Heinz sieht rot.
Jeder Kiez hat seine Irren. Solche, verwirrter Geisterverfassung, die aber keine Bedrohung der Öffentlichkeit darstellen und deshalb nicht hinter den Gittern einer Psychiatrie verschlossen sind.
Wir hatten Heinz und Frau Kleepel.
Frau Kleepel trug einen imaginären Papagei auf der Schulter, so erzählte man sich. Sie nannte ihn Achim und vertraute ihm all ihre Sorgen an, lautstark, während sie zum Bäcker ging und wie jeden Tag drei Semmeln und einen Schusterjungen kaufte. „Einen Schusterjungen nehmen wir noch, nicht wahr Achim, einen Schusterjungen“, sagte sie zu ihrer Schulter gewandt und bezahlte, wie immer mit einem 2 Euro Stück. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass Frau Kleepel jeden Tag drei Semmeln und einen Schusterjungen verdrückte. Sie war klein und hager. Das einzig Eindrucksvolle an ihr war der unübersehbare Buckel, der sie zwang mit dem Gesicht zur Erde zu laufen und einem vor Augen führte, dass die arme Frau bald im Rollstuhl sitzen würde. Frau Kleepel hatte mal Kinder gehabt, einen Ehemann. Jetzt hatte sie nur noch Achim. Niemand wusste, was aus ihrer Familie geworden war. Warum sie sich nicht um sie kümmerte. Niemand im Kiez war so steinalt wie Frau Kleepel und niemand würde sie dazu bringen, in die Pflege zu gehen. Solange sie jeden Tag, von ihren eigenen zwei Beinen getragen, ihre Semmeln kaufen konnte, würde man ihre, in sich selbst verlorene Stimme durch die Straßen schallen hören. „Nein, Achim, Du kannst nicht weggehen. Nein, ich verbiete es Dir. Nach all den Jahren, die ich für Dich gesorgt habe“
Mir tat die Alte leid. Ich gehörte zu den Menschen, denen Gestrandete einen bitteren Geschmack im Mund hinterließen. Â
So ging es mir auch mit Heinz, der eigentlich schon ein öffentliches Ärgernis war. Mehrmals in der Woche zeitlich wechselnd, in der schlimmsten Stoßzeit, stand er auf der Ampelinsel Marienstraße direkt neben der Linksabbiegerspur und regelte den Verkehr. Natürlich war sein motiviertes Eingreifen keine Bereicherung. Er verursachte einen kilometerlangen Stau. Man konnte nicht nachvollziehen, nach welchem Verfahren er die Autos aussuchte, aber bei ca. jedem Dritten, oder auch Vierten stellte er sich mit ausgestrecktem Arm während der Grünphase auf die Straße und zwang den Fahrer so zum Halten. Die meisten waren von dieser Aktion so überrascht, dass sie geduldig warteten, bis Heinz einen prüfenden Blick ins Autoinnere geworfen hatte und dann mit einer, im Verkehrslärm untergehenden Kommentation und winkendem Arm die Weiterfahrt anordnete. Es hatte schon Anrufe bei der Polizei und Eingaben beim Bürgermeister gegeben. Man hatte ausdrücklich darum gebeten, das Verkehrshindernis zu entfernen. Heinz hatte auch schon Monate in einer Einrichtung verbracht. Da aber seine Rolle als Verkehrspolizist das Einzige war, dass ihn von den normalen Mitbürgern unterschied und sein Eingreifen immer nur sporadisch und kurzweilig stattfand, hatte man sich mit diesem Zustand abgefunden. Man wusste einfach, wenn man Ecke Oschitzweg nicht mehr vorankam, dass Heinz mal wieder aussortierte. Eigentlich reagierten nur Ortsfremde und Jugendliche noch ungehalten. Aber Heinz beeindruckte lautes Hupen und ärgerliches, manchmal sogar aggressives Verhalten seiner Mitbürger nur wenig. Er blieb stets gelassen und ließ sich selbst von drängelnden Fahrern, die mehr oder minder bereit waren, ihn einfach umzufahren, nicht abhalten. Er war ein stattlicher Mann, Mitte vierzig, trug ausgebleichte Nietenhosen aus grauer Vorzeit und ein rotes Käppi, an dem man ihn auch schon von Weitem erkannte. Sicher war er mal ein attraktiver Vertreter des männlichen Geschlechtes gewesen. Sehnige, muskulöse Arme und ein markantes, jetzt aber von einem ungepflegten Bart umrandetes Gesicht zeugten noch davon. Wie bei Frau Kleepel rankten sich auch um seinen Werdegang verschiedenste Gerüchte. Vom Alkoholiker, bis zum gesellschaftlich geächteten Hochschullehrer war jede Interpretation vertreten.   Â
Dass er bei einem Unfall Frau und Kinder verloren hatte, erklärte aber am überzeugendsten seine Manie für den fließenden Verkehr.
Es war ein Sonntag, an dem auch ich in den Genuss einer von Heinz geregelten Ampelphase kam.   Â
Es war fünf vor vier und ich befand mich auf dem Weg zu meinem Vater. Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, jeden dritten Sonntag gemeinsam zu Mittag zu essen. Mein Vater wurde in diesem Jahr 64. Es war nicht abzusehen, wie viele Mittagessen wir noch haben könnten und dem zur Folge waren mir diese Treffen sehr wichtig. Natürlich war ich ungehalten, als gerade heute Heinz da vorn nun dafür sorgte, dass ich zu spät kommen würde. Ich hatte sein rotes Käppi schon erkannt, als ich nach der ersten, eigentlich leicht zu bewältigenden Ampelphase noch immer hinter zwei Leidensgenossen auf der Linksabbiegerspur stand und keinen Meter vorwärtskam. Der Fahrer des roten Ford vor mir hupte Sturm. Ich lehnte mich im Sitz zurück und gebot mir Ruhe. Man hatte die Erfahrung gemacht, dass eine Diskussion oder hitziges Verhalten die Weiterfahrt nur unnötig verzögerte. Das wusste der Verkehrsteilnehmer vor dem roten Ford einfach nicht. Er war ausgestiegen, ein junger Mann in dunklem Anzug und perlweißem Businesshemd, und befand sich nun in einem lautstarken Streitgespräch mit dem vermeintlichen Verkehrspolizisten. So weit ich sehen konnte, zeigten die Bemühungen des Anzugträgers aber keine Wirkung. Sie veranlassten Heinz nur dazu, in monotones Brummen und Stöhnen auszubrechen, während sein linker Arm in die Höhe fuhr und er damit in der Luft fuchtelte, als würde er seine Hand vom Knöchel schütteln wollen. Noch beobachtete ich die Szenerie unbeteiligt. Dann wurde der junge Mann aber wirklich handgreiflich und nahm den völlig außer sich geratenen Heinz in den Schwitzkasten. Ich konnte nicht anders und musste, in meiner Funktion als Situationskundige, eingreifen.
„Lassen sie ihn los, erst dann wird er sich beruhigen“, sagte ich in ruhigem Tonfall zu dem Geschäftsmann, der daraufhin tatsächlich von Heinz abließ.
„Kennen sie den armen Irren, etwa? Sowas ist doch unerhört“, ereiferte sich der Mann und zog seine Krawatte zurecht. „Der gehört doch weggesperrt!“
„Er hätte sie fahren lassen. Sie hätten nur ein paar Minuten Geduld haben müssen“, erwiderte ich sachlich und wandte mich mit der beruhigenden Art einer Krankenschwester dem sichtlich mitgenommenen Heinz zu. „Ganz ruhig, Heinz. Es ist alles in Ordnung“, redete ich mit Engelszungen auf ihn ein. „Was soll denn das? Wer lässt so einen denn frei herumlaufen? Ich rufe jetzt die Polizei.“
Der Anzugträger griff in die Hemdtasche nach seinem Telefon, aber ich konnte ihn mit einem: „Lassen sie nur, ich habe das gleich unter Kontrolle“, davon abhalten. Â
Ich ergriff den immer noch fuchtelnden Arm von Heinz und brachte ihn eine ruhige Stellung, dann führte ich den kräftigen Mann mit einer sanften, aber bestimmten Geste von der Straße auf die Ampelinsel. „Na schön. Sie machen das schon“, stellte der Typ im Anzug fest, ließ die Hand sinken und schickte sich an, wieder ins Auto zu steigen. Ich war so beschäftigt mit Heinz, dass ich kaum wahrnahm wie der junge Mann den Motor startete und auch der rote Ford sich nun in Bewegung setzte. Gerade, als ich glaubte, Heinz so weit zu haben, dass er sich widerstandslos nach Hause trollen würde, hörte ich hinter mir schrill quietschende Reifen. Dann spürte ich wie die Muskeln von Heinz Unterarm, den ich im festen Griff vor mir herschob, sich spannten. Im nächsten Moment knallte es so ohrenbetäubend, dass ich den Arm reflexartig loslassen musste und mich abduckte.
Heinz fing an zu schreien. Aus seinem monotonem Brummen entwickelte sich ein wahres Kriegsgeschrei. Ich war so gefangen von seinen weit aufgerissenen Augen und dem vor seinen Mund tretenden Schaum, dass ich den Unfall, der sich direkt auf der Kreuzung ereignet hatte, erst Minuten später richtig erfassen konnte. Es hatte den Anzugträger erwischt. Ein dunkelblauer Audi hatte seinen Wagen zwischen sich und dem roten Ford so eingequetscht, dass schon mit einem flüchtigen Blick klar war, dass man den Körper des jungen Mannes herausschneiden würde müssen. Ob er das Ganze überhaupt überlebt haben könnte, schien sehr fraglich.
Schon bald kamen Feuerwehr und Polizei an die Unfallstelle und ein Pfleger mit dünnem blondem Zopf entband mich von dem immer noch schreienden und um sich schlagenden Heinz.
Am nächsten Tag stand in der Zeitung, dass der Fahrer des Audis einen Herzanfall gehabt hatte. Sein Auto war mit ungebremster Geschwindigkeit in die Kreuzung gedroschen und die Karambolage, daran gemessen, noch glimpflich verlaufen. Es gab nur einen Unfalltoten,den Anzugträger, ihm und dem Herzpatienten war nicht mehr zu helfen gewesen.
Heinz wurde eingewiesen. Diesmal auch nicht nur für ein paar Monate. Der Einzige, der ihn in seiner trostlosen Einsamkeit besuchen kam, war ich.
Immerhin hatte dieser arme Irre mir vielleicht das Leben gerettet.