Beschreibung
Über die Rolle, die Blumen nacheinander spielen können
1. Schwertlilien
Seine Oma hasste Schwertlilien. Sie hasste die weißen wie die blauen und auch die zweifarbigen. Es seien katholische Blumen, sagte die atheistische Großmutter. Sie war unempfänglich für die weibliche Schönheit ihrer Blumenkelche, gebildet aus Dom- und Hängeblättern, unempfänglich für die prallen Spitzen ihrer Knospen, für den Geruch nach Zitronen. Sie brauchen sie für ihre Kirchen, sagte sie voller Abscheu. Entweiht, befleckt, missbraucht.
2. Gladiolen
Der Blumenladen hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, sie wollten noch zweihundert Stück bis zum nächsten Morgen, und nicht aufgeblüht. Sein Vater schnitt zweihundert von ihnen knapp über dem Erdboden ab, während die Dämmerung sank. Bei allen zeigte sich erst an der untersten Knospenspitze die Blütenfarbe: rot, rosa, gelb, weiß oder lila. Sein Vater riss die äußeren hartfaserigen Hüllblätter von den Stielen und zwängte dann je fünfundzwanzig Stiele in mit frischem, kaltem Wasser gefüllte Aluminiumkannen - verloren in all dem stumpfen Grün die wenigen Farbtupfer. Hier und da leuchteten auf dem Feld nicht mehr verkäufliche Exemplare in die einbrechende Nacht hinein, die unteren Blüten schon verwelkt, die mittleren voll erblüht und am oberen Ende der Rispe noch Verschlossenes. Gladiolen sind ein bisschen heikel, sagte sein Vater.
3. Rittersporn
Er war beim Abitur von der mündlichen Prüfung befreit worden, rief daheim an und nahm den nächsten Zug. Zu Hause empfing ihn seine Mutter in der Diele und führte ihn in sein Zimmer – da stand in einer herbeigeschafften Bodenvase ein Strauß Rittersporn, hellblau, langstielig, draußen frisch geschnitten. Sie gratulierte ihm kurz und verschwand schon in der Küche. Er betrachtete die Blumen: Rittersporn im Juni, die hellsten Tage im Jahr. Und die dreizehn Jahre endlich um. Er wird fortgehen, sie wissen es doch alle schon. Rittersporn im Juni, kein schlechter Abschluss - wird aber schnell verwelken.
4. Rosen, rot
Ein gutes Dutzend Jahre später in Hamburg. Auf dem Eimsbütteler Wochenmarkt waren rote Rosen im Angebot, fünfzig für fünf Mark, spottbillig. Er kaufte sie spontan, schnitt die Stiele zu Hause ein und verteilte die Rosen auf sieben oder acht Vasen, die er in den drei Zimmern aufstellte. Es sieht ein bisschen komisch aus, dachte er. Damals hielt er noch für möglich, seine Eltern würden ihn einmal in der neuen Wohnung besuchen. Tatsächlich unternahmen sie die Reise zu ihm nie. Seine Oma dagegen, die atheistische Großmutter, hatte sich einige Jahre vor ihrem Tod noch zu ihm nach Berlin aufgemacht. Die Rosen jetzt ließen am anderen Tag ausnahmslos die Knospenköpfe hängen, sie waren nicht einmal aufgeblüht. Er entsorgte sie rasch.
5. Schwertlilien, hellblau
Gut zwanzig Jahre später auf dem Land. Er hatte jetzt selbst einen Garten, ein Blumendickicht von dreihundert Quadratmetern. Sein Vater war schon Jahre tot, die Verbindung zur Mutter abgerissen. Im Frühjahr kam es vor, dass ihm die Triebe der Tulpen von Rehen aus den nahen Wäldern abgefressen wurden. Aber die Schwertlilien! Blühten zuverlässig Jahr für Jahr. Prachtvoll die hohen hellblauen mit ihren besonders großen Blüten. Nur schien es, sie waren ein wenig überzüchtet und starkem Wind nicht gewachsen. Regelmäßig knickten die langen Stängel um, bevor die Blüten verwelkten. Dann richtete er sie auf, band sie an Bambusstäben fest. Tags darauf zerrten weitere Böen an diesen Schienenverbänden, rissen einige Stängel mitten entzwei. Er hob die Blüten vom Boden auf, stellte sie drinnen in Wassergläser, betrachtete sie, roch an ihnen. Alles noch wie früher: Domblätter, Hängeblätter und der Zitronengeruch.
6. Nachtkerzen
Als auch der Garten in die Jahre kam, siedelten sich immer weitere Arten wild in ihm an. Samenanflug bescherte ihm Mahonien, Stechpalmen, Fingerhüte. Er ließ sie stehen. Und die ebenfalls eingewanderten Nachtkerzen ließ er zumeist abblühen – zuverlässig wochenlanges Zitronengelb. Sie verbreiteten sich, und er half sogar nach, verteilte die Samenkörner auf neue Flächen. Mögen sie bleiben … wenigstens eine Zeitlang.