Es war der 6. Mai 1902 Die Sonne erstrahlte mit ihrer ganzen Leuchtkraft über Saint Pierre und tauchte das Häusermeer in ein goldiges Licht. Elena Lamour, eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren, stand am Steg des Hafens und blickte angestrengt aufs Meer hinaus. Die Luft war Salz geschwängert und roch nach totem Fisch und frisch gebackenen Accras de mourue, kleine Krapfen mit Kabeljaufüllung, die Elena liebevoll zubereitet hatte. Von weitem sah sie die Fischer in ihren alten Kuttern durch das azurblaue Wasser pflügen. Sie kehrten von ihrem Fischzug heim, mit einem Gefolge gierig kreischender Möwen. Elenas Herz pochte zum zerspringen in freudiger Erwartung, ihren geliebten Pierre endlich wieder in die Arme zu schliessen. Die Kutter legten an. Braungebrannte, muskulöse Männer verliessen die Boote und schnürten sie an die davor gesehenen Pflöcke fest. Emsig luden sie ihren lukrativen Kabeljaufang aus. Es wurden derbe Witze gerissen und auf den Boden gespuckt. Ein paar Fischer sassen auf Holzkisten herum und pafften Zigaretten. Ihre Haut war vom Wind und Wetter gegerbt und sah aus wie altes Leder. Jean-Claude Voltaire gab Elena beim Vorübergehen einen Klaps auf den Hintern und Luc Du Pont starrte sie aus seinen verwegenen Augen unablässig an. Elena fröstelte ein wenig in ihrem weissen, zarten Kleid und drückte den Korb mit den Krapfen vor sich fest an die Brust.Die pastellfarbenen Holzhäuser von Saint Pierre und die Dorfkirche warfen bereits lange Schatten auf den Boden. Im Hintergrund erhebte sich schemenhaft der Vulkan Mont Pelée, mit seinen 1.397 Meter der höchste Punkt der Insel.Endlich kam Pierre mit langen Sätzen angelaufen. Sein braun gelocktes Haar leuchtete rötlich in der untergehenden Sonne.„Hallo Elena!“ Pierre strahlte über sein markantes Gesicht. Sein Lächeln entblösste eine Reihe perlweisser Zähne und seine grünen Augen funkelten wie zwei Smaragde.„Pierre!“ Elena warf sich ihrem Freund in die Arme und schmiegte sich wie eine Katze eng an ihn. „Ich habe dich so vermisst!“ „Ich dich auch!“ flüsterte Pierre in ihre seidige Haarpracht. Die beiden küssten sich stürmisch.„Und wer küsst mich?“ fragte plötzlich eine raue Männerstimme dicht neben ihnen. Es war Luc Du Pont. Er lebt seit Jahren auf Kriegsfuss mit Pierr Lavie, genau genommen, seit Pierre ihm Elena vor der Nase weggeschnappt hatte. „Was ist mit Sofia? Seit ihr nicht mehr zusammen?“ fragte Pierre ruhig und hielt Du Ponts wildem Blicke stand.„Die Hure hat mich betrogen!“ zischte Du Pont zwischen seinen fauligen Zähnen hindurch. Er kratzte sich an dem von Bartstoppeln übersäten Gesicht. Seinen Körper umhüllte der Geruch von Alkohol und Fischkadaver.„Ich habe es ihr schon heimgezahlt, wie allen…. die mir etwas weg nehmen!“ donnerte Luc Du Ponts Stimme los. Er blickte mit leicht zusammen gekniffenen Augen auf Pierre, der Elena fest den Arm um die Schulter gelegt hatte. Das Unheil lag förmlich in der Luft und liess Elena frösteln.„Wir sehen uns,…Pierre!“ stiess Du Pont noch einmal hervor, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand fluchend in Richtung Pub. Es war der 7.Mai 1902 Elena blickte aus dem Fenster ihres elterlichen, rosa angestrichenen Hauses. Pierre hatte gestern Abend um ihre Hand angehalten. Leichte Röte überzog noch jetzt ihre Wangen! Ihr Traum ging endlich in Erfüllung! Sie war verrückt vor Liebe nach Pierre! Sie wollte in täglich und stündlich lieben und nie mehr getrennt sein von ihm! Das Blut in ihr kam in Wallung, die Sehnsucht in ihr wurde grösser, wie die Wellen auf offener See. Die Gischt schäumte, die Zärtlichkeit die sie ausgetauscht hatten peitschte die beiden innerlich auf zu gigantischen Wogen bis hin zur Ekstase. Das Liebesfeuer loderte in ihnen und würde damit nie mehr aufhören! Doch es sollte alles anders kommen, als Elena sich in diesem Moment erträumt hatte.„Elena! ELENA!“ rief eine Frauenstimme schrill durch die Küche. Es war Elenas Mutter Marie, sie backte gerade Pfannkuchen mit Beeren.„Mama, was hast du denn?“ Elena lief zu ihrer Mutter und setzte sich zu ihr an den alten Küchentisch. „Du hast ja einen roten Kopf vor lauter Aufregung!“Marie wischte sich mit zitternden Fingern über die glänzende Stirn.„Elena, sie haben Pierre…verhaftet!“ verkündete Marie nun kleinlaut.„WASSS?“ schrie Elena entgeistert.„Victor Voltaire hat ihn heute Morgen abgeführt, nun sitzt Pierre im Gefängnis. Es soll Diebstahl sein,… welche Schande, …wer hätte DAS gedacht!“ Marie liess sich neben Elena auf einen Stuhl sinken. Verzweifelt knetete sie ihre knochigen Hände an denen noch Reste von Mehl und Butter klebte.„Mama, das ist nicht wahr! Pierre ist der liebste und anständigste Mensch auf Erden und er hat sich noch nie etwas zu Schulden kommen lassen und wir wollen heiraten und dass kann einfach nicht….“ Elena begann zu Husten weil sie sich im Eifer ihrer Rede verschluckt hatte und kaum mehr Luft bekam.Ihre Mutter biss die Lippen hart aufeinander und blickte angestrengt auf die Kerben in der Tischplatte. Ihr Schweigen war wie ein Dolchstoss in Elenas Brust.„Wer,…wer hat dich darüber informiert?“ fragte Elena Marie kleinlaut.„Luc. Es war Luc Du Pont.“ Es war der Abend vor der Katastrophe. Der kleine, weiss rot gestreifte Leuchtturm „Pointe aux Canons“, der die Fischer bei jeder Witterung heim in den sicheren Hafen lenkte, begann goldgelb zu blinken. Paulo und Marie standen mit ihrer einzigen Tochter vor ihrem Haus und blickten besorgt in Richtung Vulkan.„Schon am 2. März roch es dort nach faulen Eiern, schon damals stieg schwefliger Rauch aus seinem Teufelsboden auf!“ Paolo stapfte wie ein kleines, wütendes Kind mit beiden Beinen fest auf den Boden. Die Steinchen knirschten unter seinen Schuhen. „Niemand wollte mir glauben, Niemand!“ Elena lächelte ihrem Vater tröstend zu und drückte ihm seine grosse Männerpranke.„Papa, keine Angst! Wir sind hier in Sicherheit!“„Wir haben jetzt andere Sorgen, Paolo! Du solltest so schnell wie möglich mit deinem Freund Victor Voltaire sprechen, wegen Pierre! Elena hat da so ne Theorie!“ sagte Marie gereizt.„Ach, dass hat Zeit bis morgen!“Eine Möwe flog als nächtlichen Schatten über die drei Menschen hinweg. Es war der 8.Mai 1902 Morgens, 7:35 Uhr. Elena hatte einen Korb mit Proviant gepackt und war mit dem Kanu ihres Grossvaters auf das offene Meer hinaus gepaddelt. Sie hatte es zuhause nicht mehr ausgehalten. Marie war das reinste Nervenbündel weil ihr Mann ihr ständig den Kopf füllte mit der Prognose, dass ihr Vulkan sie bald einmal einäschern würde, aber es wolle ihm ja niemand glauben!Paolo hatte Elena versprochen, heute noch mit Victor zu sprechen und den Fall Du Pont gegen Pierre zu klären. Die Luft war noch ziemlich frisch an diesem schönen morgen. Jedes Mal wenn das Paddel wieder ins Wasser tauchte, das Kanu zügig vorwärts schwamm und die Gischt es umspülte, schien sich Elena immer weiter von ihren Sorgen zu entfernen.Saint Pierre war nur noch als winziges Dörfchen am Fusse des Mont Polée zu erkennen, als es beim Vulkan plötzlich zu einer gewaltigen Eruption kam. Der Berg öffnete seine Tore zur Hölle. Innerhalb von kürzester Zeit fegte eine Glutwolke aus dickem schwarzen Rauch auf die etwa sechs Kilometer entfernte Stadt hernieder. In der Wolke zuckten wütende Blitze, Steine wurden durch die Luft katapultiert und glühend heisse Lava floss den Berg hinunter.Der Strom traf die Stadt mit 160 Stundenkilometern, gepaart mit 300 Grad heissen Gasen und radierte sie einfach aus. In diesem Sturm aus Feuer starben innerhalb weniger Minuten 29‘000 Menschen.In der Totenstadt lagen überall verbrannte, verkrampfte und verdrehte Körper herum. Ein einziger Mensch überlebte in Saint Pierre das Inferno hinter den meterdicken Mauern einer Gefängniszelle. Von ConnyB