Kurzgeschichte
Gutgemeinte Nachbarschaftshilfe

Gut gemeinte Nachbarschaftshilfe...

Welch Glück ist es doch, nette und hilfsbereite Nachbarn zu haben! Aber unsere Nachbarin ist garantiert die allerbeste.

Immer schon, wenn ich zu ihr hinüber lief, hatte sie einen Apfel, ein Stück Kuchen oder Süßigkeiten für mich. An Regentagen erzählte sie mir Geschichten und manchmal durfte ich mit ihrem Kaninchen spielen. Wenn ich ihm Salatblätter oder eine Karotte hinhielt, kam es neugierig angehoppelt und ich streichelte behutsam sein seidig weiches Fell.

Wenn Frau Schneider einige Tage fortfuhr, goss meine Mutter ihre Blumen und nahm die Post aus dem Briefkasten. Mir jedoch oblag es, für Niki, das Kaninchen zu sorgen.

Vor ein paar Wochen war es wieder einmal so weit.

Unsere Nachbarin verabschiedete sich, um ihre kranke Schwester zu besuchen.

„Bitte“, sagte sie zu meiner Mutter, „ich fahr´ diesmal gar nicht gerne fort. Bitte, schauen Sie doch öfter zu Niki – ich glaube, dem Hasen geht es gar nicht gut.“

„Ja, ja, machen Sie sich darüber bloß keine Gedanken. Fahren Sie unbesorgt weg, wir werden auf den kleinen Kerl schon gut aufpassen.“

Am nächsten Tag sammelte ich für Niki große, saftig grüne Löwenzahnblätter. Von Mutti erbettelte ich zwei Karotten, als plötzlich Hasso, unser Hund, vor uns stand.

Im Maul – den Hasen der Nachbarin!

Schlaff baumelte der leblose Körper über seine Lefzen.

„Um Gottes Willen!“, riefen meine Mutter und ich, „Was ist denn da passiert?“

Hasso ist zwar ein großer Schäferhund, aber sehr gutmütig. Anstandslos ließ er sich den Hasen wegnehmen.

„Bist du verrückt?“, schrie ihn meine Mutter an, „was hast du denn da angestellt?“

Der Hund trottete mit eingezogenem Schwanz davon, und ich heulte los.

„Verdrück´ jetzt keine Tränen“, maulte Mutti, „hilf mir lieber nachdenken, was wir jetzt tun sollen.“

Wir liefen in den Nachbargarten.

Das Türchen des Hasenstalls stand weit offen.  Hatte es Hasso geöffnet? Wie konnte so etwas nur geschehen? Hilflos sahen wir uns an und starrten in den leeren Stall.

Abends großer Familienrat.

Vater sagte: „Wir kaufen einen neuen.“

„Nein“, konterte Mutter, „das merkt Frau Schneider. Ein neuer Hase ist nicht Niki.“

„Ich könnte ihn beerdigen“, schlug ich vor, „ihm ein schönes Grab schaufeln und Blumen darauf pflanzen.“

Wiederum protestierte Mutti: „Nein, das dürfen wir Frau Schneider nicht antun. Sie hat sich solche Sorgen um das Häschen gemacht. Ich glaube, sie hat es geahnt. Nein, wir setzen Niki einfach in den Hasenstall, so, als wäre er gerade jetzt gestorben.“

„Aber, Mutti! Das ist ja geschwindelt, ist gelogen.“

„Kindchen, manchmal muss man ein bisschen schwindeln, um anderen nicht so weh zu tun.

Stell´ dir den Schock vor, wenn wir Frau Schneider sagen: „Niki ist tot, Hasso hat ihn tot gebissen.“ Das wäre furchtbar. – So aber sieht sie ihn im Hasenstall sitzen und denkt: „Na ja, jetzt ist der kleine Kerl doch gestorben, befürchtet hab´ ich ´s ja.“ – Und sie kann im Garten ein schönes Plätzchen aussuchen und ihren Niki selbst zur letzten Ruhe betten. Dann weiß sie ihn im Hasenhimmel, wo er mit anderen Hasen abfangen spielt. –

Notlügen nennt man das, mein Kind. Und der liebe Gott hat ganz gewiss Verständnis dafür.“

„Meinst du wirklich? Aber schaut euch Niki an. Er ist ja voll Schmutz und Erde.“

„Stimmt. Dann müssen wir ihn säubern.“

Wir versuchten, den Hasen von den klebrigen Erdklumpen zu befreien. Allein,  der Schmutz haftete hartnäckig in seinem Fell.

„Gut, so baden wir ihn eben.“

 Wir bürsteten und bürsteten ihn unter der Brause, bis er endlich sauber war. Nun aber sah er  fürchterlich aus. Von dem süßen Kuschelhäschen keine Spur mehr. Das klatschnasse, enganliegende Fell umhüllte einen armen, mageren Tierkörper.

„Bring den Föhn!“

Langsam wurde Niki wieder zu einem Kaninchen. Allerdings zu einem Kaninchen, das leider nicht mehr lebte.

Neuerlich begann ich zu heulen. Armer Niki! Arme Frau Schneider!

Vater übernahm die Rückbringung und setzte das Kaninchen im Nachbargarten in den Hasenstall.

Ganz wohl war uns bei dieser Aktion nicht, und ich betete, der liebe Gott möge uns verzeihen.

Am nächsten Tag kehrte die Nachbarin zurück. Aufgeregt klopfte sie an unsere Tür.

„Ja, was ist denn los?“ fragte Mutter.

„Ja, Niki ist tot“, murmelte Frau Schneider, „ich versteh´ das nicht!“

„Oh, der arme Kerl“, drückte meine Mutter unser Bedauern aus und legte der Nachbarin den Arm um die Schulter.

„Das ist es ja gar nicht“, entgegnete diese verstört, „ich bin ganz durcheinander.“

Ihre Unterlippe zitterte und die Augen wanderten verängstigt hin und her.

„Niki“, so sagte sie, „ist ja vorgestern schon gestorben. Weil es aber schon so spät war, konnte ich es Ihnen nicht mehr sagen.“ - 

Wieder schossen ihre Blicke unruhig hin und her.

„Wissen Sie, ich versteh´ das einfach nicht. Ich habe ihn doch noch am selben Abend im Garten begraben ...

.. und jetzt sitzt er wieder im Hasenstall.“

Wir waren sehr zerknirscht. Doch nach Mutters Erklärung war Frau Schneider sichtlich erleichtert.

Und ich war froh, dass Hasso ihn nicht tot gebissen, sondern nur ausgebuddelt hatte. Und auf Nikis Grab durfte ich Blumen pflanzen.