Eine kleine Geschichte über eine große Revolution und deren kleinen Ursprung.
Er hatte im Leben nie etwas Besonderes sein wollen. Sein Lebensentwurf bestand daraus, eine schöne Frau zu heiraten mit ihr eine unauffällige Menge Kinder zu zeugen, ein Haus zu bauen und einen Baum zu pflanzen. Er wollte normal arbeiten, Geld verdienen ein kleines bisschen Karriere machen, so wie man eben Karriere machen kann, wenn man motiviert bei der Sache ist, nicht dumm ist und Zeit seines Lebens noch mindestens einen halben Meter aus anderer Leute Ärsche herausschauen möchte. Seine Pläne funktionierten, schließlich waren sie nicht wirklich arriviert, mehrere Jahrzehnte lang gut und er war eigentlich zufrieden mit sich und der Welt. Manchmal schien die Sonne, dann war er sogar noch ein Stückchen zufriedener als sonst. Er zahlte seine Steuern, kehrte die Straße und engagierte sich in der Kirchengemeinde. Er hatte einen Freundeskreis, jedoch schlug man nur zivilisiert über die Stränge, sodass die Nachbarn keinen Grund hatten sich zu beschweren. Wenn der Verfassungsschutz ein Demonstrationsvideo hätte drehen wollen, wie der brave und normale Bürger auszusehen hätte, wäre man sicher auf ihn zurückgekommen, wäre er nicht so unauffällig gewesen, dass man ihn gar nicht erst bemerkte. So hätte es seiner Meinung nach noch lange weitergehen können. Er war sogar der Meinung es sei nicht besonders viel verlangt, wenn man verlangte, es solle so weitergehen. Doch das Leben, das Schicksal, Gott, oder wie auch immer durchkreuzten seine Pläne.
Es war ein normaler Tag in einem normalen Leben. Er hatte gearbeitet und heute war ihm seine Arbeit besonders interessant vorgekommen. Nun fuhr er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause. Er kannte die Strecke und auch die meisten der Fahrgäste waren ihm vom Sehen her bekannt. Nur die drei oder vier Typen, die an einer Haltestelle zustiegen kannte er nicht. Er kannte sie nicht und das war eigentlich nichts Besonderes. Es war eine normale Busstrecke es stiegen immer mal wieder Leute ein, die man nicht kannte und noch nie gesehen hatte. Doch in der Regel sahen die Menschen ähnlich aus wie er. Bürodresscode, oder Feierabenddresscode. Doch diese Leute schienen gar nicht erst im Büro zu arbeiten.
Der Bus fuhr wieder an und er behielt die Männer im Auge, die an verschiedenen Türen eingestiegen waren. Sie gehörten eindeutig zusammen, egal wo sie den Bus betreten hatten. Man konnte nicht eindeutig fest machen warum, aber sie gehörten zusammen. Bei näherem Betrachten sahen sie südländisch aus mit rabenschwarzen Bärten.
Wie zur Bestätigung seiner Gedanken holten sie alle drei recht simultan grüne, laminierte Ausweise aus ihren Taschen, auf denen merkwürdige Namen standen.
„Fahrkartenkontrolle!“, sagten sie.
Er tastete nach seinem Geldbeutel, klappte ihn auf und … nichts.
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Seine Frau hatte ihn vor der Abfahrt heute morgen extra daran erinnert, dass heute Monatsanfang war, das heißt er eine neue Zeitkarte einstecken musste. Das kotzte ihn gewaltig an. Zum einen musste er fünfzig Euro zahlen, obwohl er doch eine gültige Fahrkarte hatte, nur eben nicht bei sich. Außerdem würde ihn seine Frau wochenlang triumphierend anschauen und stichelnde Bemerkungen abgeben. Nein! Da hatte er keinen Bock drauf.
Die Kontrolleure kamen von zwei Seiten langsam auf ihn zu. Mal hier mal dort genauer hinschauend mit Leuten redend. Wer Kopfhörer auf hatte wurde auch mal leicht angeschubst. Doch sie kamen unweigerlich näher. Das waren doch auch nur Menschen, dachte er sich. Mit denen konnte man reden, war er sich sicher. Schließlich hatte er auch keine Fahne oder war ein frecher Schüler. Ihm konnte man ja vertrauen. Die Kontrolleure würden sicher einsehen, dass es keinen Sinn machte, dass er log. Warum sollte er sie belügen. Die fünfzig Euro verdiente er in einer halben Stunde, wenn er Glück hatte. Wenn er wirklich keine Fahrkarte hatte, konnte er es zugeben.
„Fahrscheine bitte!“, sagte der Kontrolleur
„Ups, der liegt noch zu Hause.“
„Name?“
„Hä?“
„Name?“
„Was...warum?“
„Sie haben keinen Fahrschein. Das kostet fünfzig Euro, sie müssen mit mir aussteigen und ich muss ihre Personalien aufnehmen.“
„Aber ich hab doch einen Fahrschein. Eine Monatskarte.“
„Dann zeigense mal her“
„Ja, zu Hause.“
„Was ich nich sehe gibts nicht“
„Das ist doch absurd.“
„Warum absurd? Zutritt nur mit Fahrschein. In der Tasche. Woher soll ich wissen, dass sie einen Fahrschein zu Hause liegen haben.“
„Weil ich es ihnen sage?“
„Da könnte ja jeder kommen“
„Ich bin aber nicht jeder. Und auch nicht irgendwer!“
„Ja, und wer sind sie genau? Das wollte ich ja von ihnen wissen.“
„Ich bin niemand der es nötig hat schwarz zu fahren oder sich mit Lügen um seine Strafe zu drücken“
„Hören sie. Wer keine Fahrkarte hat muss ein erhöhtes Beförderungsentgelt zahlen. Da führt kein Weg dran vorbei:“
„Sie machen sich lächerlich. Ich zahle das nicht! Das sind ja Nazi-Obrigkeitsstaatmethoden hier“
„Ich versichere ihnen alles hat eine Ordnung. Sie bekommen das auch schriftlich...“
„Natürlich bekomme ichs schriftlich! In dreifacher Ausführung und Durchschlag!... Und Stempel! Das ist es doch woran unser Staat krankt. Da können sie auch die anderen fragen.“
Im Bus zeigte sich verhaltenes Nicken. Bürokratie und Kontrollwut waren allgemein anerkannte Schreckgespenster.
„Beruhigen sie sich doch. Sie können daran nichts ändern und ich auch nicht. Warum müssen sie mir also meine Arbeit erschweren.“
„Ich beruhige mich ganz bestimmt nicht! Der Mensch muss sich auch irgendwann mal wehren. Mein ganzes Leben habe ich mich von euch, der Obrigkeit den ganzen Kontrollfreaks mit ihren sinnlosen Überwachungsmethoden unterdrücken lassen. Jetzt reichts!“ Er hatte sich in Rage geredet und die Anerkennung, die ihm von Seiten der Fahrgäste im Bus zuteil wurde bekräftigte ihn.
„Soll ich dir mal sagen, wo du dir dein erhöhtes Beförderungsentgelt hinstecken kannst?“
„Ich bitte sie. Ich tue nur meine Arbeit.“
„So einfach kommst du nicht davon! Das hatten wir in unserer Geschichte schonmal. Aber diesmal nicht, hören sie? Diesmal nicht!“
„Was soll das? Würden sie mir jetzt bitte ihren Namen angeben, oder muss ich die Polizei rufen?“
„Wollen sie mir jetzt auch noch drohen? Ist das ihre Taktik? Abschreckung und Polizeiherrschaft? Ich sage ihnen was sie jetzt machen: Sie steigen aus! Jetzt und hier!“
„Soll das ein Witz sein? Ist das hier versteckte Kamera oder so'n Scheiß? Sie haben hier nichts zu melden. Hier habe ich Hausrecht! Wenn hier jemand rausgeschmissen wird, dann sie, aber nachdem sie mir ihren Namen gesagt haben!“
„Habt ihr das gehört?“, sagte er zu den Menschen, die seine Worte mit Nicken aufnahmen und sich mittlerweile hinter ihm versammelt hatten. (Manche von ihnen hatte auch keinen Fahrschein, was die Kontrolleure noch nicht bemerkt hatten. Durch den Tumult hofften sie ohne Strafe davonzukommen)
„Wir sind das Volk Kollege. Auch wenn es euch nicht passt, aber uns schmeißt man nicht einfach raus! Das Hausrecht hier haben wir. Und wenn ihr es uns nehmen wollt, dann werdet ihr bezahlen!“
Der Kontrolleur rief seine Kollegen zu sich.
„Da macht einer Stress“, sagte er.
„Der, der hier Stress macht bist du. Ich wollte einfach nur nach Hause fahren und mein Leben leben.“ Inzwischen hatte sich hinter ihm eine noch größere Menge versammelt, die jedes seiner Worte begeistert zur Kenntnis nahm. Er wandte sich an sie. „Helft ihr mir uns gegen diese Faschisten zu wehren?“
Sie brüllte ihre Zustimmung.
„Also mir reicht das jetzt“, sagte einer der Kontrolleure und zückte sein Handy. Sofort wurde es ihm aus der Hand geschlagen. Die Kontrolleure wehrten sich mit der Aggressivität von Leuten, die ihr ganzes Leben wegen ihrer Herkunft auf die Mütze bekommen haben und es kam zu einem kurzen Tumult, doch es zeigte sich, dass die Passagiere in der Überzahl waren. Zumindest die Passagiere, die auf seiner Seite waren. Es gab nach wie vor noch welche, die unparteiisch waren und nichts mit der Sache zu tun haben wollten. Aber den meisten waren die Kontrolleure ohnehin zuwider, weil sie selten freundlich waren und kein Verständnis für menschliche Tragödien zeigten.
„Ergebt ihr euch?“, fragte er.
„Sind sie verrückt geworden?“, antwortete der Kontrolleur.
„OK. Anhalten!“, schrie er zum Fahrer, der sich bislang unauffällig verhalten hatte, da er nicht wollte, dass man auf ihn aufmerksam wurde. Tatsächlich hielt der Bus und die Kontrolleure wurden herausgeworfen. Ein paar weitere Leute verließen den Bus ebenfalls, weil sie mit der Geschichte nichts zu tun haben wollten.
Der Bus fuhr dann weiter und er verkündete den restlichen Fahrgästen, der Bus sei nun befreit und wieder in der Hand des Volkes.
Das war ein bewegendes Ereignis und man wäre ihm nicht gerecht geworden, wenn man danach einfach nach Hause gegangen wäre. Daher traf es sich gut, dass niemand nach Hause wollte.
„Müssen wir uns nicht unseren Kameraden in den anderen Bussen solidarisch zeigen und diese auch noch befreien?“, wollte einer wissen.
Natürlich mussten sie. Die Menschen in den anderen Bussen waren begeistert und halfen bei ihrer Befreiung kräftig mit. Es war merkwürdig. Rationell betrachtet waren die Befreiungsaktionen überflüssig und sinnlos. Aber er berauschte sich daran, dass andere Menschen auf ihn hörten und ihm folgten, weshalb er weitermachte. Das war dann doch eine recht natürliche Reaktion, aber das die anderen Buspassagiere ihm folgten war merkwürdig.
Nachdem die Hälfte aller Busse befreit war fing die Verkehrsorganisation damit an Gegenmaßnahmen einzuleiten. Die Busse wurden geschützt und die befreiten Busse wurden angegriffen. Er wurde darüber sehr zornig und verlieh seinem Zorn in einer Brandrede an seine Anhänger Ausdruck. Die Passagiere könnten nur dann frei sein, wenn auch die Basis, das Depot und die komplette Verkehrsorganisation befreit sei. Man machte sich auf zum Gebäude und unterwegs schlossen sich weitere Menschen an, man wusste nicht woher sie kamen, wie sie von der Sache wussten und warum sie Schlagstöcke dabei hatten, aber er war der Meinung, dass Schlagstöcke dem Vorhaben nicht hinderlich waren und er sollte recht behalten. Nach einem halbstündigen Kampf war das Gebäude besetzt und die Buspassagiere endgültig von der Tyrannei der Erbsenzähler und Kontrolleure befreit.
Seine Frau rief ihn an und fragte, wann er denn zum Abendessen nach Hause komme und er antwortete ihr, er müsse noch etwas fertig machen, sie solle nicht auf ihn warten. Dann trat er vor seine Anhänger. Mittlerweile war ein Anruf von der Polizei eingegangen, die die Besetzer dazu aufforderte das Gebäude so schnell wie möglich zu räumen. Er schrie in den Hörer, dass die wahren Besetzer die gewesen seien, die man kürzlich fortgejagt habe und dass man gekommen sei um zu bleiben.
„Meine Mitkämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit in diesem Land!“, begann er. Es folgte eine Rede, in der er sein Bedauern darüber ausdrückte, dass die Welt doch komplizierter sei, als angenommen und man wohl erst befreit sei, wenn man sich von der Polizei befreit habe, denn die Erbsenzähler im Rathaus (Die Verkehrsorganisation war städtisch) seien nicht bereit einfach aufzugeben. Man müsse nun auf Öffentlichkeitsarbeit setzen. „Wir müssen den Menschen da draußen zeigen, dass wir sie befreien wollen. Die dürfen nicht der Feindpropaganda erliegen!“
Es wurde eine Website erstellt und bei Facebook ein Profil angemeldet, die Nachricht von der bevorstehenden Befreiung des Verkehrswesens drang hinaus in die Welt und von der Welt drang Unterstützung zu den Befreiern.
Die Menschen hatten sich schon lange nicht mehr mit irgendetwas identifizieren können. Es gab nichts außer Fußballvereine, und mit einem Cristiano Ronaldo und seinen Sportwagen, Rolexuhren und teuren Plastikschönheiten in High Heels konnte sich der „gemeine“ Mensch auch nicht mehr wirklich identifizieren. Die Parteien hatten ihre Legitimation irgendwann zwischen den Achtzigern und den Nuller Jahren auf dem Weg verloren und seitdem nicht mehr ernsthaft danach gesucht, sondern den Kuchen, der noch da war für sich günstig aufgeteilt und die Zeit genossen, die sie noch hatten.
Revolutionäre Bestrebungen gab es nicht. Und wenn, dann waren sie Nazis oder linke Spinner und so klein und fanatisch, dass niemand sie für voll nehmen konnte. Dann war da dieser Mann, der einen Kampf führte. Das der Ausgangspunkt dieses Kampfes ein erhöhtes Beförderungsentgelt von fünfzig Euro gewesen war, ließ man recht schnell unter den Tisch fallen. Es war ein Kampf, gegen so ziemlich alles, was schlecht lief. Und es lief eine Menge schlecht. Er führte den Kampf mit einer solchen Leidenschaft, dass man einfach mitmachen musste. Er konnte einfach nicht falsch liegen.
Am nächsten Morgen versuchte die Polizei das Gebäude zu umstellen, doch eine große Masse an Sympathisanten der Besetzer hinderte sie daran. Offenbar war wieder was los in Deutschland und Lenin hatte gesagt, wenn der Deutsche während der Revolution den Bahnhof stürmte löse er eine Bahnsteigkarte, doch es schien als habe Deutschland den Mann gefunden, der die Bahnsteigkarte endgültig abschafft.
Nachdem die Sympathisanten weggeräumt waren, hatten sich die Besetzer aus dem Haus zurückgezogen. Doch sie tauchten ab und schworen im Untergrund weiterzukämpfen. Für ein Verkehrssystem, dass den Passagieren gehört, für ein Land voller sozialer Gerechtigkeit, gegen Altersarmut und gegen den Klimawandel. Man wollte Politiker entmachten und, wenn man gerade dabei war schlechtes Wetter ein für alle Mal verbieten. Alles verschmolz in einer Losung: Viva la revolución. Und egal, warum, jeder machte irgendwie mit.
d3f4c3r Interessant - Interessante Geschichte, wahrer Kern wechselt sich mit Notwendigkeiten ab und/oder verschmelzen. Schade das du so ins erzählerische Abschweifst. Wäre schöner wenn du es ein wenig mehr drum herum schreibst den Leuten und dem Wesen mehr Leben einhauchst. |