Ein Tag im Advent. Betrachtungen eines steinernen Engels, der auf seinem Platz hoch oben über dem Eingang der Kirche Besuch von einem Mädchen erhält.
Es war einer der ersten Dezembertage. Einer jener Tage, an denen die Luft klirrend kalt und klar ist. Einer jener Tage, die man am Liebsten zu Hause vor dem warmen Ofen verbringt – oder auf dem Weihnachtsmarkt, mit einem Becher voll heißen Glühweins in der Hand. Einer jener Tage, an denen die ersten Schneeflocken leise herabrieseln und die Welt mit einer dünnen Schicht glitzernden Puderzuckers bedecken.
Und da heute der Weihnachtsmarkt eröffnet wurde, wurden unten auf dem Marktplatz der kleinen Stadt, in der unsere Geschichte spielt, soeben die letzten Lampen der Weihnachtsbeleuchtung angebracht.
„Seht ihr das?“, sagte der steinerne Engel zum Wind und zu den beiden Türmen der Kirche, in deren Schatten er stand. „Seht ihr das, wie sie wieder diese schrecklichen, bunten Lichterketten aufspannen? Ist das nicht kitschig?“
Natürlich antworteten sie ihm nicht. Niemand antwortete ihm. Niemand sprach hier oben. Und so gab sich der Cherub wieder seinen Beobachtungen hin und kommentierte das seltsame Treiben auf dem Platz unter ihm.
„Und dieses grauenhafte Gedudel, das sie als Musik bezeichnen. Warum müssen sich die Menschen ständig mit diesem Lärm umgeben? Ich glaube, sie können die Stille nicht ertragen. Sie ertragen es nicht, wenn es nicht laut ist. Dann müssten sie eventuell ihren Gedanken lauschen. Dann könnten sie für einen Moment das Gefühl haben, alleine zu sein. Menschen sind wohl eindeutig Rudeltiere, was meint ihr?“
Doch wieder antwortete ihm niemand. Der Cherub war das gewohnt. Wer sollte ihm auch antworten? Es kam nie jemand hier nach oben. Und er war der einzige Cherub auf dieser Seite der Kirche. Warum das so war, wusste er nicht. Vielleicht war es dem Steinmetz zu mühselig gewesen, einen zweiten aus dem Stein zu hauen. Vielleicht war er aber auch einfach der Ansicht gewesen, ein solches Meisterwerk müsse alleine stehen, um seine ganze Wirkung entfalten zu können. Denn dass er ein Meisterwerk war, das wusste der Cherub. Wie sonst ließen sich die beinahe andächtigen Blicke erklären, mit dem die Menschen zu ihm aufsahen? Auch wenn das in letzter Zeit zugegebenermaßen immer seltener vorkam.
Er wusste, dass er schon einmal besser ausgesehen hatte. Anfangs...anfangs hatte er im Sonnenschein regelrecht gestrahlt. Der weiße Kalkstein hatte so hell geschienen, dass er die Menschen beinahe geblendet hatte. Doch die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergezogen. Moos hatte sich in seinen Gewandfalten niedergelassen, und der Stein war ein wenig nachgedunkelt. Und der saure Regen hatte ihn sogar einen seiner Finger gekostet.
Schuld daran waren diese Menschen. Diese Menschen, die da unten scherzten und lachten und ihren Müll achtlos fallen ließen. Es war die Schuld ihrer dämlichen Blechkisten, die das Gift in die Luft gepustet hatten.
Und dann kam natürlich auch noch die wachsende Ungläubigkeit der Menschen hinzu. Die Kirchen wurden einfach nicht mehr so geschätzt wie früher. Weihnachten war zu einem bloßen Fest verkommen. Ein Fest wie jedes andere. Über den wahren Grund dieser Feier wurde schon lange nicht mehr nachgedacht. Und so versank die Kirche allmählich in Vergessenheit. Und mit ihr der steinerne Engel, der auf dem breiten Sims über dem Eingang seine ewige Wache hielt.
Manchmal war es wirklich nicht einfach, dem Verstreichen der Zeit beizuwohnen, ohne ein Teil von ihr zu sein. Ohne an dem Leben, das unter ihm dahinzog, jemals wirklich teilnehmen zu können.
Und so beschränkte sich der Cherub auf das, was er schon immer am Besten gekonnt hatte – die Fehler der anderen zu kommentieren.
„Diese aufgesetzte Fröhlichkeit – wird euch da nicht schlecht? Mir wird übel. Dabei sind sie nicht glücklich. Das können sie gar nicht sein. Da ist so viel Schlechtes in der Welt der Menschen.“
Als er gerade ausführen wollte, was denn genau alles so schlimm an dieser Welt war, da wurde er plötzlich unterbrochen. Und das war etwas, dass der Cherub gar nicht gewohnt war. Niemand hörte ihm zu, niemand kam hierher, deswegen unterbrach ihn auch niemand. Und doch war da auf einmal eine Stimme, die ihm ins Wort fiel.
„Ich denke nicht, dass alles schlecht ist.“
Es war eine junge Stimme. Eine hohe Stimme. Die eines Mädchens. Und sie klang irgendwie so traurig.
Der Cherub sah zur Seite. Tatsächlich – da war ein Mädchen neben ihn auf den Sims getreten. So klein sah sie aus gegen wolkenverhangenen Himmel. Klein und irgendwie durchscheinend. Sie hatte die Arme um sich selbst geschlungen, wie um sich zu wärmen. Ja, es war kalt hier oben auf dem Sims. Der Wind pfiff um die Kirche, und das Licht und die Wärme des Marktes waren so fern.
Beinahe kam es dem Cheruben so vor, als ob sie ihn verstanden hätte. Doch das konnte nicht sein. Die Menschen konnten nicht mit ihm reden. Dazu hatten sie nicht genug Phantasie.
Früher – ja, früher hatte es ab und an noch Kinder gegeben, die mit ihm geredet hatten. Früher, als sie noch nicht alle so von den künstlichen Welten ihrer Computerspiele vereinnahmt worden waren. Früher war da sogar einmal ein kleiner Junge gewesen, der gern zu ihm gekommen war – nur, um mit ihm zu reden. Er war so etwas wie ein Freund gewesen – bis er älter geworden war und nicht mehr an Engel geglaubt hatte.
Dieses Mädchen sah eigentlich auch schon zu alt aus, um noch an Engel zu glauben. Und doch war sie hier. Und sie hatte mit ihm geredet. Und es wäre doch unhöflich gewesen, ihr nicht zu antworten.
„Nein?“, fragte der Cherub darum. „Was siehst du denn Gutes in dieser Welt? Schau doch einmal hinunter. Auf den ersten Blick sieht alles so friedlich aus. So glücklich. Wie die Lichter in der Dunkelheit leuchten. Wie es nach Glühwein und Zuckerwatte und Weihnachtsgebäck duftet. Wie sie alle so glücklich lächeln, um diese Stände herumstehen und lachen und scherzen. Wie sie einander zur Hand gehen und einander helfen. Aber das ist nur der erste Blick.
Und jetzt sieh genauer hin. Erkennst du diesen dunklen Schatten in der Gasse dort drüben? Das ist Jakob. Er ist blind und hat seinen Job verloren. Er schläft unter der Brücke und ab und an holt er sich in der Arche eine warme Mahlzeit. Wenn er Glück hat, kann er ein paar Nächte im Obdachlosenheim schlafen, ehe sie ihn wieder vor die Türe setzen. Jeden Tag sitzt er an der Straßenecke und bettelt. Und die allermeisten Menschen gehen einfach an ihm vorbei. Sie sehen ihn nicht. Sie wollen ihn nicht sehen. Er passt nicht in ihr Bild von einer schönen Adventszeit.
Und dann der Junge dort drüben. Siehst du, wie er nach dem Apfel greift? Wie er ihn heimlich in die Tasche steckt, ohne zu bezahlen? Jeden Tag streunt er hier auf dem Marktplatz umher. Er wohnt in dem schmalen Haus neben dem Rathaus, in der obersten Etage. Seine Mutter verkauft sich an Freier, um sich und den Jungen zu versorgen. Und wenn sie wieder Besuch hat, muss der Junge fort. Egal, wie kalt es draußen ist. Und er hat nicht einmal eine richtige Winterjacke, siehst du?“
Und tatsächlich sah sie ihn, den blonden Jungen, der sich jetzt mit einem Apfel in der Hand neben dem Brunnen auf dem Marktplatz niederließ und die Arme fest um sich selbst geschlungen hatte, wohl in dem Versuch, sich ein wenig zu wärmen. Und sie sah auch, was dem Cheruben aufgefallen war. Dass ihn niemand zu sehen schien, auch wenn er sich doch inmitten der Menschenmassen befand.
„Ja, das ist wirklich traurig. Aber das ist nicht alles. Das ist doch nur ein Teil des Bildes dort unten“, meinte das Mädchen.
Sie deutete auf einen Mann, der ein kleines Mädchen auf seinen Schultern trug. Sie teilten sich einen Schokoladenapfel.
„Siehst du, wie glücklich diese Beiden sind? Und dort drüben legt gerade eine Frau ein paar Scheine in Jakobs Hut. Davon wird er sich vielleicht sogar eine Decke kaufen können, und eine Mütze. Und ich glaube, dass er im Winter nicht unter der Brücke schläft. Im Winter kann er auch in der Arche schlafen. Und dann sieh einmal dort hin.“
Ihr Blick war an das andere Ende des Marktplatzes geschweift, dort, wo die Festbeleuchtung des Weihnachtsmarktes nur noch spärliches Licht bot. Dort, in den wachsenden Schatten der aufziehenden Dunkelheit stand eine Frau vor einem Stand und verteilte Flugblätter an die wenigen Menschen, die sich an diese letzte Bude verirrten.
„Sie sammelt Geld für das Waisenhaus. Und die Leute spenden jedes Jahr Geld. Jedes Jahr sammelt das Waisenhaus so viele Spenden zu Weihnachten ein. Jedenfalls steht das so in der Zeitung. Und diese Frau könnte sicher auch zu Hause im Warmen sitzen und ein Buch lesen oder bei ihrer Familie sein. Aber sie hat sich entschieden, hier in der Kälte und der Dunkelheit zu warten und nicht aufzugeben. Sie hat sich entschieden, Gutes zu tun. Es gibt Gutes in der Welt. Man muss nur richtig hinsehen.“
Und während sie das so sagte, wurde ihr schon ein wenig leichter ums Herz. Nur ein wenig.
„Aber wenn es so viel Gutes in der Welt gibt – warum bist du dann hier oben?“, fragte der Cherub. „Ist es nicht traurig, dass du heute hier oben sitzt? Ist es nicht traurig, dass dich niemand aufgehalten hat? Ist es nicht traurig, dass die meisten Menschen so blind sind?“
„Weißt du“, meinte das Mädchen nachdenklich, „irgendwie glaube ich nicht, dass du wegen der Menschen da unten traurig bist.“
„Nicht?“
„Nein. Ich glaube, du bist deinetwegen traurig. Weil es so kalt hier oben ist. Weil nur der Wind mit dir spricht. Weil du ganz alleine hier oben sitzt und zusehen musst, wie es andere warm haben und wie sie glücklich sind. Weil du auch gerne da unten wärst. Weil du auch gerne dazugehören würdest.“
Und irgendwie wusste der Cherub, dass sie recht hatte.
„Du würdest auch gerne dazugehören“, meinte er leise. Sie sah ihm so ähnlich. Wie sie dort auf dem Sims saß und nach unten sah, sah sie auf einmal so aus wie er. Und doch war sie nicht aus kaltem Stein. Ihr braunes Haar flatterte wild im Wind. Es sah so lebendig aus, dieses Haar.
„Ja“, seufzte sie. „Ja, ich würde auch gerne dazugehören. Aber ich bin wie du, Cherub. Ich bin für sie unsichtbar.“
Da war etwas in ihren Augen. Dieselbe uralte Traurigkeit, die auch in ihm wohnte. Sie war zu jung dafür. Und auf einmal stimmte ihn der Gedanke an das, was sie zu tun gedachte, noch viel trauriges als alles andere jemals zuvor.
„Und du denkst, dass sie dich besser sehen, wenn du jetzt springst?“
Er sah sie vor sich liegen. Er sah ihren Körper dort unten zerschellen, diesen Körper, der jetzt noch so lebendig und warm war. Er mochte sie. Er mochte dieses seltsame Mädchen, das seit langer Zeit seine erste Gesellschaft hier oben war.
„Vielleicht?“
„Ja, vielleicht werden sie das tatsächlich. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann wirst du auch aus ihren Erinnerungen verschwinden. Weil sie sich nicht erinnern werden wollen. Weil sie die unbequemen Dinge nur zu gerne vergessen. Die Dinge, die sie nicht sehen wollen. Die sie nicht wahrhaben wollen. Und deinen Sprung werden sie nicht wahrhaben wollen, glaub mir. Also hättest du dadurch nichts gewonnen.“
Eine lange Weile saß das Mädchen schweigend neben dem steinernen Cheruben und dachte über dessen Worte nach. Wenn sie noch Gutes in dem Bild unter ihr sehen konnte, sollte sie dem Leben dann nicht noch eine Chance geben?
Die Statue neben ihr rührte sich nicht, und sie begann sich zu fragen, ob sie sich dieses seltsame Gespräch nicht einfach nur eingebildet hatte.
Und ihr Blick blieb an dem Jungen hängen, der noch immer dort unten neben dem Brunnen saß und seinen Apfel aß. Er sah so allein aus. So allein, wie sie sich schon immer gefühlt hatte. Und auf einmal konnte sie nicht mehr mit ansehen, wie er zitterte. Selbst von hier oben konnte sie erkennen, dass er fror.
Ein letztes Mal wandte sie sich zu dem Engel um, der wieder zu Stein erstarrt zu sein schien. Sanft strich sie ein letztes Mal über die Hand mit dem fehlenden Finger, ehe sie vorsichtig über den Sims zurück zur Türe balancierte.
Von seinem Sims weit oben an der Kirche beobachtete der Cherub, wie sich das Mädchen mit dem dunklen Haar dem blonden Jungen näherte. Dem Jungen mit den blonden Haaren, der einmal an Engel geglaubt hatte und es jetzt nicht mehr tat. Der Cherub sah, wie sich das Mädchen neben ihn setzte, ihren Schal abnahm und ihn dem Jungen umlegte.
Den ganzen restlichen Abend saßen die beiden nebeneinander auf den Stufen vor dem Brunnen.
Und als die Marktbuden eine nach der anderen schlossen, sah er, wie der Junge das Mädchen an der Hand nahm.
Um die steinernen Lippen spielte zum allerersten Mal ein kleines Lächeln.
(c) by Schneeflocke
Luzifer Im Grunde - ist es eine schöne Geschichte, aber dadurch, dass zu viel auf die gleiche Art aufgezählt wird (Einer jener Tage; Wie; Ist es nicht traurig; Weil du; etc.), wirkt es leicht nervig. Vor allem deshalb, weil an vielen Stellen die Betonung nicht in die Höhe geht bzw. der Sprecher seine Stimmlage beibehält. An einigen Stellen hätte auch der Satzanfang mit diesen Wörtern weggelassen werden können und der Sinn wäre immer noch der Gleiche gewesen. Überrascht hat es mich, dass das Mädchen tatsächlich noch lebendig ist, wo doch auf Seite 5 von "irgendwie durchscheinend" die Rede ist. Beste Grüße Luzifer |