Die Natur spielt verrückt, ständig gibt es Stromausfälle und Leute verschwinden auf mysteriöse Weise. Auch Samantha, Yasmine, Caroline und Nemu überlegen, was es damit auf sich hat, als sie sich urplötzlich inmitten eines Krieges wiederfinden. Sie werden angegriffen, doch einige junge Männer können sie gerade noch retten. Dabei stellt sich heraus, dass drei von ihnen zu den sagenumwobenen Wächterinnen gehören, die angeblich das im Himmel schwebende Reich Reilong vor der Bedrohung der Nemesis retten sollen. Die Mädchen bis auf Samantha, die keine magischen Kräfte besitzt und anscheinend nur zufällig in diese Parallelwelt hineingezogen wurde, beginnen mit einem harten Training, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Während der Kämpfe bemerkt jedoch ausgerechnet Samantha, dass irgendetwas nicht ganz stimmt. Wieso sind sich die Rei und Nemesis so ähnlich? Was liegt eigentlich hinter den Angriffen auf Reilong? Samantha wird Zeugin eines bereits seit Jahrhunderten andauernden Kampfes, der auch ihr Kummer und Leid bringen wird. Zusammen mit Prinzessin Elisabeth, ihren vier bildschönen Leibwächtern und den Kräften der Wächterinnen kämpft sie jedoch dagegen an und versucht das Schicksal zu verändern. Enthält: PROLOG Kapitel 1: Das Unfassbare beginnt Kapitel 2: Rettung in letzter Sekunde Kapitel 3: hinter den Wolken Kapitel 4: Prophezeihung Kapitel 5: eine Partie Fußball
Normalerweise träumte ich höchstens Schwachsinn. Ich war auch weder gläubig, noch abergläubisch, noch glaubte ich an so etwas wie Visionen. Aber dieser eine Traum war einfach anders als alles, was ich bisher erlebt hatte:
Ich befand mich über den Wolken. Eine hübsche Weiße befand sich direkt unter mir, wenn ich nur ein Stück weiter herabsinken würde, könnte ich sie berühren. Wie sich das wohl anfühlen würde? Ich war glatt versucht es auszuprobieren.
Darunter entdeckte ich jedoch plötzlich die Erde. Ich war zu weit oben, um Genaueres zu erkennen, doch ich wusste trotzdem sofort, dass es sich hierbei um einen Krieg handelte. Zumindest war ich mir dessen sicher. Völlig zerstörte Häuser, verwüstete Landstriche, Feuer an etlichen Stellen und heulende Warnsirenen waren doch die typischen Zeichen eines Krieges, oder?
Auf einmal hörte ich hoch über mir Geräusche, die auf einen Kampf hindeuteten. Als ich den Kopf hob, sah ich lauter Gestalten. Die meisten hatten schwarze Flügel und ich bekam bei ihrem Anblick ein ungutes Gefühl. Sie schienen die anderen anzugreifen, welche Flügel in verschiedenen, leichten Farben hatten und versuchten sich gegen die Übermacht zu verteidigen. Es sah jedoch gar nicht gut aus.
In diesem Augenblick war mir klar geworden, dass dieser Traum anders war. Er war nicht wie der andere Müll, bei dem ich nach dem Aufwachsen nur den Kopf schütteln konnte. Er war komplett anders. Vor allem hatte ich bei den anderen, sobald mir dann aufgefallen war, dass es bloß Träume waren, immer die Kontrolle über mein Tun gehabt und war anschließend aufgewacht, es sei denn ich hatte den Traum noch ein Stück weiter führen wollen. Hier hatte ich aber nicht die geringste Kontrolle, was mir allmählich Angst machte. Was war hier los?
„Sieh genau hin.“
Wenn ich mich hätte bewegen können, hätte ich gezuckt. Die Stimme kam von mir. Von dem Körper, in dem ich mich befand. Allerdings musste ich nun feststellen, dass es gar nicht meiner war. Ich hatte keine gelockten, goldblonden Haare, welche der starke Wind gerade nach vorne blies.
„Die Geschichte wird sich wiederholen“, sagte die mir unbekannte, weibliche Stimme dieses Körpers, „Aber solange die Prinzessin lebt, werden auch die Wächterinnen und ihre Begleiter wiedergeboren. Beschütz mit deinen Kameraden zusammen das letzte Reich hinter den Wolken und bring diesen endlosen Kreislauf endlich zuende.“
Sie – oder ich? – hob erneut den Kopf und erblickte nun plötzlich ein riesiges Stück Land, das jedoch durch den Himmel schwebte. Die Nebel drum herum hatten sich ein wenig gelichtet und die Pracht der antiken Häuser und Paläste war zu sehen. Es war vollkommen unglaublich.
In dem Augenblick hob die Besitzerin dieses Körpers plötzlich die Hand, wobei ich einen zerissenen, weißen Ärmel sah, an einigen Stellen war er vom Blut sogar rot gefärbt. Auch entdeckte ich aus den Augenwinkeln plötzlich schneeweiße Flügel, die aus ihrem Rücken ragten. Ich war völlig verblüfft.
„Die Nemesis werden wiederkommen“, sagte die Stimme leicht betrübt, „Egal wie oft wir uns aufopfern, um das Reich für weitere hundert Jahre zu schützen. Ihr müsst es schaffen ihre Machtquelle zu zerstören, sonst wird es nie ein Ende haben.“
Etwas leuchtete vor ihr auf, direkt über ihrer ausgestreckten Handfläche. Es strahlte in blütenweißem Licht und begann zu blinken. Weiter hinten konnte ich an verschiedenen Stellen auch noch ein rotes, blaues und gelbes Licht pochen sehen. Sie änderten immer wieder etwas den Rhythmus, bis alle gleichzeitig aufleuchteten und wieder erloschen. Das Glühen aller wurde nun um einiges Stärker und ich hörte mir unbekannte Worte mit einem seltsamen Widerhall, als würden sie von einer tiefen Stimme in einer großen Halle gesprochen werden. Dunkle Wolken zogen von allen Seiten auf. Weiter hinten zuckten Blitze, einen Tornado gebildet aus Wasser konnte ich entdecken und wild flackernde Flammen schlugen um sich. Hier direkt um uns herum herrschte ein wahnsinniger Sturm, als würde der Wind auf das Leuchten dieser weißen Kugel reagieren und immer weiter anschwellen.
Doch gerade als ich die Worte von eben begriff, fiel ich plötzlich. Als hätte ich mich auf einmal von der jungen Frau gelöst, die ich noch über mir in der Luft schweben und den vernichtenden Angriff einleiten sah, während ich ungehalten in die Tiefe stürzte. Meine Augen waren vor Schreck geweitet, doch ich brachte noch immer keinen Ton heraus. Das Entsetzen saß mir in den Gliedern, als ich daran dachte, dass sie sich selbst opferte, um dieses schwebende Reich zu retten. Sie und die anderen drei.
Aber wie sie da so in zerrissenen und trotzdem edlen Kleidern, mit großen Flügeln und stolzer Haltung in der Luft schwebte, sah sie aus wie ein kriegerischer Engel. Stark, mutig, entschlossen und dabei schöner als jede Märchenprinzessin. Ich konnte nicht anders als sie zu bewundern.
„Hey, gib das Telefon her!“, rief Caro und ich hörte ein Poltern am anderen Ende der Leitung, gefolgt von einem lauten „Au“ von dem temperamentvollen Mädchen. Anscheinend hatte sie den Kampf um das Gerät mal wieder verloren.
Prompt hörte ich auch die üblichen Klopfzeichen, mit denen sich Nemu am Telefon verständigte, weil sie bei einer fehlgeschlagenen Operation ihre Stimmenbänder eingebüßt hatte. Es war fast wie ein Morse Code – wo Nemu mit einem Stift auf das Telefon tippte – den wir zusammen mit ihr ausgetüftelt hatten, damit wir auch mit ihr telefonieren konnten.
„Streit euch nicht schon wieder“, sagte Yasmine streng, lachte aber gleichzeitig.
Ich saß neben ihr auf meinem Schreibtischstuhl und schüttelte nur den Kopf. So ging das eigentlich jedes Mal. Caroline war bei Nemu zu Besuch, während Yasmine, die wir meistens nur Yes nannten, heute bei mir hockte. Da ihr Stiefvater und ihre Mutter sich erst vor knapp einer Stunde heftigst gestritten hatten und Yes ziemlich verzweifelt geklungen hatte, hatte ich ihr angeboten bei mir zu übernachten. Da meine Eltern gerade für zwei Tage in Berlin waren, machte das nichts, wobei die auch bestimmt nichts dagegen gehabt hätten sie hier zu haben.
Nemus geklopfte Erwiderung auf den Kommentar war: ‚Es macht Spaß sie zu ärgern.‘
Dies führte zu einem von Yasmines berühmten Lachanfällen, wobei auch ich kichern musste, während sich Caro lauthals über die ungerechte Behandlung beklagte.
Jap, wir waren eine recht lebhafte Truppe, wobei ich mit meinen sechzehn Jahren wohl bemerkt die Jüngste war. Yasmine war fünf Monate älter als ich, sie war vor kurzem erst siebzehn geworden, Caroline hatte dieses Alter schon länger erreicht und Nemu war mit achtzehn die Älteste von uns. Nur komischerweise hatte ich manchmal das Gefühl, dass ich die Einzige mit einem Hauch Verstand im Kopf war.
Na ja, aber in letzter Zeit geschahen auch einige seltsame Dinge. Wenn man die häufigen Stromausfälle, starken Wetterschwankungen und das seltsame Benehmen der in der Natur lebenden Tiere mal außer Acht ließ, war da auch noch das Verschwinden etlicher Menschen. Einige tauchten Tage später entweder völlig benebelt und scheinbar verrückt oder im schlechteren Fall tot wieder auf, andere blieben gänzlich verschwunden. Auch in der Schule fehlten einige Mitschüler. Die Anzahl hatte in den letzten zwei Wochen stark zugenommen, was natürlich für einige Gerüchte sorgte. Meine drei Freundinnen und ich rätselten ebenfalls, was los war. Nur bemerkte man dabei, dass unsere Hirne ein wenig anders tickten.
Yasmine hatte zwar keine klare Vermutung, machte aber auf eine ungute Vorahnung ihrerseits aufmerksam. Irgendetwas beunruhigte sie wohl schon seit Längerem und bereitete ihr Alpträume.
Ich mochte das fröhliche Mädchen sehr, aber an ihre „Visionen“ glaubte ich ehrlich gesagt nicht. Ich besaß zwar auch viel Fantasie, aber diese und mein Verstand arbeiteten getrennt und mein Kopf sagte mir, dass das mit dem Blick in die Zukunft und den schlechten Vorahnungen alles Humbug war. Allerdings waren die Ideen der anderen beiden nicht viel besser.
Caroline machte die Marsmenschen für das Verschwinden der Leute verantwortlich. Jap, ich weiß, sie war ebenfalls eine Marke für sich, wie wir alle. Aber wie ich bei ihrem breiten Grinsen vermutete, war das doch mehr als Scherz gemeint. Trotzdem, ihr Spruch, dass sie die grünen Männchen mit ihren Kampftechniken plattmachen würde, sollten sie versuchen sie zu entführen, hatte bei mir nur ein vielsagendes Kopfnicken ausgelöst.
Nemu hingegen verdächtigte einen verrückten Wissenschaftler, der die Verschwundenen für seine Experimente missbrauchte. Den Kommentar zu dieser Idee kann ich mir, glaube ich, sparen. Und das sie diesen angeblichen Verrückten auch noch kennenlernen wollte, bereitete mir ein wenig Sorgen.
Ich selbst hatte keine wirkliche Idee, was für das zunehmende Chaos der letzten Tage verantwortlich sein konnte. In letzter Zeit schlief ich nur sehr schlecht und nachdem Mikhail plötzlich ebenfalls als vermisst gemeldet worden war, war ich endgültig stutzig geworden. Der Vierundzwanzigjährige war weiß Gott nicht blöd, auch wenn ich ihn nicht leiden konnte. Er war niemand, den man mal so eben entführen oder verschwinden lassen konnte.
Irgendetwas war da faul, nur hielt ich meinen Verstand dazu an die Grübeleien über die Vorkommnisse ohne meine Fantasie durchzuführen. Da ich Hobbyschriftstellerin war, war diese natürlich ziemlich lebhaft, aber bisher hatte ich das eigentlich immer im Griff gehabt. Die letzten zwei Wochen machten mich allerdings echt misstrauisch und waren ein gefundenes Fressen für den weniger realistischen Teil meines Hirnkastens.
„Hör mal, Samantha“, sagte Yasmine bedrückt und drehte das Glas Cola in ihrer Hand, ohne zu trinken, „Ich hatte letzte Nacht schon wieder diesen Traum.“
„Der, in dem Caro, Nemu und ich blutend am Boden liegen, nachdem wir von einigen dunklen Gestalten mit Schwertern niedergestochen worden waren und du als Letzte noch übrig warst?“ Ich schaute in den Kühlschrank und überlegte, was wir am besten zu Abend essen konnten.
„Ja.“
„Ich weiß, dir macht das Sorgen, aber überleg mal, in welchem Jahrhundert wir uns befinden“, bemerkte ich, „Wer läuft denn heutzutage noch mit Schwertern durch die Gegend? Was hältst du von Spagetti?“
„Klingt nicht schlecht.. Sam!“ Sie sah mich händeringend an. „Ich meine es ernst!“
„Ich auch“, erwiderte ich gelassen und zog die Packung mit den Nudeln aus der Schublade.
„Ich habe ehrlich Angst, dass dieser Traum wahr werden könnte“, entgegnete Yes und sah zu Boden, „Ich weiß nicht wieso, aber ich bin mir sicher, dass das tatsächlich eintreten könnte, wenn wir nichts unternehmen.“
„Hmm.. wäre dir Tomatensauce recht?“, fragte ich, während ich einen Kochtopf aus dem Schrank holte. Dass ihre „Visionen“ sich bewahrheiten könnten, hatte sie auch schon bei den Elf davor behauptet. Und wie viele waren wirklich eingetreten? Keine.
Okay, die vermisste Katze ihrer Nachbarn war wirklich von einem Auto angefahren worden und Nemus verschwundene Halskette hatte sich tatsächlich im Käfig ihrer Eidechse befunden, aber trotzdem. Ich glaubte nicht an diesen Schwachsinn. Besser gesagt wollte ich nicht daran glauben. Na ja, im Grunde wünschte ich mir, dass es so etwas wie Magie, unnatürliche Dinge und übernatürliche Fähigkeiten wirklich gab, aber weil das eben nur Wünsche waren und ich es hasste, mir falsche Hoffnungen zu machen, verdrängte ich das. Zumal es sowieso unmöglich war. Auch wenn es wirklich höchst interessant wäre. Okay, an dieser Stelle bemerkte man meine Macke. Lass euch davon aber nicht stören, nach außen hin ließ ich mir das nämlich eh nicht anmerken.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Yasmine klagend.
„Klar“, seufzte ich, „Aber du kennst meine Meinung doch. Mach dir nicht zu viele Sorgen…“
Es gab ein „Klack“ und im nächsten Moment war es stockduster in der Wohnung. Da ich durch das Fenster sehen konnte, dass auch im Hochhaus nebenan sämtliche Lichter ausgegangen waren, lag der Fall klar auf der Hand.
„Stromausfall“, stellte ich nüchtern fest, „Ist ja super. Und es ist auch schon so spät, dass es draußen dunkel ist. Bravo, ich bin begeistert.“
„Sam…“
„Keine Panik, wir haben im Wohnzimmerschrank noch Kerzen und in der Schublade sollte eine Packung Streichhölzer sein…“
„Sam!“
„Was ist denn?“, fragte ich genervt die dunkle Silhouette neben mir, die mir mittlerweile fast das Ohr abschrie.
„Sag mir bitte, dass das da eine Einbildung ist…“
Wenn ich recht sah, deutete sie mit dem Finger gerade durch den Flur auf das Fenster im kleinen Zimmer. Zunächst wusste ich nicht, was sie meinte, doch dann entgleisten mir ein wenig die Gesichtszüge. Wir befanden uns hier wohlbemerkt im dritten Stock, aber da hing jemand vor dem Fenster. Und das nicht an einem Seil oder sonst irgendeiner Befestigung, sondern frei schwebend. Mit großen Flügeln auf dem Rücken nicht zu vergessen.
„Halleluja, was ist denn jetzt los?“, fragte ich in resigniertem Ton, auch wenn ich ehrlich gesagt doch etwas verdattert war. Zwar schien – wer oder was auch immer das war – uns nicht bemerkt zu haben und auf irgendetwas weiter oben zu achten, doch ein mieses Gefühl nistete sich in meiner Magengegend ein.
„Die Gestalten in meinem Traum.. hatten auch Flügel“, hauchte Yasmine entsetzt.
Ehe ich etwas auf diese im Augenblick überflüssige Bemerkung erwidern konnte, war plötzlich ein lautes Krachen zu hören. Mit einem Mal bebte das ganze Haus und draußen heulte eine Sirene auf. Ich hatte eine solche schon mal in einem Film gehört. Das war die Warnung vor einem Bombenangriff!
„Verfluchte Scheiße…“ Ich saß auf dem Boden und hatte mir bei dem Fall den Kopf an der Tür gestoßen. Allerdings gehörte das gerade nicht zu unseren größten Problemen, wie ich an dem Lärm draußen hören konnte.
Während Yasmine anscheinend gerade nach ihrer Brille suchte, ohne die sie beinahe blinder als ein Maulwurf war, zog ich mich an der Fensterbank hoch und blickte nach draußen. Der Anblick verschlug mir jedoch die Sprache und ich konnte nicht mehr als fassungslos aus dem Fenster starren.
Das Haus gegenüber war komplett zerstört und die letzten Überreste standen in Flammen. Auch die ganze Umgebung glich einem einzigen Trümmerhaufen und überall waren immer wieder Feuer zu sehen. Es war als wären wir tatsächlich im Krieg.
„Was ist hier…“ Yes stockte mitten im Satz, als sie neben mich trat und ebenfalls nach draußen blickte. „Ich hab´s geahnt…“
„Das hat doch nichts mit deinem Traum zu tun“, stellte ich fest, marschierte schnurstracks in mein Zimmer und angelte die Taschenlampe von meinem Regal neben dem Hochbett. Anschließend griff ich nach meinem Handy, zog meine Sweatshirtjacke über und kam wieder zu meiner Freundin. „Wir sollten uns erstmal umsehen.“
Sie schluckte, doch dann nickte sie. „Du hast Recht“, stimmte sie zu und griff nach ihrer Jacke.
Wir wollten gerade zur Tür rausgehen, als plötzlich direkt über uns ein gewaltiges Krachen zu hören war. Das Haus erzitterte von neuem und der Verputz bröckelte von den Wänden. Yes und ich kamen beide erneut aus dem Gleichgewicht, doch bevor wir uns von dem Schreck erholen konnten, gab es eine weitere Erschütterung. Dann folgte über uns eine heftige Explosion und ich sah nur noch, wie ein Teil der Decke runter kam, bevor mich etwas am Kopf traf und ich das Bewusstsein verlor.
Als ich wieder zu mir kam, hing mir der Geruch von Verbranntem in der Nase und ich hörte ein komisches Knistern. Mein Hals tat weh und ich begann zu husten. Dabei rutschten einige kleinere Brocken Putz von mir und ich spürte, wie mir etwas Warmes seitlich an der Schläfe runterlief. Wahrscheinlich Blut.
Stöhnend setzte ich mich auf und blickte dabei um mich. Yes lag direkt neben mir, schien aber zum Glück nichts weiter abbekommen zu haben. Jedoch bemerkte ich zeitgleich die Flammen, die kaum fünf Meter entfernt flackerten und dabei waren die ganze völlig zerstörte Wohnung zu erobern.
„Yes, wach auf!“, rief ich erschrocken. Zum Glück schien ich nicht lange ohnmächtig gewesen zu sein, aber wir mussten trotzdem schnell hier raus.
„Ouch.“ Das Mädchen stöhnte leise.
„Komm auf die Beine, wir müssen hier raus!“, drängte ich und wollte aufstehen, als es plötzlich wieder eine Erschütterung gab und weitere Teile der Decke herunterkamen. Nun war auch die Tür nach draußen blockiert und zudem schlossen uns die Flammen allmählich ein. Es sah wirklich übel aus.
„AAAAH!“ Yasmine schrie neben mir plötzlich auf als würde sie abgestochen werden und verkrampfte sich. Sie keuchte und verzweifelte Schmerzenslaute kamen ihr über die Lippen, während sie sich auf dem Boden krümmte. Ich starrte sie nur erschrocken an und meine Augen weiteten sich, als das Mädchen von einer zur nächsten Sekunde anfing von innen heraus bläulich zu leuchten. Wenn auch nur kurz.
Der große, bereits vom Feuer erfasste Schrank keinen Meter entfernt stürzte in unsere Richtung, doch noch ehe ich schreien konnte, geschah das Unglaubliche. Auf dem Boden um uns herum bildete sich plötzlich eine Wasserlache und aus dieser griffen zwei Hände nach dem Schrank. Die Hände aus Wasser schleuderten das Möbelstück einfach zur Seite und das kühle Nass breitete sich weiter aus. Es löschte die Flammen innerhalb weniger Sekunden und zurück blieb nur der verkohlte Haufen, der von dieser ehemals schönen Wohnung noch übrig war.
„Ich lass.. meiner Freundin doch nichts zustoßen“, keuchte Yasmine und setzte sich langsam auf.
„Wie…?“ Ich war völlig verdattert.
„Ich weiß auch nicht, aber plötzlich.. muss ich nur an Wasser denken und schon taucht es auf“, stellte Yes erstaunt fest und prompt erschien eine kleine Wasserkugel vor ihr. Sie schien völlig fasziniert davon zu sein.
„Hooo, anscheinend haben wir da zwei Überlebende.“
Wir sahen erschrocken auf und entdeckten einen Jungen mit schwarzen Flügeln, der in dem Moment im Flur landete und uns skeptisch musterte. Dann wirkte er plötzlich überrascht, ehe sich ein düsteres Lächeln auf seine Lippen stahl.
„Bist du dir sicher?“, erklang eine Mädchenstimme von nebenan. Die Stimmen der beiden klangen als wären sie nicht mehr als zwei Jahre älter als wir.
„Ja“, grinste er und zog ein Schwert aus der Scheide an seinem Gürtel, „Wie es aussieht haben wir hier zwei vom Volk der Rei ein ganzes Stück weit weg von Zuhause gefunden.“
„Ehrlich?“ Ein Mädchen mit schwarzen Haaren und ebenfalls pechschwarzen Flügeln trat um die Ecke. Bei unserem Anblick zeichnete sich auf ihrem Gesicht jedoch ein triumphierender Ausdruck ab. „Na so was, das wird uns eine reiche Belohnung von Vater einbringen.“
Der Junge mit dem Schwert kam näher, doch plötzlich zog sich eine Eisschicht über das Metall, das anschließend einfach zerbrach. Er sah Yasmine daraufhin finster an. „Scheinbar ist die eine sogar eine Wächterin“, stellte er fest.
Yasmine packte mich in dem Moment am Handgelenk, zog mich auf die Füße und rannte an den beiden vorbei, die von einer plötzlich aufgetauchten Wand aus Eis davon abgehalten wurden uns sofort zu folgen. Nur waren wir hier komplett abgeschnitten und als wir an einen zerstörten Teil der Wand kamen, konnten wir sehen, dass von dem Hochhaus oberhalb des dritten Stocks nicht mehr viel übrig war und auch der Rest alles andere als heil aussah. Weiter hinten konnten wir beobachten, wie Flugzeuge Bomben über den Häusern abwarfen und diese nur Sekunden später explodierten. Es war schrecklich.
„Wie kommen wir nur hier weg?“ Yes sah sich hektisch um und schien fieberhaft zu überlegen.
„Wenn wir nur ein Seil hätten“, überlegte ich, bevor ich die beiden von eben kommen sah.
„Na wartet“, grollte der Junge und das Mädchen griff nach den Messern an ihrem Gürtel.
„Bleib hinter mir“, sagte meine Freundin schnell, die anscheinend schon ziemlich gut mit ihrer neuen – ich nannte es mal Fähigkeit – umgehen konnte. Zumindest schien sie im Augenblick wesentlich besser bescheid zu wissen als ich.
„Wenn ihr brav seid und keinen Widerstand mehr leistet, werdet ihr fürs Erste unversehrt bleiben“, sagte das Mädchen, auch wenn ihr drohender Tonfall die Worte eher zweifelhaft erscheinen ließ.
„Ganz bestimmt nicht“, erwiderte Yasmine verbissen und sah sich um.
Ich stand jedoch schon unmittelbar an der Kannte, noch einen Schritt weiter nach hinten und ich würde in die Tiefe stürzen. Unsere Situation war alles andere als vorteilhaft. Es stand zwar zwei gegen zwei, aber mich konnte man schlecht als Kampfkraft zählen. Ich besaß keine solche Fähigkeit wie Yes. Alles was ich tun konnte war daneben zu stehen und zu beten. Und das frustrierte mich gerade ungemein.
„Dann eben nicht.“ Das Mädchen zückte zwei Dolche aus ihrem Gürtel und warf sie präzise in unsere Richtung.
Erst kurz vor uns prallten die beiden gegen ein dünnes Schild aus Eis, Gott sei Dank dass Yasmine sich so schnell mit dieser neuen Fähigkeit zurechtfand. Die beiden starteten noch einige weitere solcher Angriffe, die Yes jedoch alle irgendwie mit Wasser abwehren konnte. Dann kamen der Junge und das Mädchen aber persönlich auf uns zu und auch die dicke Wand aus Eis, die meine Freundin in der Verzweiflung errichtet hatte, hielt die beiden nicht lange auf.
„Versuch nach links wegzulaufen“, zischte Yes.
„Und wohin?“, erwiderte ich, „Die Tür ist versperrt, aus dieser Wohnung gibt es kein Entkommen. Da kann ich genauso gut hierbleiben.“
Sie verzog das Gesicht, ehe dieses sich plötzlich aufhellte. Scheinbar hatte sie eine Idee bekommen. „Danke“, grinste sie auf einmal und ich war mir sicher, dass das nicht an mich gerichtet war.
Im nächsten Augenblick, als unsere beiden Widersacher gerade mit erhobenen Dolchen nach vorne preschten, streckten sich urplötzlich Flügel mit hellblauen Federn aus ihrem Rücken. Alleine das überraschte mich schon, doch die großen Schwingen stießen mich bei ihrer Ausbreitung an und durch meinem Ausfallschritt nach hinten trat ich prompt ins Leere.
„SAAAAM!“ Ich konnte ihr erschrockenes Gesicht sehen, als Yes sich entsetzt umdrehte und nach meiner Hand greifen wollte. Die beiden anderen packten sie jedoch in dem Augenblick und überwältigten sie.
Ich selbst sah nur wie die Hauswand an mir vorbeirauschte. Aber abgesehen von dem Entsetzen von der Erkenntnis, dass ich in nicht mal fünf Sekunden tot sein würde, empfand ich noch ein seltsames, anderes Gefühl. Es war fast so etwas wie Aufregung. Völlig fehl am Platz und doch so deutlich, dass es meine Angst klar überbot.
Dann hatte mein Fall abrupt ein Ende. Nur zu meiner Großen Verwunderung war es keineswegs schmerzhaft, sondern ich befand mich bereits wieder auf dem Weg nach oben. Mir wurde klar, dass mich irgendwer plötzlich mitten im Fall aufgefangen haben musste.
Als ich aufblickte, bestätigte sich meine Vermutung. Ein junger Mann, wahrscheinlich Anfang zwanzig, mit kurzen rotbraunen Haaren und sportlicher Brille hatte mich auf dem Arm. Wie ich befürchtet hatte, hatte auch er Flügel. Allerdings waren diese nicht schwarz sondern hatten denselben Farbton wie seine Haare.
„Luke!“, rief er in dem Augenblick.
Auch ich hatte bemerkt, dass wir uns mittlerweile auf Höhe des vierten Stocks befanden und gut zu sehen war, wie die beiden mit den schwarzen Flügeln dabei waren meine Freundin mit einem Messer zu bedrohen. Diese versuchte zwar sich zu wehren, doch es sah gerade nicht gut für sie aus.
„Yes…“ Ich war irritiert davon, wie leise meine Stimme war. Scheinbar hatte der erste Schreck mich doch heftiger erwischt als ich dachte.
Auf einmal tauchte keine fünf Meter entfernt von uns ein weiterer junger Mann auf. Da er mit Pfeil und Bogen auf die drei in meiner zerstörten Wohnung zielte, ging ich davon aus, dass er Luke war und zu dem gehörte, der mich immer noch wie eine Prinzessin auf dem Arm hatte.
„Was wenn er Yes trifft?“, fragte ich besorgt.
„Wird er nicht“, erwiderte mein Träger mit der Brille.
In dem Moment sauste der Pfeil auch schon von der Sehne und verblüfft sah ich, wie er haargenau zwischen Yasmine und ihren Angreifern hindurchsauste. Die beiden blickten daraufhin kurz zu uns, ehe sie wütend die Gesichter verzogen. Auch meine Freundin sah auf und wirkte bei meinem Anblick ziemlich erleichtert.
„Hey, Mädchen!“, rief mein Träger, „Flieg da weg!“
Sie wirkte ein wenig verdutzt, reagierte jedoch sofort und sprang aus der Wohnung. Die mit den schwarzen Flügeln wollten ihr folgen, doch zwei weitere Pfeile hinderten sie daran. Zwar schleuderte das schwarzhaarige Mädchen daraufhin mehrere Messer in unsere Richtung, doch der junge Mann namens Luke wehrte sie einfach mit seinem Bogen ab, ehe er unsere Gegner mit zwei weiteren Pfeilen auf Abstand hielt.
„Sam!“ Yasmine kam leicht ungelenk zu uns geflattert. „Wer sind die beiden?“
„Keine Ahnung“, musste ich mit einem leicht skeptischen Blick zugeben, „Aber sie haben uns gerettet.“
„Du bist eindeutig eine der vier Wächterinnen, da ist es unsere Aufgabe dich zu beschützen“, bemerkte mein Träger, „Auch wenn du scheinbar nur ein normales Mädchen bist.“ Letzteres war an mich gerichtet.
Es war wahr. Das stritt ich nicht ab. Aber dieser schon fast herablassende Ton gefiel mir gar nicht. Wenn er mich nicht gerettet hätte, hätte ich darauf mit Sicherheit etwas erwidert.
„Sie ist meine Freundin“, entgegnete Yasmine.
„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte der scheinbar eher schweigsame Luke, wobei er unsere Widersacher im Auge behielt.
„Besser wir verschwinden, die beiden haben mit Sicherheit schon nach Verstärkung gerufen und gegen eine ganze Horde von ihnen kommen wir zu zweit nur schwer an.. Fragt sich nur, wohin Ravi schon wieder verschwunden ist. Den Bengel kann man keinen Moment aus den Augen lassen.“
„Wer seid ihr überhaupt?“, fragte ich argwöhnisch.
Der Mann mit der Brille sah mich kurz ebenfalls skeptisch an. „Das dort ist Luke“, antwortete er knapp, „Und mein Name ist Tinto.“
„Komischer Name“, stellten Yasmine und ich gleichzeitig fest.
Als wir zwei uns gerade angrinsten, flogen uns plötzlich weitere Messer entgegen und Tinto sank rasch ein Stück tiefer, was dazu führte, dass ich mich widerstrebend an ihm festhalten musste. Luke zog dabei die etwas überraschte Yes mit sich und zusammen brachten wir noch etwas mehr Abstand zwischen uns und die anderen beiden.
„HEY!“, rief plötzlich ein Junge von weiter hinten, „Seht mal, was ich gefunden habe!“
Scheinbar gehörte der ältere Junge zu den beiden neben uns. Im Gegensatz zu Lukes flachsfarbenen Haaren waren seine allerdings knallrot. Auch er hatte Flügel und sich anscheinend eine Lanze mit langem Schaft auf den Rücken geschnallt, wie Luke einen Köcher mit den wenigen Pfeilen, die noch übrig waren. Was mich überraschte, waren die beiden Gestalten unter ihm.
„Caro! Nemu!“, rief Yasmine, die ebenfalls ganz schön verdutzt klang.
„Ha!“ Caroline schien irgendeine komische Geste ausführen zu wollen, kam dabei aber ziemlich aus dem Gleichgewicht und hing folgend etwas schief in der Luft. Das schien sie aber trotzdem nicht davon abzuhalten einen auf Hampelmann zu machen. „Sam! Yes! Ihr seid auch hier?!“
„Huch.“ Der Junge, der höchstwahrscheinlich Ravi war, blickte leicht überrascht zwischen uns hin und her. „Ihr habt ja auch eine gefunden“, stellte er dann überrascht fest, „Und ihr kennt euch?“ Letzteres war wohl an uns Mädels gerichtet.
„Wo hast du die zwei denn aufgegabelt?“, fragte Tinto etwas verblüfft.
„Vielleicht sollten wir das auf später verschieben“, warf Luke auf einmal in nüchternem Tonfall ein, „Da hinten kommt Verstärkung.“
Tatsächlich konnte ich weiter hinten in der angegebenen Richtung dicht unter den dunklen Wolken Schemen sehen, die mich stark an die beiden unten in der Wohnung erinnerten und sich schnell näherten. Es waren bestimmt zwanzig, was mich Böses ahnen ließ.
„Gute Idee“, stellte Ravi mit einem schiefen Grinsen fest, „Nehmen wir die Mädchen mit?“
„Natürlich“, erwiderte Tinto, „Immerhin haben wir hier drei der Wächterinnen auf einmal gefunden.. und eine Freundin von ihnen, wie es scheint.“
Ich beschränkte mich auf einen resignierten Blick. Obwohl ich wegen der ganzen Ereignisse eigentlich ganz schön durcheinander war, war ich doch erstaunlich ruhig. Ehrlich gesagt hätte ich erwartet, dass ich wesentlich mehr von der Rolle wäre, wenn ich plötzlich herausfand, dass es scheinbar doch Magie und sogar fliegende Menschen gab. Es überraschte mich jedoch, dass ausgerechnet meine drei Freundinnen scheinbar Inhaberinnen von magischen Kräften waren. Ich hätte nicht erwartet, dass es ausgerechnet Menschen aus meiner unmittelbaren Umgebung traf. Und dieser Kerl mit der Brille regte mich auf. Er war ja fast so schlimm wie ein gewisser Literaturagent, der mir auch ständig auf die Nerven ging.
„Und ihr nehmt sie mit“, fügte Yasmine in endgültigem Ton hinzu.
Es schien als wollte Tinto etwas darauf erwidern – bestimmt so was wie, dass sie das keinesfalls mussten – doch er schüttelte nur den Kopf. „Meinetwegen, auch wenn das noch Ärger geben wird.“
„Juhu, dann los!“, grinste Ravi, der seinen Spaß an der Sache zu haben schien, „Bevor die da hinten uns noch erwischen.“
Er packte Nemu und Caro, die inzwischen fast über Kopf hing, weil sie anscheinend noch nicht wirklich mit ihren roten Flügeln umgehen konnte – Nemu mit ihren gelben Schwingen war da schon wesentlich besser – an je einem Oberarm und zog sie mit sich.
Tinto folgte ihm mit mir auf dem Arm und Luke zog Yasmine mit sich, wobei diese allem Anschein nach schon ziemlich gut mit ihren Flügeln umgehen konnte. Zumindest überholte sie ihn schon bald und blieb neben mir und meinem Träger.
„Wir müssen uns beeilen, sonst holen sie auf, bevor wir unser Ziel erreichen“, bemerkte Tinto und holte mit Luke und Yasmine zu Ravi auf, welcher noch immer Caro und Nemu im Schlepptau hatte.
„Machen wir doch ein Wettfliegen“, schlug der Jüngste aufgeregt vor.
„Lass deine Spielchen, wir befinden uns hier auf einer ernsten Mission, du unreifer Bengel“, erwiderte Tinto.
„Manno“, schmollte Ravi.
Ich sah unterdessen staunend zu, wie die zerstörten Häuser und alles andere unter uns immer kleiner wurde, je höher wir stiegen. Mich ließ das Gefühl nicht los, dass ich etwas dergleichen schon mal gesehen hatte, konnte mich aber nicht daran erinnern. Staunend beobachtete ich jedoch, wie wir nun auch durch die Wolken hindurch noch höher stiegen.
„Lass mich los!“, schimpfte Caro unterdessen aufgebracht, „Ich kann selber fliegen!“
Es war zwar allzu deutlich, dass sie das nicht konnte, aber egal.
„Gut.“ Ravi grinste nur, als er sie einfach losließ und sie daraufhin ziemlich unelegant immer weiter nach unten trudelte und ein wütendes Fluchen von sich gab.
„Ravi!“ Tinto klang ganz schön sauer.
„He he.. halt sie mal“, sagte der Junge nur schnell und drückte Luke Nemus Oberarm in die Hand, ehe er Caroline nachflog.
„Dieser übermütige Bengel kann was erleben, wenn wir zu Hause sind“, versprach der Älteste in düsterem Ton. Der Arme Ravi konnte sich wohl auf einiges gefasst machen.
„Wo bringt ihr uns hin?“, fragte Yasmine, als wir warteten.
„Dorthin, wo es sicher ist.“
„Eine sehr genaue Antwort“, kommentierte ich.
„Vergiss nicht, dass wir dich nur mitnehmen, weil deine Freundin es so will“, konterte Tinto prompt, „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir dich einfach dagelassen.“
Wirklich sehr freundlich. Das war mir schon vorher klar gewesen, nachdem ich gemerkt hatte, welches Interesse die drei an meinen Freundinnen hatten. Ich vermutete, dass auch Caro und Nemu solche Fähigkeiten wie Yasmine hatten. Das schien hier, wo auch immer wir waren, etwas Besonderes zu sein – wie bei uns im Übrigen auch. Fragte sich nur, was die jungen Männer sich von der Rettung versprachen. Na ja, an mir hatten sie sowieso kein Interesse. Ich machte mir nur Sorgen um meine drei Freundinnen.
„Ich hab sie!“ Ravi stieß vergnügt wieder zu uns, mit der beleidigten Caro an der Hand. So wie ich sie kannte, hätte sie dem Jungen nur zu gerne eine übergebraten. Ihr schien aber zum Glück klar zu sein, dass sie wieder trudeln würde, wenn sie das tat. Gelegentlich setzte sie auch mal ihren Verstand ein. „Worüber habt ihr gesprochen?“
„Nichts Besonderes“, sagte Tinto lediglich.
„Da sind sie!“, erklang jedoch plötzlich ein Ruf von weiter hinten. Zwar verdeckten die Wolken sie, doch ich hörte wie Schwerter aus ihren Scheiden gezogen wurden. Anscheinend hatte man uns bereits eingeholt.
„Verflucht, fliegt so schnell ihr könnt!“, rief Tinto hektisch.
„Das ging schneller als gedacht“, stellte Ravi lediglich leicht erstaunt fest, ehe er mit Caro an der Hand abzischte und Luke mit Nemu folgte. Yasmine schien bereits alleine fliegen zu können, jedenfalls hielt sie ohne Probleme mit den Jungen mit. Tinto schoss mit mir hinter den anderen her und blickte immer wieder über seine Schulter. Auch ich hörte ein leises Zischen, das vermuten ließ, dass unsere Verfolger nicht weit weg waren.
Als wir gerade um eine dichte, undurchsichtige Wolke flogen, tauchten plötzlich aus dieser und von links mehrere schwarzgeflügelte Männer auf. Unsere Gruppe wollte daraufhin etwas erschrocken wieder zurückfliegen, doch von hinten kam der Rest. Das war eine saubere Falle, sie hatten uns von allen Seiten her eingekreist.
„Olé, scheint ja lustig zu werden.“ Ravis Lächeln war ein wenig schief.
„Eine passendere Umschreibung fällt dir wohl nicht ein.“
„Ich habe nicht mehr viele Pfeile“, bemerkte Luke.
„Wir können nur hoffen, dass wir schon so nahe sind, dass die anderen uns bemerken“, erwiderte Tinto, „Wir müssen uns so lange wie möglich verteidigen.“
„Na dann…“ Ravi zog die Lanze mit dem gut zwei Meter langen Schaft von seinem Rücken und reichte gleichzeitig Caro an Nemu weiter.
„Haltet euch selbst in der Luft.“ Auch Luke flog ein Stück weg, nahm den Bogen von seinem Rücken und zog einen Pfeil aus dem Köcher.
In dem Moment kamen unsere Gegner bereits auf uns zu und planten eindeutig uns mit ihrer Anzahl glatt zu überwältigen. Verdammt, wir steckten wirklich in der Zwickmühle.
Tinto wich den Schwarzgeflügelten aus und Luke schien Caro und Nemu verteidigen zu wollen, wie auch Yasmine. Ravi hingegen stützte sich direkt ins Getümmel, ganz nach dem Motto ‚Angriff ist die beste Verteidigung‘. Innerhalb weniger Sekunden war die Lage hier mitten in den Wolken ziemlich durcheinander, bei dem ständigen hin und her fiel es mir schwer die anderen im Blick zu behalten. Es war wie ein kleiner Krieg mitten in der Luft. Ganz schön abgefahren und verdammt gefährlich, wie ich fand.
„Verflucht, schlimmer hätte es kaum kommen können“, murmelte Tinto, der angestrengt versuchte den Schwertern unserer duzenden Widersacher auszuweichen. Mit mir auf dem Arm natürlich alles andere als eine leichte Übung. „Wenn er nur hier wäre…“
„Wer?“, fragte ich etwas verwundert.
Der junge Mann kam nicht dazu zu antworten. Während ich aus den Augenwinkeln noch sah, wie Yasmine begann mit ihrer Fähigkeit zum Gegenangriff auszuholen, kam Tinto in die arge Bedrängnis von gleich mehreren Seiten gleichzeitig angegriffen zu werden. Ein Morgenstern sauste nur haarscharf an unser beider Gesichter vorbei. Bei der folgenden Verrenkung, die er zwangsweise machen musste, kam ich bereits arg ins Rutschen. Als er dann mit einer Hand auch noch einen Pfeil direkt vor seiner Schulter abfangen musste, konnte er mich endgültig nicht mehr festhalten.
Zum zweiten Mal an diesem Tag fiel ich, nur war es dieses Mal aus einer ganz schön beträchtlichen Höhe. Wir befanden uns bestimmt mehrere hundert Meter über dem Boden und ich war bereits im freien Fall. Das Gute war, wenn ich erstmal unten Aufschlug, war ich mit Sicherheit sofort tot. Das Schlechte war, dass ich davor noch reichlich Zeit zum Nachdenken hatte. Hilfe!
„Huch!“
Plötzlich hatte mein Fall ein ganz schön unerwartetes Ende.
„Seit wann regnet es Gören vom Himmel…“ Er stockte.
Ich blickte überrascht auf. Wenn ich richtig schätzte, war der Mann Mitte zwanzig. Er hatte kurze, knallblonde Haare und große, tief dunkelblaue Flügel. Jemanden wie ihn hatte ich noch nie zuvor gesehen, doch er kam mir trotzdem bekannt vor.
Der Blick seiner dunkelblauen Augen war genauso verwirrt wie meiner. Für einen kurzen Moment wirkte er sogar richtig erschrocken. In der nächsten Sekunde aber war davon nichts mehr zu sehen, ein noch leicht überraschter, aber gleichzeitig fast gelassener Ausdruck nahm seinen Platz ein.
„Wo kommst du denn her?“, fragte er nur noch nüchtern.
Ich deutete lediglich nach oben.
Er blickte in die Richtung, woraufhin sich seine Augen weiteten. „Jetzt wird mir einiges klar“, stellte er fest, während er bereits nach oben sauste.
So langsam aber sicher, wusste ich nicht mehr, was ich davon halten sollte. Das war nun schon das zweite Mal, dass mich einer dieser geflügelten Männer gerettet hatte. Wo uns zuvor andere mit Flügeln angegriffen hatten. Was zum Teufel war hier los? Wo waren meine Freundinnen und ich hier gelandet?!
„Fang, Tinto!“, rief mein Retter Nummer zwei.
Mir wurde erst klar, was er vorhatte, als er mich auch schon nach oben zu seinem Kameraden warf. Dessen Angreifer schienen so überrascht zu sein, dass sie sogar zurückwichen – verwechselten sie mich mit irgendeinem Angriff? Dem jungen Mann gelang es gerade noch mich abzufangen, bevor ich direkt gegen ihn knallte. Ich war ehrlich gesagt ganz schön bedient. Seit wann war ich ein Gepäckstück geworden, das man einfach dem Nächstbesten in die Arme werfen konnte? Das regte mich irgendwie auf!
„Behalt den Überblick!“, befahl Retter Nummer zwei mit den blonden Haaren, „Luke, pass auf die beiden Mädchen da auf! Kleine mit der Wasserkontrolle, halt mit Wasser und Eis unsere Angreifer in möglichst kleinen Gruppen in Schach! Ravi lass dich nur nicht aufhalten!“
„Aye aye, Sir!“, rief der Jüngste grinsend.
Tinto flog augenblicklich nach oben außer Schusslinie und auch Luke hielt sich an den Befehl. Sogar Yasmine, die sich sonst eher ungern etwas sagen ließ, reagierte fast augenblicklich und begann die Schwarzgeflügelten in kleinere Gruppen voneinander zu trennen. Der neue Befehlshaber – zuvor schien Tinto ja das Wort gehabt zu haben – zog unter seinem dunklen Umhang zwei Langschwerter hervor und begann ähnlich wie Ravi die Gegner in rasender Geschwindigkeit mit nur einem Streich zu besiegen.
Ich staunte nicht schlecht.
Dadurch, dass unsere Angreifer jetzt nur noch in kleineren Gruppen von zwei bis drei Leuten waren und durch das Wasser, in dem sich scharfe Nadeln aus Eis befanden, nicht mehr viel Bewegungsfreiheit hatten, war es gar nicht mehr so schwer gegen ihre Überzahl anzukommen. Wer auch immer der Neuankömmling war, er konnte nicht nur mit seinen Schwertern gut umgehen, er war auch noch ein verdammt guter Taktiker.
Mit Tinto, der gelegentlich Warnungen rief oder kurze Anweisungen gab, wo die Schwarzgeflügelten dabei waren sich aus ihrem Gefängnis rauszuarbeiten, Ravi und dem Neuen als Hauptangriffskraft und Luke als letzte Verteidigung verlief dieser Kampf nun ziemlich einseitig. Innerhalb weniger Minuten schafften sie es unsere Gegner klar zu besiegen. Nicht zuletzt auch durch Yasmine, die mit ihrer Wasserkontrolle erheblich dazu beitrug dass wir unversehrt blieben.
Schließlich war der Kampf auch schon vorbei. Was ich erst für ausweglos gehalten hatte, war so schnell und einfach gelöst worden. Auch wenn ich es ungern zugab, bewunderte ich die jungen Männer. Und auch Yasmine, die so schnell mit ihrer neuen Kraft klarkam.
„Wow“, sagte Caro nur, „Das war ja affenstark.“
Ja, man konnte dieses Kunststück durchaus so bezeichnen.
„Wo habt ihr die vier gefunden?“, fragte der Blonde nun, als er seine Schwerter wieder in ihre Scheiden steckte und auch die anderen ihre Waffen wegpackten.
„Unten, bei unserem Kontrollflug in einem besonders stark betroffenen Gebiet“, antwortete Tinto, „Es war purer Zufall, dass wir dort vorbeigekommen sind. Luke und ich haben seltsame Kräfte gespürt und als wir nachgesehen haben, haben wir die Wächterin mit der Wasserkontrolle und dieses Mädchen hier gefunden – sie waren gerade von zwei der Nemesis angegriffen worden.“
Erstmal mochte ich noch immer nicht die Art, wie er von mir redete. Zweitens aber hatte ich bei dem Begriff „Nemesis“ ein komisches Gefühl. Als hätte ich das schon einmal gehört. Und das beunruhigte mich, gerade da ich mir nicht sicher war, was es bedeutete.
„Dann hat Ravi plötzlich auch noch die beiden Wächterinnen dort angeschleppt“, fuhr der junge Mann mit der Brille fort, „Welche es sind, werden wir feststellen können, wenn ihre magischen Kräfte reifen. Wir sind eigentlich mit den Mädchen zusammen geflüchtet, aber dabei von der Gruppe eben angegriffen worden.“
„Gut, wenn sie wirklich die Wächterinnen sind, haben wir großes Glück“, stellte der Neue fest, der auch gleichzeitig der Älteste zu sein schien, „In jedem Fall sollten wir sie erstmal nach Reilong bringen.“
„Wer sind Sie überhaupt?“, fragte Yasmine zu Recht.
Das würde mich allerdings auch mal interessieren. Ich konnte mir nämlich immer noch nicht helfen, er kam mir bekannt vor.
„Wir sind Brüder, wenn auch von unterschiedlichen Müttern“, erklärte Tinto, „Er ist unser ältester Bruder, Mikhail.“
„Mikhail?“ Der Name hallte in meinem Kopf mehrfach wieder. „Mikhail!“
Der junge Mann seufzte, ehe er sich mit einer Hand an die Stirn fasste und anschließend den Kopf schüttelte. „Was bitteschön machst du hier, Samantha?“
Ich konnte es nicht fassen. Als ich den Kerl das letzte Mal gesehen hatte, hatte er pechschwarze Haare gehabt und als mein Literaturagent mal wieder auf mir rumgehackt, weil ich zu einem wichtigen Treffen nicht pünktlich erschienen war. Immerhin hatte ich seit kurzem erst offiziell einen Autorenvertrag bei einem Verlag und mein erstes Buch sollte veröffentlicht werden. Er war mit dafür verantwortlich, dass ich überhaupt so weit gekommen war und ich hatte ihn schon eine ganze Weile lang gekannt, bevor ich herausgefunden hatte, dass er Literaturagent war. Eher unabsichtlich hatte er mir bei ein paar Dingen geholfen, auch wenn ich seine teilweise ganz schön arrogante Art immer noch nicht leiden konnte. Aber dass ich ihn hier in dieser Form wiedersehen würde, hätte ich als Allerletztes erwartet. Noch weniger als dass meine Freundinnen magische Kräfte bekommen könnten.
„Du liebst es in Schwierigkeiten zu geraten, hm?“ Er sah mich resigniert an.
„Als könnte ich was dafür!“, erwiderte ich verärgert.
„Ähm.. entschuldigt die Unterbrechung…“, sagte Tinto etwas irritiert, „Aber ihr kennt euch?“
„Leider ja.“
„Dummerweise ja“, erwiderte ich gleichzeitig. Sein Kommentar brachte mich allerdings dazu ihn wiedermal aufgebracht anzustarren. Er schien es wirklich zu lieben mich aufzuregen. Das konnte er schon immer gut. Und egal wie viel er mir bereits mit meinem Traum Autorin zu werden geholfen hatte, ich konnte ihn und seine Persönlichkeit einfach nicht leiden. Punkt.
Sein resignierter Blick ließ darauf schließen, dass ihm nicht sehr viel anders ging als mir. Er schien mich auch nicht sonderlich gut leiden zu können.
„Du kennst einen dieser Flügelmänner?“, fragte Caro ungläubig. Wie so häufig war sie eine Spätzünderin.
„Flügelmänner?“ Tinto verzog schon beinahe angewidert das Gesicht. „Wir stammen vom alten Volk der Rei ab. Bei uns sind Menschen mit Flügeln nichts Besonderes, auch wenn es nicht mehr viele von uns gibt.“
Ich und auch meine drei Freundinnen sahen ihn daraufhin fragend an.
„Wir sollten vor weiteren Erklärungen zuerst nach Reilong zurückkehren“, bemerkte Mikhail, „Hier draußen ist es nicht sicher, nach dem großen Angriff auf die irdischen Städte sind noch viele der Nemesis unterwegs. Von den Kriegsgeschwadern der Menschen gar nicht zu sprechen.“
Erklärungen waren wirklich nötig. Seit wann bitteschön befanden wir uns im Krieg?! Und wo lag Reilong? Ich hatte noch nie von einem Land gehört, das so hieß.
Gute zehn Minuten später konnten meine Freundinnen und ich weiter vorne eine riesige weiße Wolkenwand ausmachen, die sich zwischen den vielen anderen befand. Etwas an ihr kam mir gleich komisch vor, bereits bei ihrem ersten Anblick war ich mir sicher, dass sich mehr hinter ihr verbarg.
„Scheinen keine Nemesis in der Nähe zu sein“, berichtete Ravi, der einen kurzen Rundflug durch die Gegend gestartet hatte, als das Ungetüm von einer Wolke in Sicht gekommen war.
„Gut.“
Vielleicht zwei Sekunden später begann die riesige Wolke auf einmal sich direkt an der Front zur Seite zu schieben, fast wie ein Vorhang. Was dahinter zum Vorschein kam, verschlug Yes, Caro und mir die Sprache und Nemu wirkte genauso verdattert.
Ein riesiger Landstrich, bestimmt so groß wie das Land Luxemburg, mit weiten grünen Wiesen, Wäldern, Feldern, Seen, Flüssen und allem drum und dran flog mitten im Himmel, versteckt hinter dieser Wolkenwand. Fast noch eindrucksvoller war allerdings die große Stadt, die sich direkt auf dem Frontzipfel der fliegenden Insel befand. Alte Paläste aus hellem Marmor mit großen Balkonen, Türmen, eindrucksvollen Gärten; Herrenhäuser und eher unspektakuläre aber dennoch malerische Häuser bildeten anscheinend das Herz dieses unbeschreiblichen Ortes. Und alle prächtiger als man es sich erträumen konnte.
„Herzlich Willkommen in Reilong, meine Damen“, sagte Mikhail, „Das letzte Reich hinter den Wolken und einziger Zufluchtsort der verbliebenen Rei.“
Ich starrte schon seit über zehn Minuten aus dem Fenster. Inzwischen befanden wir uns in einem der größten Paläste hier und meine Freundinnen und ich hatten jede unser eigenes Zimmer bekommen. Die Gebäude – zumindest die großen Paläste – schienen tatsächlich komplett aus weißem Marmor mit dunklen Maserungen erbaut worden zu sein. Mein Zimmer hatte sogar eine große eigene Terrasse. Die seidenen Vorhänge wehten im leichten Wind durch die geöffneten, gläsernen Balkontüren. Das Bett war riesig und auch ein Kleiderschrank und eine Kommode samt Schreibtisch und Stuhl hatten bequem in dem geräumigen Zimmer Platz gefunden. So in Etwa hatte ich mir immer das Zuhause einer Prinzessin vorgestellt. Wahrscheinlich lag es auch genau daran, dass ich mir irgendwie fehl am Platz vorkam.
„Oh Heiliger, was ist hier bloß los?“, seufzte ich und ließ mich auf den Rücken fallen. Die Matratze federte leicht und fliederfarbenen Bezüge waren angenehm weich. Das Ganze kam mir jedoch mehr und mehr wie ein Traum vor.
„Hey! Nemu!“, hörte ich plötzlich Caros Stimme von draußen, „Guck mal, was ich kann!“
„Pass auf! Du verbrennst dir noch die Flossen!“, rief Yasmine im nächsten Moment.
Ich setzte mich stirnrunzelnd wieder auf. Scheinbar waren alle drei auf ihren Balkonen und heckten wieder etwas aus. Irgendwie typisch, es hätte mich auch gewundert, wenn allen voran Caroline mal ruhig auf ihrem Stuhl sitzen und nachdenken würde. Zu Nemu passte das allerdings genauso wenig. Höchstens Yasmine hätte ich es zugetraut, aber das war anscheinend auch nicht der Fall.
„Aaaa! Fackel Nemu nicht ab!“
„Mach ich schon ni.. Au au au!“
„Selber Schul.. au! Warum ich auch?“
„Was macht ihr da?“, fragte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue, als ich ebenfalls auf den Balkon trat. Yasmine und Caro verzogen beide die Gesichter, wahrscheinlich weil Nemu sie gerade mit ihren Fingernägeln in die Ohren kniff. Sie hatte die zwei wie immer fest im Griff. „Scheint ja Spaß zu machen.“
Meine stumme Freundin nickte nur mit einem vielsagenden Grinsen.
Da fiel mir etwas ein. „Caro, hast du herausgefunden, was deine Fähigkeit ist?“
Diese riss sich von Nemu los. „Ja, guck dir das mal an!“ Sie schnippte und auf einmal schwebte eine kleine Flamme direkt über ihrem Zeigefinger. „Cool, nicht? Wie ein Feuerzeug.“
Ich war ehrlich erstaunt. „Feuer.. na das passt wenigstens.“
„Wenn sie nur nicht so unvorsichtig damit rumspielen würde“, meckerte Yasmine.
„Das sagt die Richtige!“
„Wasser ist nicht annähernd so gefährlich wie Feuer!“
Mir fiel auf, wie Nemus lange, schwarze Haare auf einmal anfingen abzustehen, als wären sie statisch geladen. Eine starke Vermutung ließ mich schnell in Deckung gehen, und das nicht zu spät. Denn im nächsten Augenblick zuckten kleinere Blitze von dem Balkon über unseren herab und Yes und Caro mussten leicht erschrocken ausweichen.
„Was sollte das denn?!“, fragte Caroline aufgebracht, „Wolltest du uns rösten?!“
Nemu machte einige vage Gestiken mit ihren Händen.
„Wenn ihr dann die Klappen haltet, gerne“, übersetzte ich. Ohne Zettel und Stift konnte Nemu sich nur mit ihren teilweise ziemlich schrägen Handbewegungen verständigen, aus denen keiner schlau wurde. Komischerweise verstand ich allerdings irgendwie, was sie meinte, und konnte es für die anderen verständlich ausdrücken. Ehrlich gesagt aber hatte ich auch keine Ahnung, wie ich das machte. Nebenbei stellte ich nur fest, dass ihre Fähigkeit sich anscheinend der Elektrizität bemächtigte und für ein Gewitter gut zu gebrauchen war.
„Hast du das gehört?“, fragte Caro ungläubig, „Das nächste Mal kriegst du keinen Pudding von meiner Mutter ab!“
„Mir doch egal“, übersetzte ich wieder Nemus Gestiken, „Ich hab längst das Rezept von ihr und kann mir den Pudding selber machen.“
Das temperamentvolle Mädchen verzog das Gesicht.
„Ihr scheint ja euren Spaß zu haben“, stellte Mikhail fest, der plötzlich neben mir stand.
„Wo kommst du denn her?“, fragte ich überrascht.
„Durch die Tür.“
„Das war mir auch klar.“
„Wieso fragst du dann?“
Ich knurrte nur wütend. Schon wieder! Dieser Typ regte mich auf!
„Ich bin hier um euch abzuholen“, sagte der junge Mann, „Wir reden im Salon weiter.“
„Wo sind Ihre Flügel?“, fragte Caro allerdings stutzig.
Mir fiel in dem Moment auch auf, dass seine dunkelblauen Schwingen verschwunden waren.
„Wenn man nicht gerade fliegt sind sie viel zu unpraktisch“, bemerkte er, „Darum hab ich sie eingeklappt, wie alle Rei, wenn wir sie nicht gerade benutzen.“
„Und wie macht man das?“
„Finde es selber raus.“
Jetzt hatte er sich auch noch Caro zum Feind gemacht.
Währenddessen wirkte Yasmine hoch konzentriert und im nächsten Moment schon verschwanden ihre hellblauen Flügel langsam wieder in ihrem Rücken.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte Caroline verdattert.
Yes lächelte nur geheimnisvoll. „Es ist gar nicht so schwer, du wirst es bestimmt auch irgendwann hinkriegen.“ Bei ihrem Gesichtsausdruck hatte ich ein komisches Gefühl. Mir kam sogar der Verdacht, dass sie bereits einiges mehr wusste als wir, obwohl das unmöglich war.
„Wollt ihr nun wissen, was hier los ist, oder lieber weiterspielen?“, fragte Mikhail leicht genervt.
„Du musst gar nicht so unfreundlich werden“, warf ich ein, „Wir kommen auch so mit.“
„Genau“, stimmte Caro zu, „Wieso ist plötzlich Krieg? Vor nicht mal einer Stunde war noch alles vollkommen friedlich!“
Der Erwachsene seufzte. „Kommt mit, die anderen drei sind schon unten.“
Mit Sicherheit konnte ich es nicht sagen, aber wenn ich mich nicht täuschte, hörte ich da einen leicht beklommenen Unterton in seiner Stimme mitschwingen. Ich kannte ihn zwar erst seit knapp einem halben Jahr und wie es aussah, wusste ich noch viel weniger über ihn, als ich dachte, aber er hatte keinen solchen Unterton, wenn nicht wirklich etwas Ernstes war. Die Sache schien wirklich alles andere als rosig zu sein.
„Warum kann er nicht jetzt schon antworten?“, fragte Caro hinter mir beleidigt, als wir auf dem Weg zum Salon waren, „Was meint ihr? Ist doch echt blöd, wenn wir es eh gleich hören.“
„Sonderlich nett finde ich es auch nicht.“ Yasmine schien jedoch eher in ihren eigenen Gedanken versunken zu sein.
Nemu machte nur mal wieder einige den beiden unverständlichen Gesten.
„Vielleicht hat er seine Gründe“, gab ich sie wörtlich wieder.
„Ach ja, du kennst ihn ja auch“, fiel es Caro wieder ein, „Woher?“
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mit der Wahrheit antworten sollte. Wir alle vier waren Hobbyschriftstellerinnen, auch wenn sich unsere Schreibstile ziemlich unterschieden, und unser aller Traum war es einmal unsere Geschichten richtig bei einem Verlag zu veröffentlichen. Dank Mikhail hatte ich es erst vor wenigen Wochen geschafft diesem Traum einen gewaltigen Schritt näher zu kommen. Nur hatte ich den drein bisher noch nichts davon erzählt. Immerhin hatten wir beschlossen, es eines Tages zusammen zu versuchen – nur hatte sich bei mir unerwartet die Gelegenheit geboten, mein Manuskript direkt an den Verlag zu bringen, ohne mindestens ein halbes Jahr warten zu müssen. Ich war mir nicht sicher gewesen, wie die drei reagieren würden. Bisher hatte ich noch keine gute Gelegenheit gefunden, ihnen die Sache beizubringen.
„Das würde mich jetzt auch mal interessieren“, bemerkte Yasmine, die anscheinend von ihrem gedanklichen Ausflug zurück war.
Mir blieb es aber Gott sei Dank erspart darauf antworten zu müssen. Inzwischen waren wir vom zweiten Stock im Westflügel in den ersten Stock im Ostflügel gelangt. Ein riesiger Raum – bestimmt größer als meine ganze Wohnung es gewesen war – lag vor uns. Weiter hinten auf einem der beiden großen Sofas mit einem kleinen Tisch in der Mitte saßen bereits Tinto, Luke und Ravi. Alle drei hatten ihre Flügel ebenfalls verschwinden lassen.
Caro gab einen leicht erzürnten Laut von sich und versuchte eindeutig ihre Flügel ebenfalls einzufahren, was aber scheinbar nicht so ganz klappen wollte. Dafür schaffte Nemu es nun ihre gelben Schwingen wieder in ihrem Rücken verschwinden zu lassen, sie wirkte angenehm überrascht. Nun war meine temperamentvolle Freundin allerdings endgültig wütend.
„Setzt euch“, sagte Mikhail lediglich und nahm selbst auf einen der zwei Sessel Platz, die an den freien Seiten neben dem Tisch standen.
Yasmine und ich gingen daraufhin ebenfalls zu der Sitzecke und Caro und Nemu folgten sofort. Ich ließ die drei sich nebeneinander auf die zweite Couch setzten und nahm selber den freien Sessel.
„Euch interessiert bestimmt, was hier los ist“, stellte Tinto fest und rückte seine Brille zurecht, „Wir werden es euch erzählen, aber wir hoffen auch, dass ihr danach bereit sein werdet uns zu helfen.“
Die drei Mädchen auf dem Sofa nickten ernst. Ich brauchte die Geste nicht zu tun, mich ging das hier ja im Prinzip noch nicht mal etwas an. Trotzdem war ich froh, dass ich auch dabei sein durfte. Mein fantasiefreudiges Gehirn war bereits viel zu neugierig, um sich jetzt mit einer Abweisung abfinden zu können. Ich wollte auch wissen, was hier los war.
„Gut.. wir fangen wohl besser mit der Kurzfassung der Geschichte der Rei an.“ Tinto schien nach dem für uns einfachsten Anfangspunkt zu suchen. „Schon seit langer Zeit gibt es das geflügelte Volk der Rei, das einst mit den Menschen zusammen auf der Erde gelebt hat. Es herrschte Frieden, bis ein König der Menschen aus Eiversucht auf die Flugfähigkeiten der Rei begann Jagd auf diese zu machen. Das Volk wurde so an den Rand der Verzweiflung getrieben, dass sie schließlich begonnen haben ihre eigenen Länder durch Magie in die Luft zu heben und fortan über den Wolken außer Reichweite der Menschen zu leben.“
„Wow.. wieso haben wir nie etwas davon gehört?“, fragte Caro dazwischen. Dabei stieß sie mit ihren Flügeln Nemu und Yasmine an, von denen sie sich daraufhin leicht verärgerte Blicke einfing.
„Ihr hättet nie davon hören können“, antwortete Mikhail, „Dies ist nicht die Welt, aus der ihr kommt. Sie ist praktisch gesagt ihr Spiegelbild, das sich allerdings ohne Einfluss seiner anderen Seite weiterentwickelt. Sie sind sich im Grunde relativ ähnlich, nur ist diese hier technisch nicht so weit vorangeschritten wie eure und hier leben Tier- und Pflanzenarten, die es auf eurer Seite niemals geben wird. Das sind im Prinzip die einzigen wirklichen Unterschiede.“
Das haute rein. Wenn ich in einer meiner Geschichten nicht selbst schon die Theorie von mehreren Welten gehabt hätte, hätte diese Erklärung mich wahrscheinlich glatt vom Hocker gerissen. So wie Caro und Nemu, die beide nur höchst verblüfft aussahen. Yasmine wirkte zwar ebenfalls etwas überrascht, aber längst nicht so sehr wie die anderen beiden. Ich selbst war zugegeben aber auch erstaunt. Meine Fantasie war schließlich doch etwas anderes und ich hätte nicht erwartet, dass es tatsächlich möglich wäre. Wobei man sagen musste, dass es irgendwie auch super cool war. So was erlebte man wirklich nicht alle Tage. Und bei dem, was wir innerhalb der letzten Stunde erlebt hatten, fiel es uns nicht weiter schwer diese Geschichte zu glauben. Selbst mir nicht.
Tinto räusperte sich nach einigen Sekunden der Stille. „Der Friede hat allerdings nur so lange angehalten, bis plötzlich eine dritte Seite aufgetaucht ist“, erzählte er weiter, „Die mit den pechschwarzen Flügeln, die ihr heute schon gesehen habt. Die Nemesis. Sie sind aus den Genen verstorbener Rei entstandene Klone, die uns, die Echten, auslöschen wollen. Sie sind auch kurz davor dieses Ziel zu erreichen. Von den einst hunderten Landstrichen, die über den Wolken schwebten, ist nur noch dieser hier übrig. Reilong, von dem auch gesagt wird, dass es das Ursprungsland der Rei ist.“
Nur noch eines von hunderten war übrig? Wie stark waren diese Nemesis? Das hörte sich alles andere als gut an.
„Dieses Land existiert auch nur noch, weil unsere Prinzessin ihre gesamte magische Kraft dazu benutzt dieses Land über den Wolken zu halten und außerdem auch noch eine schützende Barriere zu errichten.“
„Die Wolken“, schoss es mir durch den Kopf. Also waren sie nicht nur ein Sichtschutz, sondern auch noch eine Barriere gegen die Nemesis.
Tinto nickte. „Da die meisten der Rei über die lange Zeit des Kampfes ihre magischen Kräfte eingebüßt haben, ist die Prinzessin die Einzige, die noch in der Lage ist dieses Reich zu beschützen. Und darum gibt es Krieger wie uns, die sie beschützen und gegen die Nemesis kämpfen, wenn sie diesem Ort zu nahe kommen.“
„Wie lange willst du noch rumreden?“, fragte Ravi, der bereits tiefer gerutscht war, „Mir ist langweilig.“
Der Zweitälteste holte kurzerhand aus und verpasste dem Jungen einen Faustschlag direkt von oben auf dem Kopf, wobei er sich über Luke hinweg beugen musste, welcher das mit nüchternem Gesichtsausdruck beobachtete. Er war mehr damit beschäftigt die weiße Katze auf seinem Schoß zu streicheln. Auch wenn ich in diesem Palast ehrlich gesagt nicht mit einem so kuscheligen Vierbeiner gerechnet hatte.
„Aua!“ Der Jüngste rieb sich den Schädel. „Was sollte das denn?“
„Das bekommst du für dumme Kommentare zu solch unpassenden Zeitpunkten“, erwiderte Tinto.
„Aber wenn das hier eigentlich ein Kampf zwischen Rei und Nemesis ist, warum befinden sich dann auch die Menschen im Krieg?“, fragte Yasmine.
„Weil die Nemesis auch die Menschen angreifen“, antwortete Mikhail ernst, „Sie glauben uns so herauslocken zu können. Ihr Plan ist leider auch ziemlich gut, da es uns wirklich schwer fällt zuzusehen, wie die Menschen – die unsere Existenz schon beinahe vergessen haben – sich gegenseitig vernichten.“
„Wieso tun sie das?“, fragte ich verwirrt.
Der Älteste sah mich mit einem durchdringenden Blick an. „Es ist ganz einfach“, sagte er tonlos, „Alles, was die Nemesis tun mussten, war ein paar Länder anzugreifen und es so aussehen zu lassen, als wären es einige der anderen gewesen. Da sie dies sogar über die Kontinente hinweg getan haben, ist es innerhalb kürzester Zeit trotz der besten Versöhnungsversuche der wenigen vernünftigen Länder zu einem Weltkrieg gekommen, wie ihn noch keine der beiden Welten erlebt hat. Was ihr gesehen habt, ist noch meilenweit entfernt von den schlimmsten Zuständen.“
Wir sahen ihn nur entsetzt an. Weltkrieg? Über die Kontinente hinweg? Das war das Schlimmste, von dem ich je gehört hatte. Egal ob ich aus einer anderen Welt stammte und die Menschen hier noch nicht mal kannte, es war schrecklich. Solch einen Krieg wünschte man doch nicht mal seinem schlimmsten Erzfeind. Und die Nemesis hatten ihn einfach so gnadenlos heraufbeschworen, nur um die Rei aus ihrem Versteck zu locken?
„Was zum Teufel ist das für ein kranker Schwachsinn?“, fragte ich entsetzt.
„Selbst wenn wir uns zeigen würden, würde sich nichts an dem Zustand der Menschen ändern“, fügte Mikhail hinzu, „Was sie brauchen ist ein Wunder. Wir würden genauso enden wie sie, wenn wir aufhören uns zu verstecken. Und uns fehlt die militärische Stärke, um ernsthaft gegen die Nemesis ankommen zu können.“
Das konnte doch nicht wahr sein. Mir fehlten Worte wie Gedanken, um auszudrücken, was ich von dem Zustand hier hielt. Meinen drei Freundinnen schien es ähnlich zu ergehen. Bestürzung zeichnete sich auch auf ihren Gesichtern ab, Yasmine – die sich so etwas immer besonders zu Herzen nahm – war sogar ein wenig blass.
„Man erzählt sich jedoch eine Prophezeiung der Prinzessin“, sagte Tinto auf einmal, „Wenn die Zeit der Rei sich dem Ende neigt und auch die Menschen in den Krieg gestürzt werden, sollen vier magische Wächterinnen aus der anderen Welt erscheinen. Normale Menschen in der Parallelwelt, hier sind sie Kriegerinnen mit unbeschreiblichen magischen Kräften und der Kontrolle über die Gewalten der Natur. Ihnen soll es möglich sein die Nemesis zu besiegen und damit sowohl den Rei als auch den Menschen wieder den Frieden zu geben.“
Ich ahnte sofort, worauf er hinauswollte, und meine Freundinnen schienen es ebenfalls zu begreifen.
„Wir bitten euch.“ Tinto sah die drei ernst an. „Ihr drei, die ihr das Wasser, Feuer und die Elektrizität beherrscht, leiht uns eure Kraft um die Nemesis endlich zu besiegen.“