Hope Dies Last
2054. Die Zahl sprang mir ins Auge.
So war es jedes Mal wenn ich mein zerfleddertes Geschichtsbuch öffnete. Es gab fast keine Seite darin, auf der die markante Zahlenfolge nicht auftauchte. Es war eben dieses Jahr, das alles Menschliche auf Planet Erde für immer verändert hatte. Fauna, Flora und das ganze Leben. Ich habe die Welt, wie sie vorher gewesen sein soll, nie kennengelernt. Nur von alten Fotos kenne ich den Anblick grüner Wiesen, auf denen Hasen und Eichhörnchen unbeschwert tollen; oder der beleuchteten Skyline von Städten und die
Anmut von donnernden Regenwolken am Himmel, die Wasser schenkten.
Ich bin erst zwei Jahre später geboren. Zwei Jahre nach dem großen Unglück. Heute bin ich Neunzehn. Ich bin Neunzehn und lerne zu überleben, auf einer traurigen Erde, auf derer Oberfläche jeder kleinste Schritt den Tod bedeuten kann.
Mein Name ist übrigens Hope.
Seufzend klappte ich das Geschichtsbuch zu und warf es auf den morschen Holzschreibtisch. Dann krabbelte ich zurück auf mein Bett, das unter meiner Last leise knarrte und lehnte mich gegen die graue Steinwand, die mein Zimmer einschloss. Fensterlos,
nur mit kleinen Luftfiltern in den Ecken, so wie überall in der überschaubaren Siedlung. Wir waren weniger als Fünfzehn Familien und nur selten wurden neue Kinder geboren, geschweige denn ernsthafte Beziehungen geknüpft.
Man hatte sich lange schon an den Gedanken gewöhnt, früher oder später auszusterben.
Während ich mir den Kopfhörer meines Mp3-Players ins Ohr steckte, musste ich mild lächeln. Das winzige Gerät gehörte einmal meiner Mutter. Es war kümmerlicher Überrest der Vergangenheit. Und sehr wahrscheinlich auch der Einzige.
Stumm lauschte ich den Klängen, die in meiner Ohrmuschel rauschten, und sich von da aus ihren Weg durch meinen Kopf bis hin zu meinem Herzen bahnten. Irgendwelche Lieder von Künstlern, die nicht mehr lebten, so wie Millionen andere Menschen auch. Unbeschwerte Rhythmen, ohne Angst vor dem was irgendwann kommen mochte.
“Hope.”, der schwere Stoff am Eingang zu meinem Zimmer wurde zurückgeschlagen.
Das Mädchen, das eintrat hatte kaum Ähnlichkeit mit mir. Ihr blondes Haar hing dünn und strähnig vom Kopf herab, die blauen Augen sahen mich erwartungsvoll an. Und ich mit meinem
schwarzen kurzgeschnittenen Haar und den dunklen Augen beschrieb ihr Gegenteil. Wie ein Negativ. Heaven war meine Zwillingsschwester.
Unsere Eltern hatten einen Hang zu ungewöhnlichen Namen. Ich konnte es ihnen kaum übel nehmen.
“Ist etwas passiert?”, fragte ich leise und schaltete den Mp3 in meiner Hand aus.
“Vater will, dass wir zu ihm kommen. Wir sollen ihm helfen.“, antwortete Heaven tonlos, bevor sie sich umdrehte und ohne weitere Worte den Raum verließ. Einen kurzen Moment zögerte ich und starrte an die Stoffbahnen, die noch hin und her schwangen, so als
erwartete ich, dass meine Schwester zurück käme, dann stand ich langsam auf und trat endlich hinaus auf den mit Brettern und Eisenstangen stabilisierten Gang. Ich schaute flüchtig nach links. Dann nach rechts. Die alten Kerzenleuchter erleuchteten die Wege kaum. Als sähe ich das Bild dieses einsamen Tunnels, der alles Licht verschluckte, zum ersten oder zum letzten Mal, rührte es mich beinahe zu Tränen. Ich schluckte zerstreut.
Das Gestein unter meinen nackten Füßen war angenehm kalt.
Je weiter ich ging, desto heller wurde es. Ich erreichte schließlich einen großen Saal mit Tischen und Stühlen.
Überall hatten sich kleine Gruppen gebildet. Einige Mädchen und Jungen in meinem Alter, die angeregt diskutierten, aber deutlich mehr Alte.
Zwei Kinder, saßen dazwischen, die mit Holzautos und Murmeln spielten. Sie waren mit Vier und Acht Jahren unsere beiden Jüngsten und streng behütet.
An einem einzelnen Tisch, weit hinten am anderen Ende des Raumes, sah ich meinen Vater. Heaven stand neben ihm. Und als ich selbst näher herantrat, bemerkte ich, dass auch mein älterer Bruder Kevin bei ihnen saß.
“Da bin ich.”, betonte ich stimmhaft und stellte mich zu meiner
Schwester.
Mein Vater schaute ernst. Seine Pupillen waren seltsam verengt. Schließlich haftete sein Blick auf mir: “Hört zu Kinder. Wir brauchen Wasser von oben. Der Brunnen ist schon wieder leer. Und unsere Familie ist an der Reihe.” Ich nickte.
“Mein Bein schmerzt noch immer.”, fuhr er fort, als niemand antwortete, “ Kevin wird an meiner Stelle gehen. Aber ich möchte nicht, dass euer Bruder allein rauf geht. Es ist es zu gefährlich, wenn man sich nicht auskennt. Eines von euch Mädchen soll ihn begleiten.”
Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Heaven einen Schritt rückwärts
taumelte. Ihr Atem wurde angespannt flach.Ich seufzte, “Ist gut. Ich gehe mit Kevin.”Einstimmendes Nicken. Mein Vater hatte nichts anderes erwartet. Mein Bruder auch nicht.
“Hol deinen Umhang. Und vergiss nicht dir Schuhe anzuziehen. Wir treffen uns an der Treppe.”, sagte letzterer schließlich und stand auf. “Ihr müsst zurück sein, bevor die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hat.”, mahnte unser Vater. Seine Augen glänzten. Ich nickte abermals. Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und lief zurück in mein Zimmer.
Zehn Minuten später stapfte ich die verkohlten Stufen hoch, bis zu einer
improvisierten Tür aus uralten Holzlatten, die ihren Zweck gerade noch erfüllte. Licht schnitt durch ihre zahllosen Balken, hinein in den dunklen Gang. Die Treppe war der einzige Weg aus dem unterirdischen Höhlensystem. Es war der letzte Ort, wo Menschen seit jeher leben und lachen konnten. Nur Wenige setzten regelmäßig einen Fuß nach draußen; und diese, entweder weil sie es mussten, oder weil sie lebensmüde waren und den Tod suchten.
“Setz die Kapuze auf.”, bemerkte Kevin beiläufig, als er die Holztür aufstieß. Augenblicklich strömte schwülheiße Hitze entgegen. Instinktiv legte ich den Arm über die Augen. Das grelle Licht
blendete und ließ mein Herz unkontrolliert in meiner Brust hämmern.
Mein Bruder trat als Erstes ins Freie. Mit einem kurzen Blick zurück in die vertraute Dunkelheit folgte schließlich auch ich ihm. Sand knirschte sogleich unter meinen Schuhen. Die Luft war dünn, aber meine Lungen gewöhnten sich schon nach einigen schnellen Atemzügen daran. Nur mit stählerner Mühe widersetzte ich mich dem plötzlichen Drang, meinen Blick nach oben, in die Sonne, zu richten. Es hätte mich das Augenlicht kosten können. Ich wagte es nicht, stattdessen beobachtete ich meinen Bruder. Kevin stand regungslos da und schaute sich nach
allen Seiten um, bevor er allmählich los stiefelte.
Mit einer flüchtigen Handbewegung, bedeutete er mir mitzukommen.
Mein Bruder war fünfundzwanzig. er hatte in der Welt gelebt, wie sie früher war. Drei Jahre. Gerade lang genug, um krabbeln und stehen zu lernen. Lang genug, ein paar Worte zu brabbeln und die Umwelt selbstständig wahrzunehmen. Manchmal fragte ich mich, ob er sich noch erinnern konnte, dass Schmetterlinge damals Kreise um Blumenbeete zogen und die Menschen sich draußen auf die Sonne freuten. Aber dort, wo wir heute entlang gingen und hinsahen, standen keine Bäume mit
prächtigen grünen Kronen mehr, in denen Vögel Unterschlupf fanden und fröhliche Melodien sangen. Keine Spielplätze, auf denen Kinder sich austobten. Und auch keine Schmetterlinge. Nicht viel war uns geblieben von Planet Erde, außer einem Schlachtfeld. Es war eine trostlose Landschaft.
Die Erdoberfläche war trocken und geprägt von tiefen Schluchten und Klippen. Dort wo früher einmal Hochhäuser von Städten in die Luft ragten und sich stolz präsentierten, machten heute nur noch meterhohe Sanddünen und letzte verkümmerte Ruinen von sich reden. Dort wo einmal
Tulpen, Nelken und Gänseblümchen ihre Köpfe der Sonne entgegen streckten, war heute nur noch toter Acker. Dort wo Hasen und Eichhörnchen tollten, sah man manchmal nur ein gelbes Augenpaar aufblitzen. Und dieses Augenpaar war das Letzte was man je wieder sehen würde, bevor das Tier dem es gehörte, dich hinterrücks anspringen und zerfleischen würde. Denn die Handvoll Raubkatzen und Reptilien, die sich angepasst hatten an das brutale Leben, hatten neue Beute gefunden; Der Mensch stand nicht länger an der Spitze der Nahrungskette. Und dort wo früher Flüsse, Bäche und Seen im Sonnenlicht funkelten, fand man heute lediglich
einige Pfützen und, wenn man Glück hatte, kleine Tümpel, die der Hitze der Sonne trotzten. Und genau danach suchten wir.
Von Jahr zu Jahr war es hier oben heißer geworden. Von Tag zu Tag kam die Sonne ein Stück näher und brannte unerbittlicher. Unwetter zerstörten mit Blitzen dann das letzte bisschen zu Hause, dass uns geblieben war. Also hatten die Menschen sich unter der Erde eine neue Heimat gesucht, in der jeder Tag ein Kampf blieb.
Warum hatte niemals Jemand etwas dagegen unternommen? Ein Jahr hatte alles verändert. 2054.
Die Sonne brannte schrecklich. Ich trottete hinter meinem Bruder her. Wie lange wir schon umher wanderten, wusste ich nicht mehr. Wann wir endlich auf Wasser stoßen würden auch nicht, aber wir konnten auf gar keinen Fall ohne zurückkehren.
Mir war heiß und am liebsten hätte ich mir den schweren Mantel vom Leib gerissen, aber das hätte ich kaum überlebt. Ich wäre verbrannt. Ich riss mich also zusammen und ging einfach weiter. Kevin schaute manchmal auf mich zurück, aber er sagte nichts. Seit dem Tod unserer Mutter, redete er nicht mehr viel. Ich lächelte ihn möglichst
munter an, bis er sich abwandte.
Schweiß lief über die Stirn in meine Augen. Es brannte, aber ich gab dem Brennen nicht nach. Mein Atem wurde flach. Mir war schwindelig.
Und ich wusste, ich hätte meinem Bruder davon sagen sollen. Ich hätte eine Pause machen und mich kurz setzen sollen. Aber ich tat es nicht.
Von einem Moment auf den nächsten verschwamm das Bild von Sand und Dünen vor meinen Augen. Ich verlor das Gleichgewicht, taumelte zur Seite, und wollte mich instinktiv abfangen. Aber meine Beine traten ins Leere. Woher kam der Abhang? Ich stürzte. Das letzte was ich spürte, war ein stechender
Schmerz im Nacken, als ich auf dem harten Boden aufschlug. Dann war nichts mehr. Es wurde still und himmlisch dunkel.
Ich hörte meinen Bruder nicht, wie er für mich betete. Ich spürte seine Arme nicht, die mich aus dem heißen Sand hoben und entsetzt nach Hause trugen,
„ Hope ist tot. “
Laute Stimmen drangen irgendwann wieder mild an mein Ohr. Tausende Geräusche.Langsam blinzelnd schlug ich die Augen auf. Mein Kopf schmerzte.
Das Erste, was ich dann bewusst sah, war der wunderschöne strahlend blaue Himmel über mir. Weit und unschuldig
mit weißen Wolken. Sonnenstrahlen kitzelten angenehm warm auf meiner Haut und glitzerten freundlich. Es war nicht heiß. Es war nicht gefährlich. Ein Windzug wehte durch mein Haar. Jemand lachte. Jemand anderes brüllte einen Namen.
Vorsichtig richtete ich mich auf. Unter meinen Händen spürte ich feuchtes Gras. Grün und frisch lachte es mich an und trug mich. Neben mir, keine hundert Meter entfernt, ragten Häuser in die Höhe. Menschen eilten wie Schatten, mit schweren Einkaufstüten bepackt, von Geschäft zu Geschäft, während ratternde Autos an mir vorbei rasten. Ein Kind schleckte Eis. Vögel
zwitscherten. So ein wundervolles Leben. Ich lächelte- Meine Zukunft war verwirkt. Meine Vergangenheit zerschmettert. Meine Gegenwart verloren. Aber hier war es hell und warm. Es gab Wasser zu trinken und Millionen glückliche Gesichter.
Ich war tot. Das war das Nächste was mir auffiel. Ich war im Paradies.
-
©Fiona Wicka, 2012