Kapitel 1
Nymphadora
„Mum, Dad, ich bin wieder zu Hause!“ Ich knallte die Haustür zu und stürmte in die Küche. Die beiden standen gerade am Herd und bereiteten das Mittagessen zu.
„Hallo Lillija.“ Mum kam zu mir und nahm mich in den Arm.
„Ich habe dir schon mal gesagt, dass du mich Nymphadora nennen sollst“, sagte ich trotzig. Lillija war zwar auch ein schöner Name, doch da Dad immer Lilly zu Mum sagte, waren mir die Namen viel zu ähnlich.
„Tut mir Leid.“ Sie ging wieder zu Dad und rührte eifrig in einem der Töpfe herum. „Das Essen ist gleich fertig, kannst du bitte den Tisch decken?“
„Klar.“ Ich warf meinen Rucksack in die Ecke und verteilte das Geschirr und Besteck auf dem Tisch.
Keine Minute später war das Essen auch schon fertig. Meine Eltern hatten Gulasch mit Rotkraut und Klößen gemacht, und wie immer schmeckte es großartig.
„Und, wie war die Party?“, fragte Dad neugierig.
„Ach es ging. Die meisten waren zu Schluss sturzbetrunken und haben einfach nur genervt.“ Gestern Abend war ich mit Nikita, meinem Cousin und gleichzeitig besten Freund, auf einer Party gewesen. Im Gegenteil zu den anderen tranken wir immer kaum etwas, sodass es auch gestern nur ein Bier bei mir wurde.
„Und freust du dich schon auf deine neue Schule?
„Das, soll das ein Verhören werden oder was?“
„Darf ich etwa nicht fragen?“ Er sah mich bestürzt an und stopfte sich sein Essen in den Mund.
„Doch.“ Ich blickte misstrauisch zwischen ihm und Mum hin und her. „Also… morgen Abend geht mein Flug, oder?“
„Ja.“ Mum nahm meine Hand und drückte sie kurz. „Wenn du willst, kann ich dir ja beim Packen helfen.“ Ich entdeckte einige Tränen, die ihr langsam in die Augen stiegen. Als ich sie ansah, musste ich plötzlich lächeln. Dad hatte recht, sie war wirklich wunderschön, bei allem, was sie tat. Ihre weißen Haare reichten ihr bis zur Hüfte, und ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie je kürzer waren. Von ihr hatte ich auch die braunen Augen, die so gut zu meinen braunen Haaren passten. Ich war jedoch deutlich größer als sie. Sie war etwa 1,60m groß und ich genau 1,70m. Wenn jemand nicht wusste, dass ich ihre Tochter war, hätten wir genauso gut Schwestern sein können.
„Ja, klar“, sagte ich lächelnd.
Nach dem Essen gingen wir sofort rauf in mein Zimmer. Wir hatten ein riesiges Haus mit Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, zwei Bädern und vier Schlafzimmern. Wir waren zwar nur zu dritt, aber Dad hatte oft Besuch von irgendwelchen Leuten, die mit seiner Arbeit zu tun hatten und auch hier übernachteten.
Ich holte zwei riesige Koffer von meinem Schrank und warf einige Sachen hinein. „Meinst du, in Italien wird es im Winter auch kalt?“
„Ja, sehr kalt im Vergleich zum Sommer.“ Sie ging in ihr Zimmer und kam kurz darauf mit einem großen Karton zurück. „Das ist für dich, Nymphadora.“ Sie reichte mir den Karton und sah mich erwartungsvoll an.
Ich legte ihn vor mich und hob vorsichtig den Deckel ab. Ion dem Karton befand sich ein wunderschöner, weißer Mantel, an dessen Kapuze, Ärmeln und Saum schwarzes Kunstfell angebracht war. Darauf lag noch eine silberne Kette, an der sich kleine, lilafarbene Edelsteine befanden. „Mum, das… hätte doch echt nicht sein müssen“, stotterte ich.
„Wir werden uns ab morgen kaum noch sehen, also… wollte ich dir wenigstens noch einen Gefallen tun, bevor du abreist.“
Ich fiel ihr in die Arme und drückte sie fest. „Danke, Mum, ihr seid die besten“, sagte ich glücklich. Wenn ich jetzt daran dachte, dass ich morgen Abend nicht mehr hier sein würde, stiegen auch mir Tränen in die Augen. „Ich will nicht mehr nach Italien“, schluchzte ich leise.
„Du musst aber.“ Mum löste sich von mir und lächelte mich traurig an. Auch sie weinte, ertrug es jedoch deutlich gefasster als ich. „Nymphadora, Fortezza ist wirklich toll. Ich hatte damals zwar viele Probleme dort, aber… wenn ich nicht dort hingegangen wäre, hätte ich deinen Vater nie kennengelernt.“
„Ja, das hat Dad mir auch schon gesagt…“ Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und legte den Mantel sorgfältig in einen der Koffer. „Was werdet ihr eigentlich machen, wenn ich in Fortezza bin?“
„Wir werden wieder als Hüter arbeiten.“
„Ich dachte, du hast deinen Abschluss nicht gemacht?“, fragte ich überrascht.
„Das habe ich auch nicht, doch bevor dein Vater und ich ausgewandert sind, gab es in Fortezza extra ein Fest, auf de ich vorzeitig die Lizenz erhielt, als Hüter zu arbeiten.“
„Und… was macht ihr da so?“, fragte ich neugierig.
Sie lächelte jedoch nur und reichte mir noch einige Sachen, die ich in den Koffern verstaute.
„Ja, ich wie, das geht mich noch nichts an.“
„Weißt du, ich war damals genau wie du“, sagte sie lächelnd. „Ich habe deinen Vater auch ständig gefragt, was denn eigentlich seine Aufgabe außerhalb der Schule ist und was mich nach meinem Abschluss erwartet, aber er wollte es mir nie sagen. Und als ich es selber herausgefunden habe, wünschte ich mir, dass ich es nie erfahren hätte“, erklärte sie ernst.
„Oh, also… war das eines der Probleme, die du damals hattest?“
„Ja, eines von vielen.“ Sie ging zu meinem Schreibtisch und holte einige Bilder, die sie in meinen Rucksack packte. „Wahrscheinlich wirst du sogar noch dieselbe Direktorin wie ich haben“, lachte sie, „dabei war Zanolla damals schon uralt. Ich habe sie übrigens gebeten, dir ein Einzelzimmer zu geben.“
„Okay… kann ich heute Abend wieder zu Nikita und den anderen?“
„Ja, klar. Wir wollten sowieso noch mal zu Svetik und Grischenka.“
„Super, dann können wir ja zusammen gehen.“ Ich stand auf und suchte mir ein neues Outfit für heute Abend zusammen. Es bestand auf einem trägerlosen Top, einem Minirock mit Rüschen und einer pinkfarbenen Leggings.
„Willst du wieder auf eine Party?“, fragte Mum überrascht.
„Wahrscheinlich, ja. Darf ich etwa nicht?“
„Doch, heute ich schließlich dein letzter Abend hier.“ Sie stellte sich hinter mich und legte die Kette um meinen Hals.
„Vielen Dank, um.“
„Nymphadora, du brauchst dich nicht ständig bei mir bedanken.“ Sie drückte mir einen kurzen Kuss auf die Stirn und verschwand im Bad.
Ich lief die Treppe zum Wohnzimmer hinunter und setzte mich neben Dad auf die Couch.
„Und, hast du alles gepackt?“
„Ja… kommst du dann mit zu Oma rüber?“
„Du willst wieder zu Nikita, was“, sagte er lächelnd.
„Irgendjemand aus seiner Klasse gibt heute eine Party für ihn.“
„Und wie lange wirst du bleiben?“
„Keine Ahnung…“ Ich sah vorsichtig zu ihm und wartete darauf dass er sagte, wie lange ich denn rausdürfte.
„Naja, wir werden ja sehen, wann du wiederkommst.“ Er wandte sich wieder zum Fernseher, doch als ich nichts sagte, ergriff er wieder das Wort. „Und… gibt es sonst irgendwas neues bei dir?“
„Ach, eigentlich nicht.“
„Hast du… vielleicht mal irgendeinen Jungen oder so kennengelernt?“
Ich sah ihn verwirrt an.
„Also ich meine, ob du schon mal mit einem…“
„Dad!“, rief ich und warf ein Kissen nach ihm.
„Was denn, ich wollte doch nur wissen, was bei dir so los ist“, sagte er zögernd.
„Du willst nicht ernsthaft mit mir darüber reden, oder?“
„Nein, eigentlich nicht“, sagte er lächelnd.
Keine Sekunde später kam Mum herunter und setzte sich zu uns. „Was ist denn los?“, fragte sie verwirrt.
Dad und ich warfen uns nur einen zögernden Blick zu und fingen schließlich an zu lachen.
Den restlichen Nachmittag verbrachten wir zusammen auf der Couch. Erst gegen 17Uhr gingen Mum und ich nach oben, um uns fertig zu machen. Ich duschte noch schnell, föhnte mir die Haare, trug etwas Makeup auf und zog mich schließlich wieder an. Als ich fertig war, stellte ich mich noch einmal vor den Spiegel, der in meinem Zimmer stand und betrachtete mich darin. Ich kämmte noch einmal meinen Pony und richtete die Locken, die ich mir extra eingedreht hatte. Insgesamt sah ich recht gut aus, vielleicht etwas zu leicht bekleidet, aber für eine Party war das ja eigentlich normal. Vielleicht lernte ich ja endlich mal einen Typen kennen, der es ernst meinte und sich nicht jedem Mädchen, das er sah, an den Hals schmiss. Von denen gab es hier in Nam-Bay leider genug, und auch ich wäre beinahe auf einige hereingefallen. Bis jetzt hatte ich nur einen einzigen Freund gehabt, und das war Nikita gewesen. Wir waren damals 12 Jahre alt und kannten uns nicht, da er auf eine andere Schule ging und meistens außerhalb von Nam-Bay bei seiner Mutter lebte. Jekaterina war mit ihm ausgezogen, als Mum mit mir schwanger war, sodass uns vorher auch niemand sagte, dass wir verwandt waren. Zum Glück hatten wir nichts weiter gemacht als uns geküsst, denn bis zu meinem ersten Mal wollte ich noch ein wenig warten. Bis heute hatte ich noch nie mit einem Jungen geschlafen, doch wenn ich daran dachte, dass Mum schon mit 12 das erste Mal Sex hatte, platzte ich beinahe vor Aufregung. Sie schwärmte ständig davon, wie schön ihre Zeit mit Dad immer war, sodass ich fast schon eifersüchtig auf die beiden wurde. Ich wollte auch endlich einen Mann finden, der zu mir passte- gut, er musste nicht gleich so alt sein wie Dad damals, aber wenn mein Traummann halt ein paar Jahre älter war als, wäre das auch egal.
„Nymphadora, bist du fertig?“ Dad klopfte ungeduldig gegen die Tür.
„Ja, sofort.“ Ich legte Mums Kette wieder an und schlüpfte in meine High-Heels. Eilig öffnete ich die Tür und trat auf den Flur.
„Willst du an deinem letzten Abend noch ein paar Kerle aufreißen?“, fragte er grinsend.
Ich spürte, wie ich rot wurde und knuffte ihn in den Bauch. „Lass das.“
„Geht klar, Sir.“ Er lächelte mich an und zog mich hinunter ins Wohnzimmer, wo Mum bereits wartete.
„Du hast dich ja ausnahmsweise richtig hübsch gemacht.“ Sie grinste mich breit an und wir verließen das Haus.
„Fang du nicht auch noch damit an!“
„Tut mir Leid, ich wusste nicht, dass dein Vater dich auch schon damit aufgezogen hat.
Mum und ich lachten den restlichen Weg über irgendwelche Dinge, die Dad früher getan hatte, und klackerten mit unseren High-Heels über den Fußweg. Dad dagegen lief schmollend neben uns her und sprach erst wieder, als wir bei Oma ankamen.
„Oh, hallo Ljoschenka, ich wusste gar nicht, dass ihr vorbeikommen wolltet.“ Oma sah uns überrascht an und führte uns ins Haus.
„Eigentlich war es auch nicht geplant, aber Nymphadora wollte noch zu Nikita.“ Dad ließ sich auf die Couch fallen und begrüßte Anna und Eleonora, die mittlerweile ebenfalls ausgezogen waren und eigene Kinder hatten.
„Ach, deswegen hast du dich so angezogen“, sagte sie lachend.
„Ja schon gut, ich werde nie wieder einen Minirock anziehen.“ Ich wollte gerade in Nikitas Zimmer gehen, als er mir schon entgegen kam.
„Hey, du bist ja schon da.“ Er umarmte mich kurz und ging ins Wohnzimmer. „Oma, wir gehen zu Jakow“, rief er ihr zu.
„Okay, bis später“, antwortete sie schnell.
„Und pass auf dich auf, Nymphadora!“
„Dad!“, rief ich genervt. „Ich kann schon auf mich aufpassen.“
„Wenn du meinst.“ Er lächelte mich kurz an und wandte sich wieder an Grischenka.
„Komm, die Party fängt gleich an.“ Nikita nahm meine Hand und zog mich aus dem Haus. Irgendwie sah er heute anders aus, seine sonst glatten, dunkelbraunen Haare sahen total zerzaust aus, und auch an seinen blauen Augen hatte sich etwas verändert…
„Nicki, bitte sag mir nicht, dass du gekifft hast.“
Er lächelte mich kurz an und starrte schließlich wieder auf die Straße. „Mach kein Drama draus. Mikhail hatte nur heute ein bisschen mitgebracht.“
„Das war ja so klar.“ Ich hatte ihm schon so oft gesagt dass ich es nicht mochte, wenn er irgendwelche Drogen nahm. Normalerweise hörte er auch auf mich, doch sobald Mikhail wieder irgendwelche Drogen mitbrachte, griff auch Nikita zu. Und das Schlimmste war ja, dass außer mir niemand davon wusste.
Plötzlich stieß Nikita mich in eine kleine Gasse und drückte mich gegen die Hauswand. „Du darfst es niemandem verraten. Bitte.“
„Nicki, du weißt, dass ich es nie jemandem erzählen würde“, sagte ich leise.
Er nahm meine Hand und sah mir tief in die Augen. „Danke, Lolo…“ Er beugte sich langsam zu mir herunter und legte vorsichtig seine Lippen auf meine. Ich war wie erstarrt und schaffte es nicht, mich zu rühren, als er mich küsste. Nikita schloss die Augen und drückte mich fester an sich, während auch sein Kuss drängender wurde. Erst, als einer seiner Freunde am Ende der Gasse erschien und seinen Namen rief, stieß ich ihn von mir. Nikita stolperte einige Schritte nach hinten und erwiderte meinen erschrockenen Blick. Geistesabwesend fuhr er sich mit den Fingern über die Lippen und sah schließlich wieder zu mir.
„Nikita, kommt ihr endlich?“, rief sein Freund.
Ich ging langsam zu ihm und wartete, bis Nikita zu uns kam.
„Heute bist du ja ausnahmsweise mal passend für eine Party angezogen“, sagte der Typ, während er mich von oben bis unten angaffte.
„Lass sie in Ruhe“, zischte Nikita, der inzwischen bei uns war, und zog mich an sich.
Ich sah erschrocken zu ihm auf, sagte jedoch nichts.
„Ist ja gut, Nikita.“ Er drehte sich um und ging zum Haus auf der anderen Straßenseite.
„Tut mir Leid“, flüsterte Nikita und zog mich ebenfalls zum Haus.
„So was passiert halt, wenn man Drogen nimmt“, sagte ich ernst. Als wir das Haus betraten, war die Party bereits in vollem Gange. Einige Leute tanzten auf den Tischen oder traten in irgendwelchen schwachsinnigen Wetten gegeneinander an. Nikita hielt immer noch eine Hand und führte mich in ein Zimmer im ersten Stock.
„Da seid ihr ja endlich!“ Jakow saß zusammen mit einigen anderen Leuten auf dem Boden und reichte eine Flasche Wodka herum.
„Sorry dass wir so spät sind.“ Er setzte sich zu ihnen und zog mich mit herunter.
„Hast du den Stoff dabei?“, fragte eines der Mädchen aufgeregt.
„Klar, was denkst du denn.“ Er holte ein kleines Tütchen aus der Jackentasche und reichte es dem Mädchen, die daraus sofort einige Joints drehte-
„Nicki, das ist nicht dein ernst“, sagte ich fassungslos. Der Kerl neben mir reichte mir den Wodka, wovon ich gleich einen großen Schluck nahm. Sonst trank ich zwar kaum etwas, doch ich war schon wieder so sauer auf Nikita, dass ich ihm den Hals hätte umdrehen können.
„Probier’s doch einfach mal selber.“ Er reichte mir einen der Joints, während er genüsslich an seinem zog.
„Nicki, du kannst vergessen, dass ich…“ Im selben Moment riss mich der Typ neben mir zurück, sodass ich mit dem Kopf in seinem Schoß landete. Bevor ich reagieren konnte, stopfte er mir das Ende des Joints in den Mund, wodurch ich diesen ekelhaften Rauch einatmete. Mir wurde sofort schlecht und schwindlig, dass ich glaubte, mich gleich übergeben zu müssen.
Der restliche Abend lief wie ein seltsamer, verzerrter Traum ab. Irgendwann saß ich selber zwischen den anderen und rauchte freiwillig einen Joint, während weiter Wodka und Likör herumgereicht wurde. Nach einer Weile waren schließlich alle betrunken genug, um Wahrheit oder Pflicht zu spielen.
Es dauerte auch nicht lange, bis ich an der Reihe war.
„Wahrheit oder Pflicht?“, fragte Roman, der immer noch neben mir saß, vergnügt.
„Pflicht.“
Sein Grinsen wurde immer breiter. „Du musst Nikita küssen.“
Zuerst war ich etwas erstaunt über meine Aufgabe, doch nach dem ganzen Alkohol war es mir irgendwie auch egal. „Okay.“ Ich wandte mich an Nikita, der sich bereits neben mich gesetzt hatte, zog ihn an mich und küsste ihn. Und ich musste zugeben, dass es mir in dem Augenblick wirklich gefiel. Er küsste mich immer weiter und wollte mich nicht mehr loslassen, während die anderen um uns herum grölten und klatschten. Schließlich zog mich irgendjemand von ihm weg und reichte mir den Wodka.
„Ihr müsst ja nicht gleich übertreiben“, sagte Roman lachend.
Der restliche Abend verlief etwas ruhiger. Wir saßen zusammen auf der großen Couch und sahen und irgendwelche schwachsinnigen Serien an, über die wir dennoch lachten.
„Hey, wir haben nur noch eine Flasche.“ Roman reichte mir das letzte Bier.
„Soll ich schnell zur Tankstelle gehen?“, fragte ich, während ich die Flasche an meinen Mund ansetzte.
„Ja, ich komm auch mit.“
Ich schob vorsichtig Nikitas Kopf von meinem Schoß. Er schlief bereits seit einer Weile und hatte sich dabei fest an mich geklammert. Als ich aufstand, drehte sich zuerst alles um mich herum, doch Roman legte gleich einen Arm um meine Hüfte, bevor ich überhaupt stolpern konnte. Ich lächelte ihn vorsichtig an und verließ mit ihm das Haus. Die Tankstelle war zwar nur etwas über hundert Meter entfernt, doch da wir beide noch ziemlich betrunken waren, waren wir nach einer halben Stunde immer noch nicht da.
„Ich glaube, wir haben uns verlaufen“, sagte ich lachend.
„Kein Problem.“ Er zog mich eilig hinter den Supermarkt und drückte mich fest gegen die kalte Wand.
„Roman, was…“
Er legte mir einen Finger auf die Lippen und umklammerte fest meine Handgelenke.
„Lass mich los!“
„Sei ruhig.“ Langsam beugte er sich zu mir herunter und küsste mich am Hals. „Tu nicht so, als würdest du nicht auch auf mich stehen“, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich wandte den Kopf von ihm ab und sah mich um, vielleicht kam jemand vorbei und konnte mir helfen…
Roman senkte den Kopf und schob mein Oberteil herunter, während er mich mit einer Hand weiter festhielt und mit der anderen an meine Brust fasste.
Ich versuchte, mich gegen ihn zu wehren, doch er ließ mich nicht los.
„Roman, hör auf“, sagte ich leise.
Er sah mir in die Augen und grinste mich boshaft an. Gerade beugte er sich zu mir herunter um mich zu küssen, als jemand um die Ecke gestürmt kam und ihn von mir riss. Ich schrie verängstigt auf und kauerte mich auf den Boden, während die beiden Männer kämpften. Ich schloss fest die Augen und verdrängte den Gedanken daran, wie Roman mich angefasst hatte. Plötzlich legte jemand die Arme um mich und drückte mich eng an sich. Erschrocken riss ich die Augen auf und wich zurück.
Nikita saß vor mir und sah mich mit gequältem Blick an. „Es tut mir so Leid, Lolo…“ Er nahm meine Hand und zog mich erneut an sich. „Als ich aufwachte dachte ich, du wärst schon zu Hause…“
Ich spürte, wir mir die Tränen in die Augen stiegen und drehte den Kopf zur Seite.
Auf einmal legte er seine Arme unter mich und hob mich hoch.
„Lass mich los!“, schrie ich ihn an, doch er ließ mich nicht herunter, dabei wollte ich nicht, dass er mich irgendwo berührte…
„Es ist alles gut, Lolo“, sagte er beruhigend.
Ich sah ihn vorsichtig an und bemerkte, dass er sich anscheinend schreckliche vorwürfe machte. Zögernd lehnte ich meinen Kopf gegen seine Schulter und schloss erschöpft die Augen.
Als ich am nächsten Morgen wach wurde, lag ich in Nikitas Bett, er war jedoch nicht da. Langsam stand ich auf und zog die Sachen an, die er für mich rausgelegt hatte.
„Du bist ja schon wach.“ Nikita kam mit einem Tablett, auf de mein Frühstück stand, herein und stellte es auf den Tisch.
„Ja, seit eben…“ Ich lächelte ihn zögernd an und setzte mich auf einen der Stühle.
„Und… wie geht es dir?“
„Abgesehen von den Kopfschmerzen ganz gut.“
Erst als er neben mir Platz nahm erkannte ich, wie fertig er aussah. „Weißt du… ich wollte noch einmal wegen letzter Nacht mit dir reden…“
„Nicki, du brauchst dir keine Sorgen machen, wirklich.“
„Das tue ich aber, Lolo.“ Er nahm meine Hand und sah zu Boden. „Roman wird nämlich mit uns nach Fortezza gehen.“
Ich sah ihn eschrocken an und zog ruckartig meine Hand zurück. In meinem Kopf spielte sich noch einmal alles ab, was Roman gestern getan hatte. Ich wollte nicht mehr daran denken, wollte vergessen, was passiert war…
„Alles in Ordnung?“, fragte er vorsichtig.
„Ja, klar“, log ich und wandte mich meinem Essen zu. „Danke, dass du mir geholfen hast“, sagte ich leise.
„Ich hätte dich gar nicht erst alleine gehen lassen dürfen“, erwiderte er ernst. „Schon gar nicht mit Roman.“
„Es ist doch nichts weiter passiert…“
„Er hat versucht, dich zu vergewaltigen, und dich gegen deinen Willen berührt.“
Ich spürte förmlich, wie die Wut in ihm aufstieg und drückte kurz seine Hand. „Bitte hör endlich auf, darüber zu reden.“
„Was würdest du jetzt tun, wenn er es wirklich geschafft hätte, dich…“
„Nicki, ich möchte jetzt wirklich nicht darüber reden!“
Er seufzte und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Und… wie hat dir die Party sonst so gefallen?“
„Abgesehen davon, dass ihr mich gezwungen habt, dieses ekelhafte Zeug zu rauchen, war es ganz in Ordnung.“ Ich ging den Abend in Gedanken noch einmal durch und kam schließlich zu dem Punkt, an dem wir uns geküsst hatten.
„Ja, das… fand ich auch.“ Anscheinend dachte auch er an unseren Kuss. Er lächelte mich verträumt an und fädelte seine Finger in meine.
Ich erwiderte sein Lächeln und trank meinen Kaffee aus.
Gegen Mittag ging ich erst wieder nach Hause. Mum und Dad waren jedoch nicht sauer, dass ich nicht in der Nacht zurückgekommen war, und fragten nur, wie die Party war.
Bis zu unserer Abreise am Abend hatte ich noch genug Zeit, sodass ich mich erst einmal in meinem Zimmer einschloss und in Ruhe über das nachdachte, was passiert war.
Wenn ich ehrlich war, rückte das, was Roman getan hatte, nun ziemlich in den Hintergrund. Ich war betrunken und noch total high gewesen, sodass ich mich noch kaum daran erinnerte. Es war wie ein widerlicher Albtraum, an den ich nur noch die blauen Flecken an meinen Handgelenken erinnerten.
Viel wichtiger schien mir stattdessen die Tatsache, dass Nikita und ich uns schon wieder geküsst hatten und es und beiden gefallen hatte. Es fühlte sich einfach großartig an, doch je öfter ich darüber nachdachte, umso abartiger erschien mir die Vorstellung, mit meinem Cousin zusammen zu sein. Ich wünschte, es wäre wie damals, als wir noch nicht gewusst hatten, dass wir verwandt waren, denn anscheinend hatte ich mich doch wieder etwas in ihn verliebt.
Der Abschied von Mum und Dad war schrecklich. Wir fingen alle an zu weinen und lagen uns ewig in den Armen, sagten ständig, wie sehr wir uns vermissen würden.
Nach etwa einer halben Stunde betrat ich schweren Herzens das Flugzeug. Nikita kam kurz nach mir herein und lie sich auf den Sitz neben mir fallen.
„Nun, jetzt gibt es kein zurück mehr, was“, sagte er lächelnd.
„Nein, jetzt nicht mehr“, flüsterte ich und sah aus dem Fenster.
Er legte seine Hand auf eine und ich spürte, dass er genau so sehr zitterte wie ich.
Ich hoffte, der Flug würde nicht allzu lange dauern. Ich wollte endlich nach Italien, wollte wissen, wie es in Fortezza war. Vielleicht würde es mir ja gehen wie Mum, sodass ich dort den richtigen Mann für mich fand. Auf die Probleme, die sie dort bekommen hatte, konnte ich jedoch gut verzichten.