Kurzgeschichte
... Sagen Sie nichts ...

Sehr geehrter Herr Nachbar,
Ohne jeden Zweifel kann ich mich daran erinnern, wie der junge Mann vor meiner Haustür umgebracht wurde. Aber getan habe ich nichts. Was hätte ich auch tun sollen. Sagen Sie nichts, ich bin mir im klaren darüber, dass die Sozialcourage es gebietet einzuschreiten. Aber wissen Sie, ich bin keine zwanzig mehr, athletisch würde ich mich auch nicht mehr bezeichnen. Ganz im Gegenteil. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass ich richtig gehandelt habe. Stellen Sie sich einmal vor, ich hätte eingegriffen. Womöglich hätte mir etwas zustoßen können, ich bin ja praktisch der einzige Zeuge, der primäre Zeuge einer Gewalttat die das Leben eines jungen und unschuldigen Mannes gefordert hat.

Wie könnte ich dann weiterleben, wenn eine Aufklärung nicht möglich wäre.Ich kann der Gesellschaft und der Justiz am besten helfen, wenn ich am Leben bin und meine Aussage ordnungsgemäß beim nächsten Polizeirevier zu Protokoll gebe, obwohl man mit solchen Dingen nichts zu tun haben möchte.Sie kennen ja die Leute hier bei uns, es würde nicht heißen, dass ich Ämter und Behörden bei der Aufklärung eines Verbrechens unterstütze. Nein, hier würde es heißen: „Er ist ein eine Mordsache verwickelt“. Stellen Sie sich das mal vor, von Justitias befohlenem Rächer zum Handlanger in einer Mordsache. So wird es einem gedankt, die Hingabe an die gerechte Sache.

Aber nun weg von selbstloser Aufopferung und hin zum eigentlichen Grunde meines Schreibens. Ich hoffe, dass es möglich ist, in diesem ganzen Tohuwabohu, welches seit gestern Nacht hier herrscht einen kühlen Kopf zu bewahren, insbesondere den bereits oben erwähnten Leuten gegenüber, die sicherlich schon jetzt vor ihrer Tür kampieren nur, um auch ja alles mit zu bekommen. Aus diesem Anlass, Herr Nachbar, möchte ich Sie nur um eines bitten, sagen Sie nichts.

(c) Jan S. Grupe