
„Du bist wieder du selbst, oder?“, fragte Belphegor misstrauisch, der wohl noch den Kampf von gestern im Kopf hatte, bei dem Tintos andere Persönlichkeit nach seinem Leben getrachtet hatte.
Dieser sah ihn resigniert an. „Andernfalls wärt ihr zwei schon tot“, erwiderte er trocken, „Und außerdem schlafe ich auch ohne Brille und laufe nicht gleich am nächsten Morgen im Palast Amok, also regt euch ab.“
„Dann ist ja gut“, sagte Finnigen nur und blickte wieder hinauf, woraufhin auch Tinto in die Richtung blickte und seine Augen sich vor Entsetzen weiteten.
Mikhail hatte mit beiden Händen Xaviers Arm gepackt und versuchte offensichtlich nach Kräften sich zu befreien, aber ohne Erfolg. Im Gegenteil, der Griff des ehemaligen Nemesisanführers wurde immer stärker und wenn das so weiter ging, brach er Mikhail noch das Genick oder der Älteste erstickte!
Auf einmal aber schien Xaviers Griff wieder ein wenig nachzulassen. Im Ganzen verlor sich seine vernichtende Aura wieder etwas und als er zu uns hinüber blickte, fand sich wieder dieser leichte Hohn in seinen Augen wieder.
„Wenn ich mich recht erinnere, liegt dir doch einiges an diesem Schoßhündchen, oder?“, fragte er mit wissendem Lächeln, „Wächterin?“
Meine Augen weiteten sich und ich starrte ihn entgeistert an.
„Mir kommt da gerade eine nette Idee“, bemerkte Xavier und boxte kurz Mikhail in den Magen, der gerade mit dem Fuß ausgeholt hatte, um sich mit einem Tritt zu befreien, „Wir machen einen Handel. Ob ich ihn nun umbringe oder nicht, es bringt mir nichts. Wenn du willst, können wir tauschen. Du gegen ihn, Wächterin. Was sagst du dazu?“
Ich sah ihn einige Sekunden lang lediglich verwirrt an. Damit hatte ich ja nun gar nicht gerechnet. Und vor allem, woher wusste er das?
„Tu es nicht!“, rief Elisabeth augenblicklich und sah Xavier erbost an, „Ein derartiger Handel ist völlig inakzeptabel!“
„Bist du dir sicher?“, erwiderte der ehemalige Nemesisanführer und drückte mit der Hand um Mikhails Hals in aller Seelenruhe fester zu, „Dir scheint er ja auch recht wichtig zu sein. Und findest du es nicht grausam, einen Tausch von einem Mädchen, das ihr kaum zwei Monate kennt, gegen einen jahrelangen treuen Ergebenen abzulehnen? Also ich würde mir das nochmal überlegen.“
Die Prinzessin biss die Zähne fest zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Es war unschwer zu erkennen, dass sie keinen von uns in seinen Händen wissen wollte.
„Lass mich raten, du willst dem Handel zustimmen?“, fragte Sylia resigniert, die sich in den letzten Minuten zurückgehalten hatte.
„Du kannst wohl Gedanken lesen.“
„Ich steckte in dir drin und habe dein Innerstes gesehen“, erwiderte die Nemesis nüchtern und seufzte herzhaft, „Da wäre es doch eher unnormal, wenn ich dich nicht wenigstens so weit einschätzen könnte.“
„Da hast du wohl Recht.“
„Ich stimme dem Handel zu!“, rief ich entschlossen, „Aber nur, wenn Sie Mikhail wirklich freilassen.“
„Das wird er in keinem Fall freiwillig tun.“
„Ich weiß.“
„Dann ist ja gut.“
„Sam!“, rief Elisabeth entsetzt, wobei sie nicht die Einzige war.
„Lass den Schwachsinn, du Dummkopf!“, rief auch Tinto von weiter unten bei Belphegor und Finnigen, „Damit würdest du ihm nur einen Gefallen tun!“
Froh darüber, dass es ihm anscheinend den Umständen entsprechend gut ging – bei seinem Anblick als schwarzes Rußmännchen musste ich beinahe schon lachen – erwiderte ich lediglich ein mattes Lächeln. Was das anging, waren wir uns schließlich einig. Die Gesichter der zwanzig Truppenführer und sogar die der Nemesis sagten mir genau dasselbe – scheinbar waren wir wirklich alle von einem Schlag –, nur würde ich trotzdem das Gegenteil von dem tun, was sie wollten.
„Tu es.. nicht…“, presste Mikhail angestrengt hervor und verzog gleich darauf das Gesicht, als Xavier erneut fester zudrückte, „Sam!“
„Wehe Sie tun ihm etwas an“, drohte ich, auch wenn ich mich wahrlich nicht in der Position dafür befand, „Dann wird aus dem Handel nichts und ich werde sie mit allem bekämpfen, was ich habe.“
Einen Moment lang erwiderte Xavier herausfordernd meinen Blick, ganz als wäre er glatt versucht es auszutesten, doch dann ließ er den Griff um Mikhails Hals wieder lockerer. „Schön dass wenigstens eine von euch vernünftig ist“, sagte er lediglich, „Dann komm her, Wächterin.“
Kurz zögerte ich noch, doch dann spannte ich meine vier Flügel an und glitt langsam zu ihm herüber.
„Nicht! Sam!“, rief Ravi, der mit Luke zusammen weiter außen von einigen Nemesis gestützt wurde, die sich zuvor in Fangnähe befunden hatten. Die beiden Leibwächter waren scheinbar sogar so geschwächt, dass sie genau wie Tinto noch nicht mal mehr alleine fliegen konnten. Zudem war ich mir sicher, dass es Mikhail nicht anders ging. Die vier hatten heute genug eingesteckt, jetzt lag es an mir etwas zu unternehmen.
„Was wollen wir eigentlich machen?“, fragte Sylia in beinahe schon gelangweiltem Tonfall, „Sobald wir da sind, wird er uns auf irgendeine Weise fangen, dann erstmal diesen Mikhail umbringen, wenn nötig auch noch die anderen, und sich dann schön genüsslich an uns austoben, bevor er sich dann letztlich als Höhepunkt seiner Rache an den Untergang von Reilong macht.“
„Bitte!“, schrie Elisabeth, „Sylia, halt sie auf!“
„Lass das mit Mikhail mal meine Sorge sein“, sagte ich, „Nur für den Teil danach hab ich ehrlich gesagt keinen Plan.“
„Na dann, das wird mit Sicherheit schön heiter werden.“
Laut fügte sie noch hinzu: „Tut mir leid, aber im Augenblick kann ich ihre Gedanken wohl am besten nachvollziehen und muss mich dem daher leider widersetzen, Prinzessin von Reilong.“
„In jedem Fall, da stimme ich dir zu.“
So wie Father mich ansah, rechnete er bereits damit, dass ich noch einen leisen Hintergedanken hatte. Allerdings glaubte ich nicht, dass er mit meinem Plan rechnete. Von daher wunderte es mich auch nicht sonderlich, dass der ehemalige Nemesisanführer mich leicht erschrocken ansah, als ich mit einem Mal dank dem Tempo meiner vier Flügel direkt vor ihm war. Dabei behielt ich den Kerl jedoch genau im Auge und schickte einfach einen Windstoß nach rechts, der Mikhail zwar schwer traf, ihn dafür aber auch aus der Hand von Xavier schleuderte.
Ich sah aus den Augenwinkeln noch, wie seine dunkelblauen Schwingen wieder erschienen und er versuchte sich zu fangen, als Father mich auch schon zu fassen bekam und meine Flügel bei seiner Berührung augenblicklich einfach zu schwarzen und weißen Federn zerfielen.
„Miststück!“, zischte er lediglich und im nächsten Augenblick schon umhüllten mich dunkle Nebelschwaden. Der finstere Schleier wurde von Sekunde zu Sekunde immer dichter, bis ich letztlich nur noch schwarz sah.
Vermutlich befand ich mich in irgendeiner Art Gefäß, in das kein Licht hineindrang. Von daher tastete ich vorsichtig nach der äußeren Wand, doch egal wie weit ich meine Hand ausstreckte und letztlich sogar flog, ich berührte gar nichts.
„Wo sind wir?“, fragte ich beunruhigt und brüllte im Anschluss aber gleich lauthals, doch auch Sekunden später war kein Echo zu hören. Also war der Raum, in dem wir uns befanden, entweder unvorstellbar groß oder wir waren irgendwo komplett anders, wo es gar nichts gab. Oder – aber daran wollte ich lieber gar nicht denken – wir waren bereits tot.
„Ich vermute mal, er hat uns in eine Art parallelen Raum gesteckt“, antwortete Sylia nachdenklich, „Er hat schon früher gerne Spielereien in dieser Richtung betrieben und anscheinend gelingt es ihm jetzt sogar eigene kleine Welten zu schaffen, auch wenn sich in ihnen natürlich noch nichts befindet. Sie ist einfach wie ein riesiger Raum ohne Einrichtung oder anderes.“
„Und wie kommen wir von hier fort?“
„Soweit ich weiß, kann nur er das beeinflussen“, erwiderte die Nemesis wenig begeistert, „Sprich ob wir hier je wieder rauskommen, hängt allein von seiner unberechenbaren Laune ab.“
„Klingt ja super“, stöhnte ich und ließ den Kopf hängen.
„Das ist das Resultat deiner Entscheidung, also beklag dich nicht.“
„Ich weiß, ich weiß. Bleibt aber trotzdem die Frage, was wir jetzt machen sollen.“
„Wie wäre es mit beten?“
„Ist das dein Ernst?“
„Was glaubst du denn?“
Ich wollte antworten, aber in dem Augenblick musste ich kräftig husten und rang nach Luft, die mir jedoch plötzlich erschreckend dünn erschien.
„Sag mal, glaubst du, es gibt hier so etwas wie Sauerstoff?“, fragte ich nervös.
„Drauf verlassen würde ich mich nicht“, antwortete Sylia, die nun aber auch ernst wurde, „Aber wenn du mich fragst, liegt es nicht an mangelndem Sauerstoff, dass das Atmen auf einmal so schwer wird. Irgendetwas stimmt nicht.“
„Kann es sein, dass hier noch irgendetwas anderes in der Luft ist?“, fragte ich und presste mir eine Hand auf den Mund, was meinen Hustenkrampf aber auch nicht sonderlich interessierte.
„Gut möglich“, erwiderte sie, „Besser wir lassen uns schnell etwas einfallen, ich hab keine Lust hier zu verrecken.“
„Deiner Meinung.“
„SAMANTHA!“, schrie Elisabeth und einige goldene Blitze schlugen auf die leicht abgedunkelte Kugel um meinen Körper, doch sie hinterließen noch nicht einmal leichte Kratzer in der scheinbar undurchdringlichen Hülle.
„Das hilft gar nichts“, bemerkte Xavier grinsend, der fast direkt neben der Kapsel schwebte und mich ansah, „Wenn sie sich nicht so winden würde, könnte man doch glatt meinen, dass sie schläft, nicht wahr? Und schlafende Prinzessinnen soll man schließlich nicht wecken.“
„Was hast du mit ihr vor?“, fragte Mikhail, der ein Stück neben Elisabeth schwebte und sich scheinbar kaum noch in der Luft halten konnte. Aber wenn Blicke töten könnten, dann würde der ehemalige Nemesisanführer wohl jeden Augenblick tot vom Himmel fallen.
„Hmmm.. mal überlegen.“ Er schien das richtig zu genießen und ließ seinen Blick durch die Reihen der Rei und Nemesis gleiten, die ihn alle mit einer Mischung aus Wut und Furcht ansahen. „Die Wächterin hat mir gerade jetzt zum Schluss ganz schön viele Probleme bereitet. Ich denke, ich werde sie noch eine Weile lang foltern, bevor ich sie töte.“
„Du verdammtes Monster!“, schrie Elisabeth aufgebracht, „Hör sofort auf damit!“
„Hnhnhn.“ Xavier kicherte nur belustigt. „Aber wo ist denn deine Höflichkeit geblieben, kleine Elisabeth Bellathiér?“
Die Prinzessin knurrte wütend und rang mit den Armen, schien aber nicht zu wissen, was sie tun sollte. Genau wie auch die anderen, die alle von der Schlacht noch völlig geschwächt waren und sich einem übermächtigen Gegner gegenüber sahen.
„Das ist jetzt wirklich unpraktisch“, stellte Sylia fest, die genau wie ich heftig am Husten war.
„Irgendetwas müssen wir doch tun können“, presste ich hervor, „So wie vorhin, als wir gemeinsam angegriffen haben.“
„Hast du eigentlich keine Kontrolle über dieses Wissen der Wächterinnen vor dir?“, fragte Sylia, „Jetzt wäre nämlich mal der richtige Zeitpunkt für eine gute Idee aus deinem Kasten da.“
„Ich kann es aber nicht richtig kontrollieren“, musste ich gestehen, „Zwar hatte ich es komischerweise meistens, wenn ich es wirklich gebraucht habe, aber wie genau ich jetzt daran gekommen bin, weiß ich nicht. Es war einfach immer da.“
„Das hilft uns jetzt aber nicht.“
„Ich weiß.“ Allmählich wurde es wirklich schwer zu atmen und ich merkte, wie mein Kreislauf sich langsam verabschiedete und meine Kraft nachließ. Außerdem wurde es echt kalt hier, wo auch immer wir nun waren. Bloß fiel mir dabei auf, dass es zwar ganz schön kühl war, ich aber dennoch nicht fror. Ich war verwirrt, konzentrierte mich dann aber auf diese Wärme und suchte nach ihrem Ursprung.
Als ich ihn fand, war ich ehrlich verblüfft. Es war auf einmal so, als würde ich in meinem eigenen Inneren spazieren gehen. Zwar reagierte immer noch die Schwärze, doch als ich mich nun vollkommen konzentrierte, wurde es erstens für eine Weile leichter zu atmen und zweitens entdeckte ich vier kleine Lichter vor mir. Die kleinen, etwa faustgroßen Kugeln leuchteten in vier verschiedenen Farben: die drei außen in rot, gelb und blau und die in der Mitte weiß.
Nachdem ich sie einige Sekunden lang angestarrt hatte, erkannte ich auch, was in ihnen war. In der roten flackerte eine kleine, aber stetige Flamme, in der gelben zuckten jede Menge kleiner Blitze umher und in der blauen befand sich etwas Wasser, das leichte Wellen schlug und immer wieder seine Form änderte. Die weiße Kugel in der Mitte war ein Stück größer als die anderen drei und in ihr sausten winzige, silberweiße Windböen hin und her und bildeten einen kleinen Wirbelsturm.
„Woher kommen die?“, fragte plötzlich die Stimme von Sylia und als ich nach links blickte, entdeckte ich eine hochgewachsene, junge Frau – nur vielleicht zwei bis drei Jahre älter als ich – mit langen, silberweißen Haaren und roten Augen in schlichter, hellgrauer Kleidung.
„Sylia?“, fragte ich völlig verblüfft, obwohl die Antwort klar war.
„Wer soll ich denn sonst sein? Deine Mutter vielleicht?“, erwiderte die Nemesis trocken.
„Blöde Frage“, gab ich zu, „Aber was meinst du mit deiner Frage?.. Moment mal, das sind doch…“
„Das in der Mitte da ist jedenfalls der Ursprung deiner Fähigkeit“, erklärte Sylia, „Aber woher die anderen drei um sie herum kommen, weiß ich nicht…“
„Das sind die Kräfte von Caro, Nemu und Yes!“, stellte ich verdattert fest, „Die, die ich direkt nach ihrem Tod in mich aufgenommen hatte.. auch wenn ich gar nicht weiß, warum ich das eigentlich gemacht habe, fällt mir gerade auf.“
Einen Moment lang sah die junge Frau mich nachdenklich an, dann blickte sie wieder zu den vier leuchtenden Kugeln. „Wahrscheinlich hat dein als Wächterin natürliches Talent zur Vorahnung unterbewusst reagiert, als deine Freundinnen gestorben sind, beziehungsweise als die eine ihre Kräfte verloren hat.“
Ich zuckte nur mit den Schultern, da ich davon nicht viel Ahnung hatte. Mich wunderte zurzeit mehr noch, dass Sylia und ich uns so von Person zu Person gegenüber standen. Zuvor hatten wir doch auch keine Formen, sondern einfach nur eine geistliche Verbindung gehabt. Also was war hier los?
„Was auch immer der Grund war, wir haben im Moment andere Sorgen“, bemerkte sie und sah sich in dieser völligen Finsternis um uns um, „Dieser verdammte Xavier, wo hat er uns bloß hingeschickt? Wenn ich das genauer wüsste, wäre es einfacher nach einem vielleicht doch vorhandenem Ausweg zu suchen.“
Mein Blick war nach wie vor auf die kleinen Kugeln gerichtet, die der einzige Lichtpunkt in dieser völligen Dunkelheit waren. Da diese vier sich aber in meinem Inneren befanden, mussten wir also auch irgendwie in mir sein, wenn auch anders als vorher.
Langsam schloss ich die Augen, beruhigte meine Atmung und lauschte, wobei ich Sylias leises Gemurmel ausblendete. Nach einer kurzen Weile hörte ich ein leises Pumpen und bei der Regelmäßigkeit kam mir bald der Gedanke, dass es wohl mein eigener Herzschlag war. Aber das reichte noch nicht, ich musste noch weiter horchen und konzentrierte mich so sehr es irgendwie ging.
Schließlich vernahm ich – irgendwo ganz weit in der Ferne – leise Stimmen. Für mich nicht mehr als ein Wispern, doch nach einigen Sekunden erkannte ich tatsächlich Elisabeths wütende und gleichzeitig verzweifelte Stimme.
„Wir sind immer noch dort in den Wolken, direkt bei Xavier vermute ich mal“, sagte ich und öffnete wieder die Augen, um die leicht irritierte Sylia anzusehen, „Wir waren nie wo anders. Anscheinend sind wir bloß bewusstlos oder er hat uns in irgendeinen Dämmerzustand versetzt, aus dem wir nicht wieder aufwachen sollen.“
Kurz sah sie mich ungläubig an, doch dann schlich sich ein grimmiges Grinsen auf ihre Lippen. „Na wenn das so ist, dann haben wir ja gar nicht mal so viel zu tun.“
„Wir müssen nur aufwachen.“ Ich nickte. Fragte sich nur, wie wir das anstellen sollten. Und danach kam gleich die Frage, was wir anschließend machen sollten. Immerhin würde Father uns bestimmt nicht erstmal die Zeit geben uns zu sortieren und nach einer Möglichkeit zu suchen, wie wir ihn besiegen konnten.
„Und wir brauchen zugleich einen starken Angriff, mit dem wir Xavier endlich den Gar ausmachen können“, stimmte Sylia zu und verzog die Lippen zu einem sarkastischen Lächeln, „Na wenn es weiter nichts ist.“
Ich lächelte ebenfalls schief, doch gerade als ich merkte, wie das Atmen allmählich wieder schwerer wurde, fiel mein Blick wieder auf die vier Kugeln mit den Kräften von uns vier Wächterinnen. Zur selben Zeit wanderte auch Sylias Blick dorthin und als wir uns nach einigen Sekunden ansahen, klingelte es bei uns beiden.
„Das wird aber kein Zuckerschlecken“, warf die Nemesis ein, „Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob dein Körper dem überhaupt standhält.“
„Wir müssen es versuchen“, erwiderte ich ernst, „Es ist wahrscheinlich unsere einzige Chance.“
„Und du bist dir trotz der Konsequenten sicher?“, hakte Sylia noch ein letztes Mal nach, „Du wirst sie alle vielleicht nie mehr wiedersehen.“
Ich sah sie mit einem gequälten Lächeln an, das als Antwort ausreichen sollte.
„Also schön“, sagte die Nemesis daraufhin, „Dann eben alles oder nichts.“
„Alles oder nichts“, wiederholte ich entschlossen und holte noch einmal so tief Luft, wie es möglich war.
Dann konzentrierten wir uns beide und traten voreinander, sodass wir mit ausgestrecktem Arm unsere Handflächen aneinander legen konnten und anschließend unsere Finger miteinander verschränkten. Die vier Kugeln bewegten sich beinahe augenblicklich und während die Weiße direkt über unseren Händen schwebte, positionierten sich die anderen drei in einem aufrechten Dreieck um die Weiße und damit auch unsere Hände herum.
Es dauerte einen Augenblick, doch als wir beide – eine Rei und eine Nemesis als die Licht- und Schattenseite einer Medaille – uns voll aufeinander und das, was wir erreichen wollten, konzentrierten, begann die weiße Kugel stärker zu leuchten.
Die anderen drei begannen daraufhin in unregelmäßigen und unterschiedlichen Abständen zu blinken. Jedoch wurden ihre Takte allmählich immer gleichmäßiger und synchroner, bis sie sich schließlich aufeinander abgestimmt hatten und die rote, gelbe und blaue Kugel immer im genau gleichen Moment aufblinkten und wieder erloschen.
Nun begannen sie sich langsam um unsere Hände und die weiße Kugel zu drehen und leuchteten dabei immer stärker, während sie zugleich immer schneller wurden, bis nur noch ein bunt leuchtender Ring um unsere verschränkten Hände kreiste. Nun wurde auch das Licht der weißen Kugel des Windes stärker und breitete sich langsam aus, schluckte den nun regenbogenfarbenen Ring und breitete sich vollständig aus, bis auch Sylia und ich nur noch weiß sahen.
„Das wirst du noch bereuen, Xavier“, sagte Elisabeth schließlich beherrscht, wobei ihre peridotgrünen Augen vor Zorn leuchteten.
„Ach ja?“ Der ehemalige Nemesisanführer erwiderte spöttisch ihren Blick, „Und wer bitte schön soll mich richten? Du vielleicht? Nein, jedenfalls wird dir die Kraft dazu fehlen, solange du dein geliebtes Reilong nicht aufgibst. Und so wie ich deine störrische, naive Natur kenne, würdest du das selbst dann nicht tun, wenn das deinen Tod bedeuten würde.“
„Ganz genau“, erwiderte die Prinzessin verbissen, „Aber damit wirst du trotzdem nicht durchkommen.“
„Wie gesagt, ich sehe niemanden unter euch, der mich überhaupt noch berühren könnte“, konterte Xavier mit einem verächtlichen Grinsen, „Wenn ihr um euer Leben flehen wollt, ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.“
„Lieber sterben wir“, zischte Tinto und biss die Zähne zusammen, genau wie alle anderen hier auch.
„Moment mal.. was…“ Mikhail starrte die abgedunkelte Kugel, in der ich mich befand überrascht an.
Daraufhin wandten die anderen ebenfalls den Blick und auch Father blickte neben sich zu der runden Kapsel, in der sich mein Körper leicht eingerollt und die Beine angezogen hatte. Allerdings schwirrten auf einmal lauter kleine goldene Lichter durch das Innere der Kugel um mich herum, wie muntere Glühwürmchen in einer lauen Sommernacht.
Im nächsten Augenblick streckten sich vier große Schwingen aus meinem Rücken – wie zuvor waren die oberen beiden weiß und die unteren schwarz –, wobei sie wegen der äußeren Hülle gezwungen waren sich wie ein Kokon um mich zu schließen. Jedoch bekam diese bereits mehrere große Sprünge und auch als Xavier versuchte die Risse durch seine Magie wieder zu schließen, rissen diese augenblicklich wieder auf und begannen golden zu leuchten.
Dann war das Zerspringen von Glas zu hören und die Kapsel zersplitterte in tausende Scherben. Unter den völlig ungläubigen Blicken von rund fünfzig Rei und Nemesis einschließlich Father falteten Sylia und ich unsere Flügel wieder auseinander und richteten uns zu voller Größe auf. Wind zirkulierte um uns, ließ das zwar schon etwas mitgenommene, aber dennoch elegante, weiße Kleid Falten schlagen und spielte mit unseren langen, dunkelbraun-silberweißen Haaren. Dass unser rechtes Auge rot und das Linke goldbraun war, sahen wir selbst zwar nicht, aber dafür Xavier, auf den unser vernichtender Blick gerichtet war.
„Was.. wie ist das möglich?“, fragte Xavier ungläubig und starrte uns völlig entgeistert an, ganz als wären wir Außerirdische.
„Nichts ist unmöglich, mein Lieber“, erwiderten Sylia und ich in völligem Einklang, fast als wären wir nicht zwei sondern eine Person, „Und auch dein Tod zählt dazu.“
Elisabeth, Tinto, Luke, Ravi, Mikhail und all die anderen starrten uns nur verblüfft an, unfähig etwas zu sagen.
„Tse.“ Der ehemalige Nemesisanführer verzog ein wenig das Gesicht und schien zu überlegen, wie gefährlich wir ihm werden konnten. „Werdet ja nicht übermütig, nur weil ihr es geschafft habt euch daraus zu befreien.“
„Werden wir nicht“, lautete die schlichte Erwiderung und wir streckten eine Hand nach vorne, „So etwas haben wir gar nicht nötig.“
Der Wind begann stärker zu zirkulieren und um uns herum erschienen plötzlich ein ganzer Schwall Wasser in Form eines wütenden Fuchses, eine riesige, flammende Schlange und mehrere wild umherzuckende Blitze.
Xavier schienen bald die Augen auszufallen, ehe er sich wieder fing und im Angesicht der Lage ernst wurde. Auch er streckte eine Hand nach vorne und mehrere rote Lichter erschienen. Doch kaum wollte er sie losschicken, war ich schon nicht mehr dort. Die Windkontrolle ermöglichte mir zusammen mit den vier großen, starken Flügeln beinahe Überschallgeschwindigkeit und damit konnte selbst Xavier nicht mithalten.
Einer der Blitze schlug zu, ohne dass Father irgendetwas dagegen unternehmen konnte. Kurz jagte der Stromstoß durch seinen Körper, doch dann gelang es Xavier irgendwie ihn abzuschütteln und er entfernte sich einige Meter von mir. Der Blick seiner grauen Augen wurde dabei immer kälter und der Hohn verschwand vollständig, wie schon einmal.
Die roten Sternschnuppen schossen direkt um ihn herum und vor seiner ausgestreckten Hand glühte ein neues, dunkelviolettes Licht auf. Ein Surren wie das eines zu tief fliegenden Düsenjets heulte auf, als der Energiestrahl ungehalten auf mich zu bretterte.
Jedoch sausten die Flammen in Form einer riesigen Schlange ihm bereits entgegen und als die beiden aufeinander trafen, gab es eine heftige Explosion. Der Rauch verdeckte für einen Moment die Sicht und wir stellten uns auf den nächsten Angriff ein.
„Ihr werdet mich nicht an meinen Plänen hindern“, erklang allerdings Xaviers bedrohlich ernste Stimme direkt hinter uns.
Wir wussten nicht genau, was uns da beinahe erwischte, aber indem wir das Wasser gerade noch zwischen Father und uns brachten, gab es nur ein lautes Zischen, als das kühle Nass verdampfte. Mit zwei schnellen Flügelschlägen hatten wir auch wieder Abstand zwischen den ehemaligen Nemesisanführer und uns gebracht und drehten uns dabei um.
Nun hatte Xavier auch seinen zweiten Arm ausgestreckt und überkreuzte ihn mit dem Ersten. Hinter ihm leuchteten schwarze Flammen auf und fraßen sich langsam durch die Luft. Wie ein unheilvoller Nebel kamen sie auf uns zu.
Sylia und ich streckten unsere rechte Hand nach oben in die Luft und ein rundes, weißes Licht leuchtete auf. Im Grunde wäre es naheliegend gewesen Feuer mit Wasser zu bekämpfen, doch wir waren uns sicher, dass er das bereits eingeplant hatte und vielleicht sogar wollte. Darum hatten wir etwas anderes vor und benutzten dafür eine Kombination aus allen vier Fähigkeiten.
Überall um uns herum erschienen lauter kleine Miniaturversionen der größeren weißen Kugel über unserer Hand und schimmerten wie die Sterne am dunklen Firmament. Inzwischen hatten die finsteren Flammen uns umschlossen und kamen gefährlich nahe, doch die weißen Lichter schwirrten wild umher und verschwanden zum Teil auch einfach in dem Feuer. Die Energiekugel über meiner Rechten pochte nun einmal kräftig und die ganzen kleinen Funken begannen immer stärker zu leuchten. Ihr Licht breitete sich immer weiter aus und verschluckte die Schwärze einfach, sodass von den dunklen Flammen nichts mehr übrig war, als das Leuchten letztlich wieder erlosch.
Eigentlich wollten wir Father die weiße Energiekugel noch in Form eines Speeres entgegen schicken, aber in dem Augenblick zerbrach diese einfach. Zugleich ging ein schmerzhaftes Pochen durch unseren Körper und wir keuchten erschrocken auf, bevor wir uns beinahe krümmten.
„Das ist also euer Limit“, stellte Xavier mit kalter Stimme fest, „Ein Körper kann niemals zwei Seelen und schon gar keine vier verschiedenen Mächte in sich tragen. Dass ihr euch überhaupt noch bewegen könnt, ist bereits ein Wunder. Auch wenn ihr jetzt die Konsequenzen für euer naives Wunschdenken zu spüren bekommt.“
Wir verzogen das Gesicht – nicht zuletzt auch vor Schmerz – und fassten uns krampfhaft an die Brust. Leider hatte er Recht. Das hier war unsere Grenze, alles Weitere würde uns in Lebensgefahr bringen. Allerdings stand unsere Entscheidung bereits fest. Jetzt war lediglich klar, dass wir nur noch einzige Chance hatten.
„Und?“, erwiderten wir mit einem düsteren Lächeln, „Das heißt nur, dass wir es mit dem nächsten Angriff zu Ende bringen müssen. Also wo liegt das Problem?“
Wäre er nicht in seinem ernsten Zustand, hätte er mit Sicherheit etwas erwidert wie, dass wir ihm damit die Arbeit abnehmen würden uns zu töten. Aber er blieb ernst und erwiderte unseren Blick einen Moment lang. Dann streckte er seine rechte Hand zur Seite und hinter ihm erschienen überall auf einmal wieder diese seltsamen Löcher oder Portale, wobei die hier aber nicht schwarz, sondern schneeweiß waren. Aus ihnen heraus schwebten wie in Zeitlupe unzählige Schwerter, Lanzen, Messer, Speere und noch einige weitere Stichwaffen. Was sie alle gemeinsam hatten, war jedoch die düstere, pechschwarze Farbe, die von den weißen Löchern umso deutlicher hervorgehoben wurde.
Wie Trommelwirbel erklangen nun östlich, unmittelbar hinter dem ehemaligen Nemesisanführer, heftige Donnerschläge und Blitze zuckten durch die dunklen Wolken. Die Luft knisterte vor Spannung beinahe und es war als hielte die Welt den Atem an. Der Wind war eingeschlafen und es war kein Geräusch mehr zu hören, als wären wir hier oben völlig alleine auf dieser Welt.
Jedoch würden wir nicht zulassen, dass es wirklich so weit kam und alle ausradiert wurden.
Sylia und ich streckten unsere Arme gerade zur Seite und schlossen die Augen. Der seidene Vorhang über dem alten Wissen regte sich leicht und wir zogen ihn sanft zur Seite. Leises Gemurmel in der alten Sprache der Rei kam über unsere Lippen und hallte trotz der geringen Lautstärke magisch wieder.
Feuer, Wasser, Blitze und Wind erschienen frei in der Luft und wanden sich eigenwillig. In einem seltsamen Spiel aus Licht und Schatten tänzelten die vier Mächte umeinander und kamen dabei langsam in Einklang. Sie waren sich nicht immer einig und stritten gerne mal miteinander, aber wenn es ernst wurde, hielten die vier zusammen wie keine anderen. Genau wie Yasmine, Caroline, Nemu und ich.
Wind und Wasser, Feuer und Blitze begannen nun in eine Richtung zu zirkulieren und umkreisten mich in weitem Radius. Auf ein bestimmtes Wort hin verließen sie ihre Bahnen jedoch und kamen auf mich zu. Ein Stück über meinem Kopf begannen sie sich zu einer bunten, ständig die Farbe wechselnden Energiekugel zu bündeln. Immer mehr Kräfte flossen in sie hinein und obwohl ich merkte, wie Xaviers Vorbereitungen für den entscheidenden Angriff sich dem Ende neigten und ich von diesen weißen Löchern mit tausenden von schwarzen Waffen umgeben war, ließ ich mich nicht aus der Ruhe bringen.
Schließlich waren sämtliches Feuer, Blitze, Wind und Wasser alle in der fußballgroßen Kugel verschwunden und damit auch meine Vorbereitungen abgeschlossen.
„Stirb“, sagte Xavier und schwang seine zur Seite gestreckte Hand nach vorne, woraufhin die unzähligen Waffen alle wie ein spitzer Nadelregen von allen Seiten auf mich zuflogen und in einem unheimlichen, dunkelvioletten Licht zu leuchten begannen.
„Nicht vor dir“, erwiderten Sylia und ich aber und streckten auf einen Schlag die Hände nach oben.
Die zuvor noch unentschlossen immer wieder farbwechselnde Energiekugel erstrahlte nun in allen Farben des Regenbogens. In ihrer Mitte bildete sich ein Loch und sie weitete sich aus, bis sie wie ein Ring um unsere Hände schwebte. Als wir unsere Arme nun wieder nach unten bewegten, bis sie waagerecht nach rechts und links zeigten, sank auch der Ring weiter herunter bis auf diese Höhe und weitete sich dabei aus, sodass er problemlos mit gut einem Meter Abstand um uns herum schwebte.
Der dunkle Regen hatte uns beinahe erreicht und wie von fern hörten wir verzweifelte Stimmen etwas schreien, was keine von uns verstand.
In dem Augenblick aber breitete sich der Ring plötzlich auf einen Schlag aus, bis er einen Durchmesser von mindestens fünfzig Metern hatte, und wuchs auf eine Breite von bestimmt über einem Meter an. Unsere gesamte Kraft als Nemesis, Rei und Wächterin steckte in ihm und strömte nun in Form von unglaublich hellem und kraftvollen Licht nach draußen, um der Zerstörung durch Father und die Nemesis ein für alle Mal zu beenden. Wie die Sonne sollte es die ganze Welt erleuchten und die dunklen Schatten – welche Formen auch immer sie angenommen hatten – vertreiben, damit endlich wieder Friede einkehren konnte.
Sylia und ich schrien beide vor Schmerz auf – unser Körper hielt dieser enormen Kraft einfach nicht mehr stand –, doch noch ein letztes Mal bissen wir die Zähne zusammen und streckten eine Hand nach vorne in die Richtung von Xavier, der im Gegensatz zu uns während diesem Licht vollkommen blind war. Um unser Handgelenk leuchtete ein kleiner, regenbogenfarbener Ring auf und drehte sich leicht. Es folgte aus diesem Ring heraus ein kleiner Kristall in Form eines Caros, der direkt vor unserer Handfläche schwebte. In seinem Kern entflammte ein schwarz-weißes Licht und schoss in der nächsten Sekunde schon in Form eines letzten, gewaltigen Energiestrahls auf den ehemaligen Nemesisanführer zu.
Dieser drehte zwar noch in letzter Sekunde den Kopf und schien den Angriff zu erahnen, doch dieses Mal wurde er so hart getroffen, dass er keine Möglichkeit zum Fliehen hatte. Ein entgeisterter Schrei kam ihm noch über die Lippen, dann löste er sich in Nichts auf und der Strahl erlosch.
Schwarze Punkte glitzerten vor unseren Augen – den Schmerz in unserem ganzen Körper nahmen wir nur noch als dumpfes Pochen wahr – und mit einem matten Lächeln glitten wir in die Bewusstlosigkeit, von der wir schwer vermuteten, dass sie nicht nur von kurzer Dauer sein würde.
Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich mich verwirrt um. Die Umgebung war durchgehend von einem tiefen, dunklen Blau und lauter weiße Punkte leuchteten in der Ferne, fast wie der Nachthimmel mit seinen Abermillionen von Sternen. Dieser Anblick irritierte mich ungemein, denn er passte so gar nicht zu allem, was ich erwartet hatte.
„Samantha.“
Überrascht drehte ich mich um und erblickte Sylia, die nur zwei Meter hinter mir stand.
„Hast dich ganz schön gut geschlagen, für eine Rei“, bemerkte die Nemesis mit einem vielsagenden Grinsen.
„Wo sind wir?“, fragte ich allerdings verwirrt.
Einen Moment lang sah sie mich noch leicht überheblich an, dann verschwand das Grinsen aus ihrem Gesicht und sie seufzte. „Sieh es als Vorstufe zum Tod“, antwortete sie, „Wie Xavier schon richtig gesagt hat, kann ein Körper niemals vier Mächte auf einmal kontrollieren – und schon gar nicht so übermächtige wie die Kräfte der Wächterinnen. Auch die Seele hält so etwas nicht aus und der Preis für einen solchen Akt ist der Tod des Anwenders.“
„Also wie wir erwartet haben“, stellte ich mit einem matten, leicht gequälten Lächeln fest. Wie gerne hätte ich die anderen wenigstens noch einmal wieder gesehen. Nein, nicht nur einmal, so bescheiden und selbstlos war ich nicht. Ich wollte die vier Brüder, Elisabeth und all die anderen noch viele Male wiedersehen und mit ihnen reden und lachen und streiten. Ich wollte noch nicht sterben.
„Lebe“, sagte Sylia auf einmal und verschränkte die Finger ihrer Linken mit meinen, während sie ihre andere Hand auf den oberen Teil meines Brustbeins legte, „Der Preis ist ein Leben und wir haben beide diese Kraft verwendet, also ist es gleich, wer dafür aufkommt.“
Langsam zog sie ihre Rechte wieder zu sich und vor ihr schwebten auf einmal die vier kleinen Kugeln mit dem Feuer, Wind, Wasser und Blitzen. Jedoch hatten alle vier Gefäße bereits starke Sprünge und drohten jeden Moment auseinander zu brechen.
„Fühl dich gefälligst geehrt“, fügte Sylia noch mit einem frechen Grinsen hinzu, „Das würde ich nämlich nicht für jeden machen, aber ich mag dich und werde deshalb eine Ausnahme machen. Sei dankbar dafür, du naives Mädchen.“
Ich starrte sie ungläubig an und wollte etwas erwidern, doch da begannen die vier Kugeln plötzlich leicht zu leuchten und die ersten kleinen Stücke brachen aus den Hüllen.
„Sylia, nicht!“, rief ich erschrocken und wollte die Kugeln fortschlagen, doch just in dem Augenblick ließ die Nemesis meine Hand los und wich vor mir zurück. Ich versuchte noch sie festzuhalten, aber ich griff knapp ins Leere.
„Lebe ein erfülltes Leben, Samantha“, sagte Sylia lächelnd, „Auch für mich mit…“
Die Hüllen um die Kräfte der vier Wächterinnen zerbrachen und auf einen Schlag war alles in gleißendes Licht getaucht. Verzweifelt tastete ich blind umher und rief den Namen der Nemesis, doch etwas sagte mir, dass es zu spät war. Es kam mir so vor als würde sich alles drehen und in einem plötzlichen Schwindelanfall verlor ich erneut das Bewusstsein.
„Wer.. bin ich…?“ Diese Frage geisterte mir als erstes durch den Kopf, als ich zu mir kam. Ich fühlte mich unglaublich müde, hatte aber keine Ahnung wieso. Am liebsten hätte ich die Augen einfach wieder geschlossen und geschlafen, doch dieses unwirkliche, weißgraue Licht blendete. Ich fühlte mich unwohl, war aber zu schwach, um überhaupt nachsehen zu können, wo ich mich befand. Alles, was ich wusste, war.. nichts. Mein Kopf war leer, wie ein schwarzes Loch oder ein Fass ohne Boden.
Eine Weile lang trieb ich einfach nur so dahin und fragte mich, wie ich wohl hierhergekommen war. Ich konnte auch nicht sagen, wie viel Zeit verging. Gab es hier überhaupt so etwas wie Zeit? Wer war ich bloß und was hatte ich getan, um an einem Ort wie diesen zu kommen?
Dann spürte ich von oben auf einmal so etwas wie Wärme und gleißende Sonnenstrahlen schienen auf mich herab.
Irritiert blickte ich hinauf und kniff die Augen zusammen, entdeckte nach einigen Sekunden aber weiter oben ein junges, vielleicht dreizehnjähriges Mädchen mit knapp schulterlangen, dunkelblonden Haaren und peridotgrünen Augen. Das elegante, rot-goldene Kleid flatterte leicht, als es mit seinen sechs golden schimmernden Flügeln langsam herunter kam und eine Hand nach mir ausstreckte. Und obwohl ich mich nicht erinnern konnte, kam mir das Mädchen irgendwie bekannt vor. Einen Augenblick lang sah ich die mir entgegengestreckte Hand nachdenklich an, dann hob ich zögerlich meine Hand.
Das junge Mädchen lächelte matt und als unsere Hände sich berührten, leuchteten auf einmal ihre goldenen Flügel auf und ich musste die Augen zukneifen.
„Sie lebt“, sagte Elisabeth, als sie aufhörte von innen heraus zu glühen und ihre Hand von meiner Stirn nahm, „Aber mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie ihre Erinnerungen eingebüßt haben. Es ist ein Wunder, dass sie nach diesem Angriff überhaupt noch lebt. Wir sollten also froh sein, wenn sie nur.. alles vergessen hat.“
„Solange sie lebt, ist alles in Ordnung“, erwiderte Mikhail, der mich auf den Armen hatte und meinen geschundenen, flügellosen Körper ansah. Es war ihm jedoch anzuhören, dass ihm dieses ‚nur alles vergessen‘ trotz allem nicht gefiel.
„Ich wünsche mir auch, dass sie einfach sie selbst sein wird und alles so wird wie zuvor“, bemerkte die Prinzessin mit leicht gequältem Gesichtsausdruck, „Aber daran können auch meine magischen Künste nicht drehen. Wir können leider nicht damit rechnen, dass es so sein wird. Ich denke nicht, dass sie sich an irgendeinen von uns erinnern können wird oder generell an etwas von hier.“
Der Älteste nickte lediglich und auch seine drei Brüder blickten betrübt und frustriert zugleich drein.
In dem Augenblick kam ich jedoch langsam wieder zu mir. Ich hörte Stimmen und als ich meine Augen für einen kurzen Moment öffnete, konnte ich auch das markante Gesicht eines jungen Mannes mit kurzen, knallblonden Haaren und ozeanblauen Augen sehen, doch nichts kam mir wirklich bekannt vor. Noch immer herrschte gähnende Leere in meinem Kopf und ich begann mich zu fragen, ob das wohl ewig so bleiben würde.
Da mir komischerweise irgendwie der Nacken steif wurde, neigte ich den Kopf leicht zur Seite, um es mir wenigstens etwas bequemer zu machen. Dabei hörte ich jedoch auf einmal ein ganz leises Klingen. Es war zwar relativ hell, doch es erinnerte mich an den Klang einer Glocke, und nun spürte ich auch das seidene Band um meinen Hals.
Vor meinem inneren Auge sah ich, wie der junge Mann, der mich gerade wie eine Prinzessin in den Armen hielt, mit einem Mädchen mit langen, dunkelbraunen Haaren redete und währenddessen ziemlich resigniert wirkte. Zuletzt holte er aber etwas aus seiner Hosentasche und band es dem Mädchen um den Hals. Dieses runzelte verwirrt die Stirn und schien etwas zu fragen, wobei ich ein rotes Halsband mit kleiner, goldener Glocke an seinem Hals entdeckte, das dort zuvor nicht gewesen war.
Überrascht schlug ich die Augen auf und starrte den Mann verdattert an, der im ersten Moment fast genauso verblüfft aussah wie ich. Im nächsten Moment hatte er sich aber schon wieder gefangen und blickte ernst drein, wobei ich ihm die unterdrückte Betrübung dennoch deutlich ansehen konnte.
„Mik…“, murmelte ich lediglich und fasste mir an den Hals, wo ich tatsächlich das Glöckchenhalsband ertastete. Aber verpasste man solche Halsbänder nicht eigentlich nur draußen rumlaufenden Katzen? Und überhaupt, er hatte mir damals also tatsächlich etwas um den Hals gebunden!
Mikhail sah mich völlig verblüfft an und schien es einige Sekunden lang gar nicht glauben zu können. Dann hellte sich sein Gesicht aber endlich auf und er seufzte erleichtert auf. „Du dumme Göre…“, flüsterte er und beugte sich vor.
Meine Augen weiteten sich, als er mich plötzlich direkt auf die Lippen küsste. Dabei war er aber nicht etwa zurückhaltend, nein, er küsste mich mit solch einer Leidenschaft, dass mir glatt die Knie weich geworden wären, hätte ich auf meinen Füßen gestanden. Allerdings wurden mir dafür die Augenlider schwer, als er mich an sich drückte, und obwohl ich eigentlich hätte versuchen müssen, mich irgendwie aus dieser Situation zu befreien, konnte ich es nicht.
Im Gegenteil, die Gefühle und Gedanken, die ich sonst so schön ins hinterste Eck meines Hirnkastens verbannt hatte, kamen jetzt fröhlich hervorgesprungen und tanzten ausgelassen umher. Mein Herz schlug bald einen Purzelbaum nach dem Nächsten und ich konnte einfach nicht anders, als mit einer Hand durch seine schönen, trotz Kampf noch immer seidenweichen Haare zu fahren und den Kuss zu erwidern. Du verdammte Liebe, ich verfluche dich. Über dich zu schreiben war ja eine Sache, aber dich am eigenen Leib zu erfahren, haute ja selbst den größten Elefanten aus den Latschen.
Ich spürte, wie Mikhail mich auf meine Reaktion hin nur noch enger an sich drückte und scheinbar nicht mal daran dachte, sein Tun so bald zu beenden.
Nach einigen Sekunden war nur ein erstauntes Pfeifen zu hören und Tinto räusperte sich verhalten.
Daraufhin erstarrte ich augenblicklich zur Salzsäule. Mir war doch glatt entfallen, dass da auch noch die anderen waren. So ein verfluchter Mist!
„Wow…“ Das kam von Elisabeth. „Mikhail, ich wusste gar nicht, dass du mittlerweile auch auf dem Gebiet deine Erfahrungen gesammelt hast.“
Der Älteste der vier Brüder löste sich nun endlich wieder von mir und unterdrückte eindeutig ein kräftiges Lachen – dessen Auslöser wohl unter anderem mein knallrotes Gesicht sein dürfte, auf dem man im Augenblick wahrscheinlich auch gut Spiegeleier braten könnte.
„Ja, während meines Aufenthalts habe ich viele Erfahrungen gesammelt“, grinste er, „Aber keine Sorge, ich habe nicht die ganze Zeit nur rumgespielt.“
„Ansonsten würde ich mir auch Sorgen machen, was die Zukunft von Reilong angeht, bei deiner Position“, bemerkte die Prinzessin und verschränkte die Arme vor der Brust.
Er erwiderte lediglich keck ihren strengen Blick.
„Würde es dir etwas ausmachen, mich runterzulassen?“, fragte ich allerdings und versuchte dabei so genervt sie nur möglich zu klingen.
Mein Träger sah mich daraufhin nur mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Willst du das wirklich?“, fragte er mit einem vielsagenden Grinsen.
„JA!“, rief ich aufgebracht und strampelte mit den Beinen, woraufhin er bloß anfing zu lachen.
„Ich wäre auch dafür, dass du sie wieder runter lässt“, bemerkte Luke so ganz nebenbei.
„Das war ja mal was, Brüderchen“, stellte Ravi noch leicht verblüfft fest, „So was hab ich bei dir ja noch nie gesehen.“
„Tu uns allen aber einen Gefallen und übertreib es nicht“, warf Tinto leicht genervt ein.
Der Angesprochene schüttelte lediglich leicht den Kopf und schmunzelte vor sich hin, während ich immer noch auf seinem Arm vor mich hinschmorte und beleidigt die Arme verschränkte, weil der Kerl jegliche meiner Befreiungsversuche einfach ignorierte. Mochte ja sein, dass ich in ihn verknallt war, aber es ihm unter die Nase reiben oder es gar offen zeigen, stand für mich noch lange nicht zur Debatte. Außerdem fragte ich mich, warum er das eigentlich getan hatte. Für ihn war ich doch kaum mehr als ein Grünschnabel.
In dem Augenblick spürte ich, wie er mich auf einmal wieder dichter an sich zog und sich erneut nach vorne beugte. Er sah mich mit seinen wunderschönen, tief blauen Augen so eindringlich an, dass ich das Gefühl hatte, dass er bis auf den Grund meiner Seele blickte.
„Ich liebe dich“, flüsterte er so leise, dass ich es fast nicht verstanden hätte.
Seine Worte klangen jedoch dermaßen ehrlich und gefühlvoll, dass ich prompt schon wieder knallrot anlief. Wie schaffte dieser Kerl es bloß mein Herz so stark hämmern zu lassen? Ich würde diese Liebe nie begreifen. Alles, was ich wusste, war, dass ich bis über beide Ohren in ihn verliebt war und er meine Gefühle anscheinend sogar erwiderte. Ich war völlig von der Rolle und hatte absolut keine Ahnung, was ich jetzt machen sollte!
„Was haben wir gerade gesagt?“, fragte Tinto genervt, dessen linkes Auge leicht zuckte.
Luke wirkte auch nicht allzu begeistert, während Ravi eher neugierig zuschaute und versuchte zu lauschen.
„Also lebst du tatsächlich noch“, stellte Nina fest, die plötzlich mit Raven zusammen neben uns auftauchte.
Ich sah sie leicht überrascht an, musste aber sofort an diejenige denken, der ich mein Leben zu verdanken hatte. So nickte ich lediglich mit einem matten Lächeln.
Das Nemesismädchen stöhnte auf meinen Blick hin und stemmte die Hände in die Hüften. „Ehrlich mal, Sylia hat den Preis nicht für dich gezahlt, damit du jetzt vor lauter Selbstvorwürfen den Kopf hängen lässt. Dass ausgerechnet sie das getan hat, muss heißen, dass sie wirklich viel von dir hält und will, dass du ein glückliches Leben führst. Also wenn du dir schon Vorwürfe machst, dann sei gefälligst so aufrichtig und lass ihr Opfer nicht umsonst gewesen sein und werd verdammt nochmal glücklich.“
Mein verblüffter Blick musste gut ausgesehen haben. Die Männer um uns herum waren im ersten Moment noch misstrauisch gewesen, als Nina dazu gestoßen war, aber nun wirkten sie beinahe schon erstaunt und schienen ihren Argwohn abgelegt zu haben.
„In Ordnung“, sagte ich schließlich und lächelte richtig, „Ich werde ihres und auch die Opfer von all den anderen nicht umsonst sein lassen.“
„Gut“, schnaubte Nina lediglich. So ganz schien sie mich noch nicht leiden zu können, aber hassen tat sie mich anscheinend auch nicht. Schon wieder so eine seltsame Beziehung, wie ich sie hier mit vielen hatte. Mit Freunden und auch mit ehemaligen Feinden.
„Apropos“, mischte sich nun Elisabeth mit ein, „Wir haben noch eine ganze Menge zu tun.“
Die vier Brüder sahen sie daraufhin an und nickten verstehend.
„Wir müssen die Bevölkerung von Reilong allmählich mal darüber aufklären, was hier seit den letzten einundzwanzig Generationen abgelaufen ist“, bemerkte Tinto.
„Die Verletzten müssen versorgt werden und die Gefallenen ihre letzte Ehre erhalten“, fügte Luke hinzu.
„Die versprochene Ehrung für die besten Krieger dieser letzten Schlacht muss auch abgehalten werden“, warf Ravi mit einem kecken Grinsen ein.
„Und wir müssen unbedingt mit den Nemesis reden“, stellte Mikhail fest, „Auf Reilong sollte genügend Platz für uns alle sein, jetzt wo wir keine Feinde mehr sind. Auch wenn wir wahrscheinlich erst mal noch eine ganze Reihe von Verhandlungen halten müssen, wie wir das am besten umsetzen, sofern die Nemesis überhaupt einverstanden sind.“
Er, die anderen drei und Elisabeth blickten beinahe synchron zu den beiden Nemesis, die uns am nächsten waren.
Die beiden wirkten ein klein wenig verblüfft, doch sie überspielten es schnell wieder.
„Ich denke, dass das wohl die beste Lösung ist“, sagte Nina nach kurzem Überlegen, „Unser Fantisma ist dank Xavier sowieso vollkommen zerstört, selbst wenn es nicht abgestürzt wäre. Es dürfte für uns auf jeden Fall am besten sein, solange euer Volk nichts dagegen einzuwenden hat.“
„Das wird zwar einiges an Aufklärung fordern, aber wenn wir zusammen arbeiten, sollte es zu schaffen sein, allen die Wahrheit klarzumachen“, sagte Elisabeth zuversichtlich, „Euch beide würde ich auf jeden Fall gerne als Berater haben und später in höhere Positionen einsetzen, wenn ihr zustimmt.“
Dem Nemesismädchen blieb vor Überraschung für einen Moment sogar der Mund offen stehen. Allem Anschein nach hatte sie damit nun nicht gerechnet.
Raven hingegen zuckte mit den Schultern. „Sofern keiner etwas dagegen einzuwenden hat, würde es mir nichts ausmachen.“ Dabei blickte er vor allem zu Mikhail.
Dieser erwiderte einige Sekunden lang eher ablehnend seinen Blick, ehe er schließlich seufzte. „Ich denke, ich sollte hier meine Vernunft und nicht mein Herz sprechen lassen. Sie eignen sich wahrscheinlich gut für die Position, von daher kann ich kaum etwas dagegen einwenden.“
Der fünfte Kommandeur lächelte. „Keine Sorge, ich werde dir noch Gelegenheit geben, mir in einem richtigen Kampf die Hölle heiß zu machen, wobei ich mich natürlich auch nicht zurückhalten werde.“
„Sonst wäre es auch keine richtige Rache“, erwiderte Mikhail. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er allmählich mit der Sache abschloss und nicht mehr nur purer Hass in ihm wallte, wenn er Raven sah.
„Wenn wir das dann geklärt hätten, sollten wir wohl zurückkehren“, bemerkte Elisabeth mit einem frohen Lächeln, „Wir werden schließlich schon erwartet.“
Es dauerte einige Wochen, aber schließlich kehrte wieder Ruhe ein. Die Rei waren, nachdem sie die Wahrheit erfahren hatten, natürlich erstmal alle geschockt gewesen und hatten nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollten. Aber da die Nemesis, trotz ihrer eher derben Charakter, sich sehr entgegenkommend und verständnisvoll gezeigt hatten, verstanden die Rei schließlich, dass sie wirklich keine Feinde mehr waren. So kehrte nach diesem langen Krieg endlich der Friede ein.
Alle gingen ihren gewohnten Aufgaben nach und nachdem jetzt allmählich der Alltag der Rei – und Nemesis – einkehrte, musste ich seit langem mal wieder an zu Hause denken. Wie es meinen Eltern, Schulkameraden uns sonstigen Bekannten wohl ging? Theoretisch gesehen sollte alles gut sein, da laut Elisabeth nach der ausgetragenen Schlacht auch meine Heimatwelt langsam wieder ins Gleichgewicht zurückfand. Abgesehen davon kam es mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
„Dein Gesicht sagt mir, dass du mal wieder nach Hause willst“, bemerkte Mikhail, als er von einigen Zetteln in seiner Hand aufsah.
„Bist du dir sicher, dass du keine Gedanken lesen kannst?“, fragte ich resigniert.
„Ich kenne dich einfach nur sehr gut“, erwiderte er schmunzelnd und legte die Zettel auf seinen Schreibtisch, „Aber ich glaube, ich sollte den Leuten vom Verlag auch mal wieder Hallo sagen. Die haben mit Sicherheit schon wieder einen ganzen Berg Manuskripte angehäuft und sind völlig überfordert.“
Ich sah ihn leicht verdutzt an. „Du willst mit?“
„Natürlich“, antwortete der Gute, „Ich kann die Wächterin von Reilong doch nicht ohne Geleitschutz gehen lassen.“
„Du hast doch ein Rad ab. Und bloß weil Lisa mich so genannt hat, musst du es nicht auch tun.“
„Also kann ich es weiterhin bei ‚dummer Göre‘ belassen“, murmelte er leise, aber so, dass ich es locker hören konnte, „Passt sowieso viel besser.“
„Hey“, knurrte ich, „Treib´s nicht zu weit.“
Mikhail kicherte lediglich in sich hinein und grinste.
„Aber in dem Fall habe ich gleich ein Attentat auf dich“, fügte ich hinzu.
„Ich soll dir nicht mehr von der Seite weichen, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit?“
„Davon träumst du wohl!“, rief ich entgeistert.
„Dich zu einem Date im Freizeitpark einladen?“
„Nein verdammt!“ Ich war schon wieder rot angelaufen, weil es diesem verfluchten Idioten in letzter Zeit mehr und mehr Spaß zu machen schien, mich mit solch dummen Sprüchen zu ärgern. „Ich will die Geschichte von Reilong aufschreiben und als nächsten Roman veröffentlichen!“
Kurz sah er mich leicht überrascht an, doch dann wirkte er so, als hätte er sich das schon denken können. „Stimmt, es würde bestimmt eine klasse Fantasiegeschichte abgeben. Stellt sich nur die Frage, ob du sie auch gut und fesselnd aufschreiben kannst.“
„Darauf gebe ich dir mein Wort“, sagte ich mit einem sicheren Lächeln, „Ich werde ‚Die Wächterinnen von Reilong‘ zu einem der erfolgreichsten Romane aller Zeiten machen.“
„Dagegen habe ich nichts einzuwenden“, bemerkte Elisabeth, die plötzlich in der Tür stand und scheinbar schon mitgehört hatte, „Aber ändere den Titel in ‚die Wächterin von Reilong‘, denn ohne dich wäre Reilong mit Sicherheit untergegangen.“
„Äh.. bist du sicher?“, fragte ich verblüfft. So eine wichtige Rolle hatte ich doch gar nicht gespielt, als dass dieses Buch meinen Titel tragen sollte. Die anderen drei waren schließlich auch noch da gewesen und hatten gekämpft, um Reilong zu retten.
„Der Meinung bin ich auch“, schmunzelte Mikhail, „Denn ohne deine Freundinnen hätten wir zwar mehr Leute verloren, aber ohne dich hätten wir alles verloren. In diesem Kampf war es dein Handeln, das alles entschieden hat. Daher denke ich, dass dies der beste Titel ist.“
„Und wir ebenfalls!“, grinste Ravi, der in dem Moment wie ein munteres Känguru um die Ecke gesprungen kam. Ihm folgten auch Luke und Tinto, die allerdings weit weniger stürmisch waren.
„Hah…“ Ich sah sie alle nur schief an. „Wenn ihr unbedingt meint…“
„Apropos“, überlegte der Älteste der vier laut, „Wenn wir zurückgehen, werde ich kaum alleine auf diesen Floh aufpassen können. Besser wir nehmen euch noch mit.“
„Hä?“ Tinto sah ihn ungläubig an. „Wir waren noch nie dort und außerdem können wir doch nicht alle vier einfach unsere Arbeit hier einfach liegen lassen. Du kannst meinetwegen gehen, aber wir…“
„Kein Wenn und Aber“, schnitt Mikhail ihm das Wort ab, „Wozu haben wir die Nemesis denn in den letzten Wochen ausgebildet, wenn sie mit den anderen Rei zusammen nicht mal in der Lage sind für ein paar Tage das bisschen Arbeit zu erledigen.“
„Aber…“, setzte Tinto an.
„Das heißt, wir reisen in die andere Welt?!“, fragte Ravi mit glänzenden Augen, „Das wird mit Sicherheit ein riesen Spaß!“
„Deine Lanze lässt du aber hier“, warf ich ein, wobei ich irgendwie grinsen musste. Denn die drei würden nicht auf mich aufpassen, sondern eher andersherum. Immerhin kannten sie meine Welt nicht und von daher mussten Mikhail und ich wohl eher darauf aufpassen, dass sie nicht verloren gingen oder sonst was anstellten. Aber wenn dieser Idiot seinen kleinen Brüdern auch mal die andere Welt zeigen wollte, was sollte ich da schon sagen? Ich war nur gespannt darauf ihre Gesichter zu sehen, wenn sie das erste Mal Autos, riesige Kaufhäuser, Kinos und so viel anderes sahen. Das wurde mit Sicherheit lustig.
„Das ist doch deine Heimat, oder?“, fragte Luke mich von der Seite, „Du musst uns auf jeden Fall rumführen.“
Ich sah ihn etwas verdutzt an, nickte dann aber lächelnd.
„Aber…“, setzte Tinto erneut an und ließ die Schultern hängen, wobei sogar seine Brille etwas verrutschte, die dank der Prinzessin inzwischen wieder heil war. Auch wenn er sie im Grunde gar nicht mehr brauchte, da so bald keine Kämpfe mehr anstanden.
„Nur zu“, sagte Elisabeth und hob ihre rechte Hand, „Ein wenig Urlaub wird euch nach der langen Zeit guttun. Und keine Angst, Tinto, ich kriege die anderen auch ohne euch vier zum Arbeiten.“
Damit schnippte sie mit den Fingern ihrer erhobenen Hand und auf einmal hatten wir alle fünf, die wir in Mikhails Büro standen, andere Klamotten an. Wohl bemerkt aber Kleidungsstücke, wie man sie in meiner Welt trug, weshalb ich die Prinzessin verblüfft ansah.
„Na? Hab ich gut getroffen, Samantha?“, fragte diese grinsend.
Irgendwie musste ich bei ihrem frechen Gesichtsausdruck ebenfalls grinsen und blickte zu den vier jungen Männern, die noch etwas verdutzt aus der Wäsche schauten. Mikhail eher weniger, der war diese Kleidung ja gewöhnt, aber die anderen drei blickten etwas irritiert an sich herunter. Dabei fiel mir aber zum ersten Mal bewusst auf, wie bildschön sie eigentlich aussahen – sie alle hatten erhabene und unwiderstehliche Auren, die von ihren fast perfekten, männlichen Figuren und markanten Zügen untermahlt wurden.
Mikhail mit seinen leicht zerzausten, hellblonden Haaren und den unergründlich tiefen, ozeanblauen Augen. Das beige Oberhemd und die dunkelblaue Jeans ergänzten seine Vorzüge, genau wie der elegante, goldene Ohrring in seinem linken Ohrläppchen.
Tinto mit seinen fast schulterlangen, rotbraunen Haaren und den dunkelgrauen Augen trug nach wie vor seine sportliche Brille, dazu aber nun einen dünnen, hellgrauen Pullover und eine schwarze Hose samt schicken braunen Gürtel. Auch wenn er seinem resignierten Gesichtsausdruck nach zu urteilen nicht sehr begeistert über die neue Ausstattung war.
Lukes glatte, flachsfarbene Haare glänzten wie immer und bildeten einen hübschen Kontrast zu seinen purpurnen Augen. Dazu passend trug er nun ein weißes Hemd mit purpur-weißem Karomuster und dünnen schwarzen Streifen noch dazwischen und eine dunkelviolette Hose. Bei der kleinen, weißen Katze auf seinem Arm musste ich unwillkürlich lächeln.
Ravis leuchtend rote Haare waren durcheinander wie eh und je und seine gelben Augen strahlten frech. Er trug ein ebenfalls gelbes T-shirt mit bunter Aufschrift und eine dunkelbraune Hose, wobei beide Kleiddungsstücke an den Enden etwas ausgefranst waren.
Elisabeth hatte wirklich gut getroffen, das musste ich ihr lassen.
„Na dann, grüß deine Familie schön von mir“, sagte die Prinzessin schmunzelnd und streckte eine Hand zur Seite, woraufhin unter unseren plötzlich ein weiß glänzendes Portal aufleuchtete.
„HÄ, JETZT?!“, fragte Tinto noch völlig entgeistert, doch da versanken wir schon alle in dem weißen Licht und standen im nächsten Moment im Hausflur eines achtstöckigen Hochhauses, direkt vor der Tür zu meiner Wohnung. Er, Luke und Ravi sahen sich augenblicklich verdutzt um, während Mikhail bloß den Kopf schüttelte.
„Das sieht ihr wieder ähnlich“, murmelte er und sah mich an, „Willst du nicht klingeln?“
„A-Aber…“ Für mich war das auch ein bisschen plötzlich, aber andererseits hatte ich meine Familie schon so lange nicht mehr gesehen, dass ich es kaum mehr abwarten konnte. Also drückte ich kurzerhand einfach den Klingelknopf und wartete mit klopfenden Herzen.
„Alles wird gut“, bemerkte Mikhail schmunzelnd, „Wir sind ja auch hier.“
„Wenn auch unfreiwillig“, nörgelte Tinto, der wohl ein wenig eingeschnappt war und sich argwöhnisch umsah, ganz als könnte ein Feind hinter der nächsten Ecke hervorspringen.
„Hör nicht auf ihn“, flüstere Luke, der mir auf einmal von hinten eine Hand auf die Schulter legte und mich auf die Wange küsste.
Ich war natürlich völlig überrascht und verwirrt zugleich.
„Hey, ich will auch!“, rief Ravi in dem Moment auch noch und umklammerte mich von der anderen Seite.
Häh? Was war denn jetzt schon wieder in die beiden gefahren?
„Hey, hey, vergesst nicht, wem die dumme Göre hier gehört“, warf Mikhail resigniert ein und legte einfach von hinten einen Arm auf meinem Kopf ab, „Übertreibt es nicht.“
„Würdet ihr euch alle drei wohl endlich mal benehmen!“, rief Tinto von der Seite und versuchte zumindest Ravi wieder von mir wegzuziehen, woran er allerdings kläglich scheiterte.
In dem Augenblick ging die Haustür vor uns auf und meine Eltern, die den Lärm wohl schon gehört hatten, starrten uns völlig ungläubig an.
Bei ihren Gesichtsausdrücken musste ich anfangen zu lachen, aber vor Freude kamen mir gleichzeitig doch glatt die Tränen und ich brachte nur ein „Ich bin wieder zu Hause“ hervor. Auch wenn ich im Prinzip sagen müsste, dass ich bei meinem ersten Zuhause war, denn Reilong war mittlerweile meine zweite Heimat, zu der ich in Zukunft bestimmt auch immer mal wieder hinreisen würde.
Einige Jahre später schien an einem schönen Sommertag die Sonne gleißend vom Himmel herab und auf einer kleinen Lichtung inmitten eines großen Waldes saß ein Mann mittleren Alters auf einem umgeknickten Baumstamm. Seine langen, flachsfarbenen Haare waren zu einem lockeren Zopf zusammengebunden und seine goldenen Augen waren nach unten gerichtet, wo ein Buch auf seinem Schoß lag. In dem Augenblick blätterte er die letzte Seite um und klappte das Buch zu, auf dessen Einband in geschwungenen, goldenen Buchstaben ‚Die Wächterin von Reilong‘ stand.
Mit einem leichten Lächeln blickte der Mann nach oben, wo er zwischen den Baumkronen hindurch den schöne, blauen Himmel mit einigen Schäfchenwolken sah.
„Das habt ihr gut gemacht“, sagte er leise, „Ich bin stolz auf euch, meine Söhne. Und auch auf dich, meine geliebte Lisa. Wir haben uns wirklich schon lange nicht mehr gesehen. Vielleicht sollte ich langsam mal nach Hause zurückkehren…“