Beschreibung
"Entartetes Wesen"
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Bildquelle:
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Die ersten Sonnenstrahlen fielen ins düstere Wasser und ließen die Algen auf den Steinen goldlich schimmern. Es war zu einer Gewohnheit geworden, jeden Morgen vor Sonnenaufgang in den abgelegenen, versteckten See ins eiskalte Wasser zu tauchen, um die natürliche Schönheit der Welt unter der Wasseroberfläche zu bewundern, wenn einzelne Lichtstrahlen durch das Gewässer schlichen.
Der See war mein einziger Rückzugsort, die sanften Wellen hatten immer eine beruhigende Wirkung auf mich und wiegten mich wie eine Mutter ihr Kind in den Armen. Erst in dem stillen, vertrautem Wasser konnte ich klar denken, meine Gedanken sortieren - Entscheidungen treffen. Anfangs verscheuchte ich alle Fische durch meine Größe, Bewegungen und vor allem meine Kiemen. Mittlerweile ist mein Auftauchen für sie selbstverständlich geworden. Ein für seine Art ziemlich winziger Hasel schien mich in sein Herz geschlossen zu haben, denn er wich mir nie von der Seite, sobald ich unter Wasser war.
Ich ließ mich langsam treiben, drehte mich auf den Rücken und konnte den Himmel durch die Wasseroberfläche erkennen, während kleine, helle Tüpfelchen der Sonnenstrahlen über mir tanzten.
Mir war klar, dass ich gegen eine sehr wichtige Regel verstieß, wenn ich ohne Begleitung in diesem ungeschütztem See schwamm. Meine "Protectors" (dt: "Beschützer") hatten mich immer davor gewarnt, dass undestilliertes Wasser meinen Kiemen schaden würde, winzige Wasserpflanzenbakterien meine Schwimmhäute reizen würden und natürliche, nicht abgeschirmte UV-Strahlung meine Sehstärke schwächen würde. Dennoch fühlte ich mich jeden Morgen zum See hingezogen.
Man konnte ihn nicht mit den künstlich angelegten, mit Gummipflanzen und Roboterfischen gefüllten Pfützen vergleichen, in denen ich wie ein Fisch im Aquarium von meinen „Protectors“ beobachtet wurde, während jede meiner Bewegungen analysiert und sogleich an die Bundeszentrale „Degenerated Creatures of Gill Breathing“ („Entartete Wesen mit Kiemenatmung“) weitergeleitet wurde. Ich konnte meine „Protectors“ und deren prüfendene Blicke kaum ertragen, Tag für Tag fühlte ich mich mehr wie ein Versuchsobjekt als ein menschliches Wesen. Ich wusste weder, wozu sie die Daten nutzten, noch wie lange dieses Projekt fortdauern würde. Jedes Mal, wenn ich in diesem künstlichen Aquarium schwamm, erinnerte ich mich an das Leben vor dem Projekt, als ich an einer Meeresküste, meinem Zuhause, gelebt hatte. Ich vermisste die Freiheit entscheiden zu können, wann und wo ich schwimmen wollte. Ich vermisste die wilden, natürlichen Wellen des launischen Meeres, selbst die nächtlichen Stürme würde ich den monotonen Pfützen der DCoGB vorziehen.
Schon sehr oft hatte ich eine Flucht in Erwägung gezogen, spurlos zu verschwinden, alles hinter mir zu lassen. Doch bis jetzt hatte ich nur die Peiler in meinen Kiemen so manipulieren können, dass ich unbemerkt zu diesem See schleichen konnte, wo ich mich für ein paar Stunden zurückziehen konnte.
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich mich im Meer unbeschwert treiben lassen könnte, wenn das Projekt abgeschlossen sein würde.
Der ohrenbetäubende Lärm eines Helikopters drang durch die Oberfläche und verscheuchte die Fische in kleine Steinspalten und Höhlen. Ich erwachte aus meinem Halbschlaf und steuerte auf den Seeboden zu, in der Hoffnung nicht erkannt zu werden. Schon spürte ich, wie mindestens fünf Männer in schneeweißen Neoprenanzügen die Wasseroberfläche durchdrangen und mich bedrohlich umkreisten. Es waren „Cleaner“ der DCoGB, die verantwortlich für Sauberkeit und Ordnung während der Projekte waren. Sie waren bekannt für brutale Maßnahmen zur Beihaltung der Disziplin bei den Versuchswesen wie mir. Ich hatte gehört, dass sie streikenden Objekten so etwas wie eine Gehirnwäsche verpassten, nach der sie sich widerstandslos untersuchen ließen. Anscheinend hatten meine "Protectors" mein Entkommen gemerkt und daraufhin die "Cleaner" auf mich gehetzt. Vielleicht konnte ich sie davon überzeugen, dass ich hier nur eine Auszeit brauchte und dass ich nicht vorhatte, das Projekt abzubrechen? Bevor ich eine Erklärung liefern konnte, fingen sie mich in einem Netz mit metallischen Strängen. Wie ein Fisch begann ich zu zappeln, versuchte mich durch eine Lücke zu hieven und sogar die Stränge durchzubeissen. Das brachte die "Cleaner" nur zum glucksenden Lachen, wobei winzige Luftblasen nach oben stiegen. Als sie sich wieder beruhigt hatten, zogen sie gleichzeitig an allen Enden des Netzes und plötzlich fühlte ich am ganzen Körper elektrische Schläge. Je mehr ich um mich schlug, desto stärker und schmerzhafter wurden die Schläge. Schließlich gab ich auf und hielt still, während mich die "Cleaner" zufrieden an die Wasseroberfläche zogen.
Ich wusste, dass das mein letzter Seeausflug für den Rest meines Lebens war und schloss erschöpft die Augen.
Welche Strafe würde mich jetzt erwarten?