Ich bin am Friedhof, der Bestatter fährt gerade den Leichnwagen vor die Leichenhalle. Mein jüngster Sohn wirft seine nur halb gerauchte Zigarette weg. Sichtlich aufgewühlt geht er Richtung Leichenhalle. Der Sarg mit der seitlichen Schnitzverzierung, in dem meine sterblichen Überreste liegen, wird auf einer Schiebevorrichtung aus dem Auto herausgeschoben, direkt auf einen Transportwagen. Jetzt schieben sie diesen in Richtung Aufbewahrungsfläche. Dort wird mein Leichnam die nächsten Tage liegen. Heute ist Donnerstag. Die Beerdigung ist erst am Dienstag. Solange bleibt der Sarg mit meiner Hülle hier, gekühlt von einer Kühlanlage. Sie nehmen den Deckel des Sarges ab. Jetzt kann ich meinen verstorbenen Leib sehen. Gut sieht er aus. Rosen rechts und links neben meinem Kopf, die Haare schön gekämmt, die Augen geschlossen, der weiße Rosenkranz gehalten von meinen leblosen, gefalteten Händen, die auf einer beigen Decke liegen, deren Rand etwas dunkler gehalten ist. Ein kleines Rosengesteck liegt auch darauf. Ich hätte nicht gedacht, dass ich als Leiche so attraktiv aussehe. Gefällt mir, wie ich so daliege. Jetzt bemerke ich, dass mein jüngster Sohn in Tränen ausgebrochen ist. Er kann sie nicht mehr zurückhalten. Ich frage mich um was er weint? Er weint, weil er mich letztes Wochenende nicht besucht hat und auch die ganzen Tage davor sich nicht die Zeit nahm mich zu besuchen. Er weint, weil er mein nahes Ende verdrängt hatte. Ja mein Söhnchen, die Gelegenheit hast Du verpasst, die kommt auch nicht mehr. Deine Mutter ist aus Deinem Leben gegangen, hat ihr Lebenskleid abgelegt. Das was ich jetzt bin siehst, hörst, fühlst du nicht mehr. Dennoch bin ich, aber das weißt du noch nicht. Noch ein bisschen Leben, dann wirst auch du verstehen, so wie ich nun verstehe. Alles hat seine Zeit.
Ich würde ihm gerne sagen, dass alles gut ist, wie es ist und dass er seine Gründe hatte, die ihn von meinem Pflegebett fernhielten. Ich kann es nicht mehr. Mein liebes jüngstes Kind auch das wirst du verarbeiten. Wenn du dir deine eigene Geschichte oft genug angehört hast, wirst du ihrer überdrüssig sein und eine neue erzählen. Auch diese wird ihr Ende finden. Es sind Geschichten, gebildet aus Gedanken, die Gefühle erzeugen und umgekehrt.
In meinem momentanen Bewusstseinszustand gibt es das, was ich früher als Mitleid bezeichnet hätte nicht. Es gibt nur die glasklare Sicht auf das was gerade geschieht. Es gibt kein Bereuen, keine Vorwürfe, keine Hoffnung, nichts dergleichen. Es ist eine himmlische Ruhe , mag da geschehen was immer geschehen mag, sie verändert sich nicht. Kein einziger Gedanke stört diese Einheit mit dem Geschehen.
Er weint immer noch. Der Bestatter legt zusammen mit einem Gehilfen nun einen Plexiglasdeckel auf den Sarg. So ist der Leichnam in einem geschlossenen gekühlten Bereich und wer mein Lebenskleid noch einmal sehen möchte, kann es dennoch tun. Der Bestatter übergibt meinem Sohn den Schlüssel der Leichenhalle. Er verabschiedet sich nach Bestatterart mit einem tröstenden Spruch und lässt meinen Sohn mit meiner sterblichen Hülle allein in der Leichenhalle.
„Schön siehst du aus“, schluchzt er. „Es tut mir so leid, dass ich dich nicht besucht habe die letzten Tage. Ich fühle mich so unendlich schuldig, weil ich nicht da war, als du gegangen bist. Es tut mir jedes ungeduldige Wort leid, das ich dir im Leben sagte. Es ist mir nicht möglich in Worte zu fassen was ich fühle. Es zerreißt mich, es drückt mir auf das Herz, es fühlt sich so kalt an. Du wirst eine schöne Beerdigung haben. Mit Rosenkranz, Seelenamt, der Kirchenchor wird singen, so wie es dir immer gefallen hat, wenn du auf Beerdigungen warst. So haben wir alles geregelt.“
Still lausche ich ihm. Ich kenne seinen Schmerz sehr wohl. Es war eine schmerzerfüllte Zeit, als mein Mann vor vielen Jahren starb. Ich weiß genau, was Mensch fühlt in dieser Situation. Und ich weiß, dass er es überwinden wird, wie ich es damals auch tat. Alles hat seine Zeit.
Er weint und schluchzt, Tränen tropfen auf den Plexiglasdeckel. Er wischt sie mit dem Ärmel seiner Strickjacke ab. Seine Hände liegen übereinander auf dem Deckel. Seine Stirn darauf. So beweint er das vergangene Leben seiner Mutter.
Die ganze Betriebsamkeit hat ihre Wichtigkeit verloren. Alle nicht stornierbaren Termine auf wundersame Weise abgesagt. Die Welt dreht sich weiter. Und ein Todesfall rückt im Leben alles zurecht. An den ihm zustehenden Platz. Das Untere kann dabei nach oben rücken und das Oberste ganz nach unten. Ich weiß, es dauert nicht lange und das Leben verrückt wieder alles. Verrückt!
KAPITEL
1. Kapitel - Weisheit braucht alle Teile
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2. Kapitel -Â Beim Bestatter
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3. Kapitel - Blumenherz und Blumenkranz
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4. Kapitel - Trauerhalle
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Â
5. Kapitel - Beim Steinmetz
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