Folgst du den Schwalben zur Küste von Salcombe im Süden Englands und wanderst den Küstenwanderweg in westlicher Richtung, so triffst du auf die versteckt liegende Bucht Starhole Bay. Kletterst du dann den steinigen Weg hinab, der fast unkenntlich mit der Steilküste verschmilzt, wirst du mit einem der herrlichsten Strände der Küste belohnt, die sich zwischen Salcombe und Plymouth erstrecken. Beim Blick auf das in der Sonne glitzernde Meer kannst du nahe der Küste einen undeutlichen Schatten entdecken. Das blaugrüne Wasser der Bucht bedeckt hier friedlich die Reste eines stattlichen Segelschiffes, das den Namen Herzogin Cecilie trug und im Oktober des Jahres 1939, von Australien kommend, im Nebel auf ein Riff lief und hier in der Bucht auseinanderbrach.
Das Schicksal des Schiffes war ein Ereignis, das für wochenlangen Gesprächsstoff bei den ansässigen Menschen sorgte. Jeder, der etwas auf sich hielt, ließ Arbeit Arbeit sein und eilte in die Bucht, um sich ein Bild von dem Wrack zu machen. Wie ein riesiger, gestrandeter Walfisch lag es dort im seichten Wasser. Unterhalb der Wasserlinie zog sich ein Riss durch den Rumpf und legte das Innenleben des Schiffes frei. Scharen von Schaulustigen besuchten tagtäglich die Bucht, aber kaum einer nahm Notiz von dem in schwarzes Ölzeug gekleidetem Mann, der immer wieder im Bauch des Rumpfes verschwand. Man hielt ihn für einen der vielen Glücksritter, die hofften etwas Brauchbares aus dem unglücklichen Schiff zu erbeuten.
Eines Morgens dann, als nach einer stürmischen Nacht der Rumpf des Schiffes in mehrere Teile zerbrochen war, fand man ihn ertrunken zwischen angeschwemmten Deckplanken am Strand. Erst nachdem man die Besatzung der Herzogin Cecilie befragte, kam die Tragödie des verzweifelten Mannes ans Licht. Die Matrosen identifizierten den Toten als Ephraim Hollow, der vor wenigen Wochen in Cardiff, Südaustralien, angeheuert hatte. Zuerst glaubte man, dass Hollow einige von ihm versteckte Wertgegenstände an Bord des Schiffes gesucht hatte. Doch dann erfuhr man die tragische Wahrheit durch die Abschrift eines Briefes, den man in der Brusttasche des Toten fand. In dem Schreiben hieß es, dass er sein einziges Kind, ein 12 jähriges Mädchen, als blinden Passagier im Frachtraum mit nach England bringen wollte. Der Brief war an seinen Schwager gerichtet, der in der Nähe von London lebte und ihm eine sichere Arbeit und Unterkunft in England zugesagt hatte. Das im Rumpf versteckte Kind war allem Anschein nach beim Kentern des Schiffes ertrunken. Obwohl Marinesoldaten noch einige Tage das Schiffswrack durchsuchten, wurde nicht die geringste Spur des Mädchens entdeckt. Ephraim Hollow wurde unweit der Bucht auf dem Seefahrerfriedhof von Soar beigesetzt.
"Hallo", sprach Sarah die Kleine an.
"Hallo", erwiderte das zierliche, vielleicht zwölf Jahre alte Mädchen in dem lichtblauen Kleid. Ohne sich ihr zuzuwenden, ließ es den Blick weithin über das Wasser der Bucht gleiten.
Sarah blickte sich verwundert um und suchte erfolglos nach ihren Eltern oder Begleitern.
„Bist du ganz alleine hier?" Die Kleine wandte sich ihr zu und Sarah konnte ihr Gesicht sehen. Wie schmal und bleich sie ist, dachte sie und betrachtete belustigt ihre strohblonden Haare, die kunstvoll zu einem Zopf zusammengebunden waren. Um ihren Kopf hatte sie einen Kranz aus trockenen Blumen gebunden. Große, grünblaue Augen von der Farbe des Meeres lagen in tiefen Augenhöhlen.
„Allein?", entgegnete die Jüngere. "Ich bin niemals allein, schau dich doch um!" Das Mädchen war aufgestanden und streckte ihre Arme weit von sich. „Sieh doch", sagte es und deutete auf einen Schwarm Seevögel, der in geringer Entfernung vorüberflog. "Und da!" Weiter unten in der Bucht waren zwei Seehunde zu sehen, die sich ausgelassen im flachen Wasser aalten. Das Mädchen hatte sich wieder ins Gras gesetzt und starrte gedankenverloren in die Bucht. Sarah, die langsam ihre Geduld verlor, versuchte es erneut. "Nein, ich meine, bist du denn alleine, ohne Eltern hier?"
"Natürlich nicht, was glaubst du denn, mein Vater ist ganz in der Nähe." Sarah sah sich um und suchte den gesamten Küstenstreifen ab. „Ich kann niemanden entdecken", meinte sie befremdet.
"Er ist ganz in der Nähe", wiederholte die Kleine mit fester Stimme, "du kannst ihn nur noch nicht sehen." Sarah gab auf. „Also gut, dein Vater hat sich hier irgendwo versteckt und spielt sein Spiel mit uns. Mir jedenfalls reicht es, ich muss zurück." Sie stand auf von dem Wollgras, auf dem sie gesessen hatte, suchte mit ihren Händen Halt an der felsigen Wand und stelzte dann ungelenk den Küstenweg hinauf. "Was ist mit deinen Beinen?", hörte sie das Mädchen hinter sich rufen.
Sarah drehte sich um und sah, dass es ihr gefolgt war. Die Kleine sah ihr offen ins Gesicht.
"Ein Autounfall", antwortete Sarah mit bedrückter Stimme. "Vor fast zwei Jahren. Ich hab hinten gesessen und nicht so viel abbekommen." "Werden deine Beine wieder gesund?"
Sarahs Blick, beantwortete wortlos ihre Frage. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, war das Mädchen bei ihr und legte seine Arme um sie. Es drückte Sarah an ihren zerbrechlich wirkenden Körper und strich dann mit sanften Händen über ihr Gesicht. Befremdet über sich selbst, ließ Sarah die zärtliche Berührung zu. "Weißt du eigentlich, wie schön du bist?", fragte die Kleine unerwartet, während sie sich den Kranz Blumen vom Kopf zog und ihn Sarah aufsetzte. „Findest du?".
"Aber sicher, ich finde, dass du aussiehst wie eine Wildblume." Sarah dachte einen Augenblick über das zweifelhafte Kompliment nach. Dann bemerkte sie, wie das Mädchen lachend davonlief.
"Komm schon", hörte sie es rufen. Trotz ihrer Behinderung folgte Sarah ihr, bis sie es auf einer kleinen Anhöhe eingeholt hatte. Hier stand es auf dem höchsten Punkt und hatte seinen Blick dem offenen Meer zugewandt. Ein kräftiger Wind blies von See her und ließ seine Kleidung wie eine Fahne flattern. Erst jetzt wurde Sarah bewusst, wie dünn das kurzärmlige Kleid des Mädchens war. Es wirkte wie aus Spinnweben gesponnen und fast schien es ihr, dass sie nicht nur durch das Kleid, sondern durch das ganze Kind hindurch sehen konnte. Es trug keine Strümpfe, nur weiße Sandalen an den feingliedrigen Füßen. Selbst durch den warmen Mantel spürte Sarah den eisigen Wind.
"Ist dir nicht kalt?", fragte sie zitternd. "Wie heißt du überhaupt?" "Feja", antwortete das Mädchen "ich heiße Feja." „Feja?", wiederholte Sarah nachdenklich. "Feja, was ist das denn für ein Name? Also, wie ist es, frierst du nicht?" Feja blickte sie verständnislos an. "Ist es denn kalt?"
„Ob es kalt ist?", fragte Sarah belustigt. "Es ist Ende Oktober, alle Zugvögel sind längst schon nach Süden geflogen. Gestern Morgen war auf unserer Wassertonne schon die erste Eisschicht."
„Oh", erwiderte das Mädchen abwesend, " muss ich wohl vergessen haben."
Sarah fasste sich mit gespieltem Entsetzen an den Kopf. "Vergessen haben, dass schon Ende Oktober ist, vergessen haben, dass es Stein und Bein friert!" Diesmal war Feja aufgebracht aufgesprungen.
"Nein, ich habe nicht vergessen, dass es Ende Oktober ist. Heute ist der 28. Oktober, ich vergesse niemals den 28. Oktober." "Ist ja gut ", meinte Sarah, „beruhige dich wieder, ich wollte dich nicht verletzen, es ist nur so seltsam." „Was ist seltsam?", entgegnete Feja schroff.
Sarah zog die Augenbrauen hoch. „Nun ja, ich komme hier bald jeden Tag um diese Zeit vorbei und so gut wie nie ist jemand an der Bucht anzutreffen. Aber heute bist du hier und tust so, als wenn du hier zu Hause wärst." „Vielleicht bin ich ja hier zu Hause", meinte Feja schnippisch.
„Hier ist niemand zu Haus, das nächste Gebäude steht eine Meile entfernt und gehört den Hastings. Dich habe ich weder bei ihnen, noch sonst irgendwo gesehen." Mittlerweile hatte die Sonne den Horizont berührt und das Wasser, das sonst ihren Glanz widerspiegelte, war nun so klar, dass man den Grund sehen konnte. "Schau nur!" Sarah zeigte mit dem Finger hinunter in die Bucht. "Da liegt sie! " Undeutlich war ein länglicher Schatten im Wasser zu erkennen. „Da ist sie, die Herzogin Cecilie." Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, stemmte Sarah die Hände in die Hüfte.
„Sie war ein großes Segelschiff, das vor über fünfzig Jahren hier gesunken ist. Viel ist nicht mehr von ihr übrig geblieben. Trotzdem nimmt das Meer jedes Jahr ein klein wenig mehr von ihr mit hinaus."
Die beiden Mädchen saßen nun eng nebeneinander und ließen sich von dem Anblick der untergehenden Sonne gefangen nehmen. "Uns bleibt nicht mehr viel Zeit", flüsterte Feja leise, „nur noch wenige Jahre bis ..." Sarah betrachtet ihren entrückten Gesichtsausdruck. "Bis was?"
"Ach nichts!", wich Feja ihr aus. Es glitzerte verdächtig in ihren Augenwinkeln, doch bevor Sarah etwas fragen konnte, hatte sie eine Träne mit dem Handrücken fortgewischt. „Willst du nicht erst mal mit zu uns kommen?" , schlug Sarah überraschend vor, „meine Tante und ich wohnen keine Viertelstunden von hier, du kannst dich dann erst einmal aufwärmen. Essen von heute Mittag ist sicherlich auch noch da." „Das geht nicht, ich muss doch hier auf Papa warten, er bringt mich zurück nach Hause." Bei dem Gedanken, dass Fejas Vater seine Tochter hier ganz allein in der Kälte warten ließ, wurde Sarah wütend. "Es ist unverantwortlich von ihm, dich hier so lange sitzen und frieren zu lassen", erklärte sie betont vorwurfsvoll. „Sag das nicht", entgegnete Feja verletzt, "er kann noch nicht bei mir sein, seine Zeit ist noch nicht gekommen. Und denke nicht schlecht über ihn, er ist der beste Vater, den man nur haben kann, außerdem friere ich nie!" „Dann bleibe ich eben so lange hier, bis dein Vater dich abgeholt hat", meinte Sarah trotzig. Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn, trotz aller Proteste über Fejas Schultern. Stumm saßen sie minutenlang da, bis Feja plötzlich aufsprang. Ihre Augen hatten sich erregt geweitet, sie streifte den Mantel ab und rannte den engen Klippenpfad entlang. "Halt, wo willst du denn hin", rief Sarah ihr nach. Feja drehte sich im Laufen kurz um, blickte Sarah aus leuchtenden Augen an und rief ihr etwas zu. Der raue Wind übertönte ihre Worte, so dass Sarah bloß etwas wie "nur ein einziger Tag im Jahr" verstehen konnte, dann lief Feja ohne ein weiteres Wort hinunter zur Bucht. Sarah sprang nun ebenfalls auf und folgte ihr, so schnell ihr verletztes Bein es zuließ. Sie entdeckte Feja, die schon ein großes Stück voraus gelaufen war, und nun sah sie einen Mann, der in dunkler Kleidung den Küstenweg aus Richtung Soar herunterkam. Sarah blieb auf halben Weg stehen und betrachtete ein wenig verlegen, wie das Mädchen mit kleinen Schritten, die kaum den Boden berührten, dem Mann entgegenlief. Bei ihm angekommen, bückte er sich zu ihr hinunter und hob sie sanft auf. Fejas Arme schlossen sich fest um seinen Hals und ihr Kopf schmiegte sich an seine Schulter. Der Mann schien Sarah nicht wahrzunehmen. Er ließ seine Tochter wieder auf den felsigen Boden der Steilküste hinunter und nahm mit ihr den Weg zur Bucht hinunter. Dort angekommen, gingen sie ein Stück den Strand entlang und wandten sich dann der offenen See zu. Mittlerweile war es dämmrig geworden. Aber es war trotz der zunehmenden Dunkelheit deutlich zu erkennen, dass sie Hand in Hand durch das flache Wasser hin zur Herzogin Cecilie gingen. Sarah wollte loslaufen, um die beiden vor den gefährlichen Unterwasserströmungen der Bucht zu warnen, hielt dann aber inne, als sie im letzten Licht der untergehenden Sonne schemenhaft erkannte, dass die See schon die Hüften des Mädchens umspülte.
Unerwartet wendete Feja sich noch einmal um und winkte ihr wie zum Abschieds zu.
Bestürzt blieb Sarah stehen, doch da kam ihr eine der vielen Geschichten in den Sinn, die alte Leute bis heute über das gestrandete Segelschiff und die Bucht erzählten. Dann, während der Seewind mit ihrem schulterlangen Haar spielte, hob Sarah ihre Hand und erwiderte Fejas Gruß, selbst dann noch, als das sacht vom Wind gekräuselte Wasser der Bucht ihre Anwesenheit längst in Vergessenheit gebracht hatte.
Bemerkung
Die Herzogin Cecilie hat es wirklich gegeben, sie lief von Australien kommend auf das Ham Stone Riff vor der Küste von Devon, Südengland. Leck geschlagen wurde sie von Schleppern in die Starhole Bay gebracht. Da das Schiff eines der letzten großen Viermast-Vollschiffe war, das noch in der Frachtschiffart eingesetzt wurde, zog es viele Sympathien auf sich. Es wurde über Englands Landesgrenzen hinaus Geld gesammelt, um die Herzogin Cecilie wieder flott zu machen. Aber alle Bemühungen wurden durch eine stürmische Grundsee zunichte gemacht, die ihren Rumpf in einer Nacht unreparierbar zerstörte. Reste des Schiffes sind auch heute noch vom Küstenwanderweg, nicht weit von Bold Head aus, zu erkennen.