Kurzgeschichten. Melancholich bis nachdenklich.
Lange hatte es gedauert, bis ich mich wieder daran gewöhnt hatte, allein zu sein. Ohne Partnerin. Wochen und Monate vergingen, bis ich zum ersten Mal wieder richtig schlafen konnte. Und dann passierte es.
Kurz nach meinem Einzug in meine eigenen vier Wände, verriet meine Ex meine neue Adresse ihrer Familie. Ein Karton stand noch bei ihr, den ich schon seit langem abholen wollte und doch nicht getan hatte. Stets kam was dazwischen. Entweder bei mir, oder bei ihr. Es war nichts weiter wichtiges drin. Sie wollte es nur loswerden, damit sie keine Erinnerungen mehr an mich hatte. Dafür hatte ich sie.
Den Karton hatte ich so, wie er war, in meinen Keller gestellt und dort stehen lassen. Alles, was ich zusätzlich in den Keller stellte, baute ich drumherum. Es war ein ziemliches Chaos darin. Aber wann brauchte man etwas, was man in den Keller geschleppt hatte?
Ich lebte mein Leben. Nur ganz langsam ging es bergauf mit mir. Meine Depressionen, wegen der Trennung, waren hartnäckig. Immer wieder musste ich an sie und uns denken, obwohl ich es gar nicht wollte. Oft hatte ich Wut im Bauch, ihretwegen. Aber wir hatten auch schöne Momente gehabt. Wenn ich daran dachte, kamen heimliche Tränen.
Nichts wusste ich mit mir anzufangen. Alles ödete mich an und ging mir auf die Nerven. In der glotze liefen die üblichen Talkshows, Realityshows, Dokusoaps und der ganze Mist, welcher die Menschheit verdummen lässt. Da kam mir das Geläut, an meiner Wohnungstür, gerade recht. Ein wenig Ablenkung tat mir ganz gut. Doch bekam ich erst einmal einen Riesenschreck, als ich sah, wer vor der Türe stand. Nichts gegen das Mädel. Ich konnte sie nur nicht leiden. Einst war sie meine Schwägerin gewesen und ich hatte gehofft, ich muss die Brut nie wieder sehen. Nun stand sie da und ich wusste nicht, was ich sagen und wie ich reagieren sollte.
„Kann ich mit dir reden? Ich kenne niemanden, dem ich es sonst sagen könnte.“
Schweren Herzens ließ ich sie eintreten. Ich hatte ja nichts persönliches gegen sie. Aber manchmal war sie sehr nervtötend. Stellte dumme Fragen und wusste selber nicht, was sie wollte. Heute so, morgen so. Ich hatte schon mehrmals versucht ihr zu helfen. Aber am Ende wollte sie dann doch nicht mehr und ich war für alle der Arsch. Und nun war ich es schon wieder, dachte ich, als sie mich ansah. Hinter ihren Augen sammelten sich Tränen. Lange würde es nicht mehr dauern und sie würde anfangen zu heulen.
Minutenlanges Schweigen. Keiner von uns sagte ein Wort. Ich fragte mich, warum sie ausgerechnet zu mir kam. Noch nie hatten wir ein enges Verhältnis gehabt. Und schon bekam ich eine Antwort, auf meine ungestellte Frage:
„Du hattest doch mal gesagt, das ich jeder Zeit zu dir kommen kann, wenn ich ein Problem hätte.“
„Das war, bevor...Ach, was soll's. Wenn du schon mal hier bist...Fang an.“
Es fiel ihr nicht leicht, es zu sagen. Sie druckste herum und brachte nichts zustande. Aus Blödsinn, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, sagte ich einfach, das sie schwanger sei. Sie erschrak und fragte mich, woher ich das wüsste.
„Ein Schuss ins Blaue. Wer war es und was sagt er dazu?“
„Er weiß nichts davon.“
Und da kamen die Tränen. Was sollte ich machen? Einst waren wir eine Familie gewesen. So schlecht war sie ja nun auch wieder nicht. Also nahm ich sie in die Arme und tröstete sie.
„Weißt du wenigstens, ob du das Kind behalten willst?“
Sie schüttelte ihren Kopf. Das konnte bedeuten, das sie es nicht wusste, oder das sie lieber abtreiben wollte.
„Wenn ich nicht irre, dürftest du jetzt fast achtzehn sein. Sicherlich wohnst du noch zu Hause. Und so, wie ich deine Familie kenne, werden sie sich nicht geändert haben. Ich, an deiner Stelle, würde aufs Jugendamt gehen und melden das du schwanger bist und darum bitten, das du in eine eigene Wohnung ziehen darfst. Es wäre schädlich für das Kind, wenn es bei deinen Eltern aufwächst. Schau dich an und deine Geschwister. Tut mir leid. Aber du musst zugeben, das...“
„Schon gut. Du hast ja recht. Kann ich nicht erstmal bei dir bleiben?“
innerlich schelte ich mir eine, weil ich es ihr erlaubte. Ehe ich es mich versah, hatte ich eine schwangere Frau bei mir. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, musste ich ihre Eltern bei mir reinlassen. Das Jugendamt wollte ein klärendes Gespräch. Die kleine Göre wollte partout nicht, das es bei ihren Eltern zu Hause stattfand. Ich verstand es. Aber warum ausgerechnet bei mir? Warum musste ich darunter leiden. Was hatte ich angestellt?
Meine Laune war nicht die Beste. Vor allem, als sich ihre Mutter, in meiner Wohnung, eine Zigarette anzünden wollte.
„Hier wird nicht geraucht.“, sagte ich ganz ruhig.
Einen Moment lang hielt sie inne und ich dachte, sie würde die Zigarette wieder einstecken. Tat sie aber nicht.
„Kippe weg, sonst knallt's.“, warnte ich sie.
Als würde ich mit einer Wand reden. Die flamme hatte fast die Zigarette erreicht, da stand ich auf und scheuerte ihr eine, das die Zigarette zu Boden fiel. Ihr Freund wollte mich schlagen, aber die Dame und der Herr vom Jugendamt hielt ihn davon ab. Sagten aber nichts zu mir, weil ich ihr eine geklebt hatte. Irgendwie waren sie mir sympathisch.
Die Sachlage war schnell geklärt. Es wäre schneller gegangen, hätte ich mein großes Maul gehalten. Ich musste unbedingt davon anfangen, das ihre Kinder schon des Öfteren auf dem Jugendamt waren und ihre eigenen Eltern angezeigt hatte. Eigentlich tat ich es nur, weil ich wissen wollte, warum nie jemand richtig kontrolliert hatte. Bei uns kamen sie häufig. Die Hausbewohner hatten anscheinend Langeweile und hatten deshalb häufig dort angerufen. Ich regte mich, am Ende, schon gar nicht mehr auf. Stattdessen ließ ich sie rein und machte uns Kaffee. Da ich wusste, das sie oft und unangemeldet kamen, hatte ich stets Kuchen im Haus.
Am Ende, des Gesprächs, hatten ihre Eltern Stinkige. Ihre eigenen Kinder zeigten sie auf dem Jugendamt an. Schock. Dabei war sie so eine gute Mutter. Sie soff doch nur, damit sie lustig wurde und ihren Freund ertrug, der ziemlich schnell in die Luft ging und lange oben blieb. Seit dem sie mit ihm zusammen war, trank sie mehr, als zuvor. Manchmal dachte ich darüber nach, wie es gewesen wäre, wenn ich sie genommen hätte. Sie wollte mich ja. Vor allem dann, wenn sie besoffen war. Da wollte sie, das ich sie besteige. Aber ich konnte nicht. Nicht mein Typ. Ich fand sie abziehend.
Zum Glück ging alles gut aus, für die Kleine. Das Jugendamt beförderte ihre Eltern aus meiner Wohnung und sorgte dafür, das meine ehemalige Schwägerin bei mir wohnen durfte und ihre Eltern Abstand zu uns halten mussten. Er musste ganz vorsichtig sein, da er schon mehrfach vorbestraft war. Wenn ich gewollt hätte, kurzer Anruf und kleine Lüge, schön wäre er wieder hinter schwedischen Gardinen gewesen. Aber da ich mit denen nicht zu tun haben wollte, machte ich gar nichts.
Es gab Momente, da waren wir kurz davor mit einander zu schlafen. Aber wir taten es nicht. In der Zwischenzeit hatten wir uns näher kennengelernt. Viel unterschied zwischen ihr und ihrer Schwester gab es nicht. Was wohl an den Genen und der Erziehung, die sie nie hatten, lag. Dennoch war sie anders. Dachte anders. Sie hatte Potenzial. Unter anderen Umständen hätte sie ihr Abitur locker geschafft. Ihre Schwester hätte problemlos die mittlere Reife geschafft. Doch hatte sich niemand darum gekümmert. Eigeninitiative war zu schwach ausgeprägt.
„Wenn ich das Kind zur Welt gebracht habe, möchte ich das Abitur nachholen.“, sagte sie mir eines abends, als wir vor der glotze hingen.
„Respekt. Ich hoffe, du ziehst es durch. Auf das Kind kann ich derweil aufpassen, während du in der Schule bist. Teilweise kann ich dir auch beim Lernen helfen. Hast du schon einen Namen?“
„Ich nenne es nah dir. Es soll so werden, wie du. Lieb, rücksichtsvoll und jeder zeit hilfsbereit.“
Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet gehabt. Aber es ehrte mich.
Pläne ändern sich. Kurz vor der Entbindung war sie ausgezogen. Keine Ahnung wohin ihr Weg sie führte. Einmal hätte ich schon gern das Kind gesehen. Mal in den arm genommen. Aber dies wurde mir nicht gegönnt. Rund sechs Monate war ich gut genug für alles gewesen. Und nun? Ich versuchte, nicht daran zu denken. Sie brauchte meine Hilfe nicht mehr, also war sie gegangen. Vielleicht ging sie ja zurück zu ihren Eltern. Vielleicht hatte sie auch ein neues Glück gefunden. Wer weiß das schon. Ob sie ihrem Kind wirklich meinen Namen gab?
Es war ein Schlag ins Gesicht. Durch Zufall hatte ich davon erfahren. Nichtsahnend ging ich die Straße entlang und da sah ich das Titelbild. Ganz groß und deutlich erkannte ich meine Jungs. Trotz der Jahre, die ich sie nicht gesehen hatte, erkannte ich sie sofort wieder. Leider nicht unter einem guten Stern. Denn sie waren Kriminelle. Anführer einer Bande. Was für ein Schock. Bis zum späten Abend konnte ich es nicht verdauen. Und schon am nächsten Tag...
Bei mir dauert es lange, bis mir die Sprache fehlt. Aber als ich das gelesen hatte. Ich musste reagieren. Zu viele wussten, das es meine Kinder waren und sie meine Ex. In all den Jahren, die ich mit ihr zusammen war, war ich stets der Arsch gewesen. Ich hatte mich nicht mehr dagegen gewehrt, da es eh kein Sinn hatte. Anfangs hatte ich noch versucht, alles richtig zu stellen. Aber mir hatte keiner zugehört. Irgendwann gab ich auf. Sollten sie doch alle von mir denken, was sie wollten. Es war mir egal.
Es kam der Tag, der Wende. Die Beziehung brach völlig entzwei. Obwohl ich schon lange keinen Sinn darin fand, sie fortzuführen, hielt ich daran fest. Der Kinder zu liebe. Doch eines schönes Tages warf sie mich raus. Knallhart. Warum? Das weiß ich bis heute nicht. Mein Glück war, das ich mit meinen Kollegen gut befreundet war. Die ersten Nächte verbrachte ich bei ihnen. Bis ich endlich eine günstige Wohnung für mich fand. Ihnen hätte ich gern von meiner kaputten Beziehung erzählt. Mein Herz bei ihnen ausgeschüttet. Aber sie wollten von alldem nichts wissen. Was soll's. Es gibt schlimmeres.
Niemand weiß, wie es damals wirklich war. Doch jetzt war der Zeitpunkt gekommen, es zu sagen. In aller Öffentlichkeit. Zuerst musste ich zur Zeitung fahren. Zu der Zeitung, bei der meine Ex ein Interview gegeben hatte, mit falschen Aussagen. Ihrer Meinung nach, war ich an allem Schuld. Angeblich war ich abgehauen und habe sie alle im Stich gelassen. Dabei war sie es, die mich rausgeschmissen hatte und die mir den Kontakt zu meinen Kindern verbot. Und das musste jetzt die Zeitung und deren Leser erfahren.
Nach dem ich das erledigt hatte, hielt ich nach meinen Buben Ausschau. In der Zeitung stand ja geschrieben, wo sie sich gerne und oft aufhielten. Und dort fand ich sie auch. Es war nicht leicht, an sie heranzukommen, da ihre Bande mir den Zugang verwehrte. Aber sie waren noch jung und schmächtig. Angeber. Nur in der Masse hatten sie das große Maul.
Als ich bei ihnen war, schauten wir uns eine ganze Weile an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Lange war es her, das wir uns gesehen hatten. Konnte nicht glauben, das sie meine Buben waren. Zugegeben, sie waren schon damals keine Engel gewesen. Aber das sie einmal so enden würden, hätte ich nie gedacht.
Ich lud sie zu mir ein. Ganz spontan. Nach kurzem Zögern, kamen sie mit mir mit. Schweigend lief ich zwischen ihnen. Ich kam mir ziemlich klein vor. Obwohl sie noch im Wachstum waren, war ich einen halben Kopf kleiner, als sie.
Bei mir angekommen, öffnete ich mir eine Flasche Bier. Dann setzten wir uns in mein kleines Wohnzimmer und schwiegen uns minutenlang an. Keiner wusste, was er sagen sollte. Wie anfangen?
„Hat eure Mutter euch gesagt, das ich verschwunden bin und nichts mit euch zu tun haben will?“, fragte ich.
„Hat sie. Aber wir glauben ihr nichts mehr. In den letzten zwei Jahren hat sie uns nur Lügen erzählt. Sie hat es selbst gar nicht mitbekommen, wie sie sich ständig versprach...“
Ich klärte sie auf, wie es wirklich war. Danach entschieden wir uns, das wir drei zusammenziehen. Und sie versprachen, das sie sich bessern würden. Keinen Blödsinn mehr bauen und sich von ihren jetzigen Freunden fernhielten, in die schule gingen.
Lange hat es gedauert. Aber nun sind wir ein Familie. Zwar ohne Mutter. Aber die fehlt uns nicht.
Er saß am ende des Bahnsteigs und beobachtete den herannahenden ICE. Wir gern hätte er sich davor geworfen. Seinem Leben ein Ende bereitet. Das Leben war hart. Zu hart. Ein Genickschlag nach dem anderen. Die ganze Welt hackte auf ihn herum. Dabei war er ein ruhiger Typ, der seine ganze Energie aufwendete, um anderen zu helfen. Und dabei vergaß er ganz und gar sich selbst. An sich, dachte er zuletzt. Er verstand die Welt nicht. Und auch sich selbst nicht. Warum tat er es immer und immer wieder, wenn er ganz genau wusste, das er am Ende der Arsch ist?
Vor wenigen Stunden saß er, mit seiner Frau, beim Jugendamt. Es kam zu einem heftigen Streit, bei dem er völlig ausgerastet war. Der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. All die Jahre hatte er sich alles gefallen gelassen. Alles in sich hineingefressen. Den Hass. Die Wut. All den Ärger, der vergangenen Jahre. Es hatte ihm einfach gereicht. Vor allem, weil er seine Frau stets in den Himmel gehoben hatte, obwohl sie es gar nicht verdient hatte. Sie konnte ganz schön jähzornig sein und die Wahrheit so verbiegen, das sie am Ende der gute Geist war und er das totale Arschloch.
An diesem Tag war es wieder so gewesen. Seit etwa einem Jahr lebten sie getrennt, hatten aber noch regen Kontakt zueinander. Nicht nur wegen der Kinder. Sie trafen sich auch mal so, während jene im Kindergarten waren. Telefonierten viel und verstanden sich meist traumhaft. Deshalb wollte auch keiner die Scheidung einreichen. Wer garantierte ihnen, das sie für immer getrennt blieben? So gut, wie sie sich nach der Trennung verstanden haben, war die Wahrscheinlichkeit groß, das sie eines Tages wieder zusammen kamen.
Sie hatte behauptet, das sie sich jeden Tag intensiv mit ihren Kindern beschäftigte. Mit ihnen spielte. Das stimmte auch. Zumindest, wenn die Helfer vom Jugendamt in der Nähe waren, um sie zu beobachten. Da konnte sie auch lieb und nett sein. Aber wenn die nicht da waren, saß sie vor ihrem Computer und chattete mit wildfremden Typen. Machte sie heiß und ließ sie eiskalt fallen. Ihr Hobby, könnte man sagen. Und die Kinder machten, was sie wollten. Wenn sie mal hinsah, rastete sie aus, weil sie sah, das die Kinder auf ihren Betten hüpften, oder an der Steckdose spielten, oder irgendwas kaputt machten.
Er gab sich stets, wie er war. Ruhig und gelassen. Machte sich keinerlei Gedanken darüber, was die Helfer vom Jugendamt von ihm sehen wollten. Was brachte es, wenn er mit den Kindern pädagogisch wertvolle Spiele spielte. Sie wollten raus. An die frische Luft und toben. Ausgelassen spielen und nicht denken. Denn denken, mussten sie im Kindergarten genug. Er suchte auch Orte aus, wo viele Kinder waren und er sich gemütlich auf eine Bank setzen konnte. Das gefiel den Helfern nicht. Daher wollten sie ihm auch das Sorge- und Umgangsrecht entziehen. Dies wurde ihm knallhart ins Gesicht gesagt. Seine Frau befürwortete es. Und genau das war der Auslöser gewesen. Er schrie sich heißer. Erzählte die Wahrheit. Wusste dabei aber ganz genau, das ihm niemand glauben würde. Es waren alles Frauen gewesen und die hielten zusammen. Und als Mann hatte man es so wie so schwer, wenn es um das Sorgerecht der Kinder ging. Er war nur fürs zahlen zuständig. Wenn er nicht genug verdiente, musste er sich einen Zweijob suchen. Auch das wurde ihm eiskalt ins Gesicht gesagt. Von einer Frau.
Bevor er zur Tür rausging, drehte er sich ein letztes mal um und stieß heiser heraus, das er es satt hätte. Die Lügen seiner Frau und die Dummheit derer, die ihr glaubten. Speziell der störrischen Zicken des Jugendamtes. Herr, stell schon mal das Bier warm. Ich bin gleich bei dir.
Er hatte wirklich vorgehabt, sich vor jenem Zug zu werfen, den er gerade hat vorbeifahren sehen. Aber er konnte es nicht. Irgendetwas hielt ihn davon ab. Seine Frau hatte ihn von Weitem beobachtet und kam langsam auf ihn zu.
„Ich wusste, das du nur heiße Luft von dir gabst. Was anderes kannst du gar nicht. Feiger Hund“
Er sah sie an. Lange. Minutenlang. Dann stand er auf, kam ihr entgegen und schubste sie auf das andere Gleis, wo soeben ein ICE einfuhr.
Er lag in seinem Bett. Alpträume ließen ihn nicht schlafen. Seit dem Vorfall, hatte er keine Nacht mehr durchschlafen können. Dabei war es nur ein Unfall gewesen. Oder etwa doch nicht?
Der Tag hatte ganz normal begonnen. Alles war wie immer. Sein Frau war vor ihm aufgestanden und hatte den Kaffee gemacht. Bis auf ihren Tanga, hatte sie nichts an. Früher hatte es ihm nichts ausgemacht. Da waren sie auch noch alleine gewesen. Nicht selten kam es vor, das er sich noch einmal auszog und er seine Frau genoss. Da hatte er noch gespürt, das seine Frau ihn liebte. Heute sah es anders aus. Sie machte so ziemlich alles, was ihm missfiel. Nur noch selten war sie nett zu ihm. Wann hatte sie das letzte mal etwas für ihn getan. Ihm eine kleine Freude gemacht? Lange her.
Er brachte ihr ab und an eine Kleinigkeit mit. Aber so richtig freuen darüber, tat sie sich nur selten. Meist nahm sie es einfach hin. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Der Beischlaf hatte auch drastisch nachgelassen. Er war immer noch scharf auf sie. Schon der Anblick, wenn sie nackt, oder auch nur halbnackt, vor ihm stand, konnte er ihr kaum widerstehen.
Wenn sein Sohn sie nicht so seltsam ansehen würde, wenn sie nichts anhatte, würde es ihm wahrscheinlich auch nicht so sehr stören. Aber der Kleine konnte keinen Augenkontakt halten, wenn er nacktes Fleisch sah. Dabei war es egal, ob die Person weiblich, oder männlich war. Er starrte ständig auf die freigelegten Geschlechtsteile.
Seit dem er festgestellt hatte, wie sein Sohn ist, hatte er stets etwas an. Lief nicht mehr nackig durch die Wohnung, wie früher, als er noch mit ihr allein war. Schon wenn er das Wort „Nackt“ hörte, wurde ihm ganz anders, da er es so oft von seinem Sohn gehört hatte.
Es gab wieder einmal einen kleinen streit, weil er sie darum bat sich anzuziehen und sie es nicht wollte. Wo lag da das Problem? Lag es an ihm? Er kannte sie schamhaft. Irgendwann kam er auf die Idee, nackt durch die Wohnung zu laufen. Es war sehr heiß gewesen, an dem Tag, und sie waren allein. In der Zwischenzeit waren sie schon einige Wochen und Monate zusammen gewesen und hatten sich schon so oft unbekleidet gesehen, das sie sich untereinander nicht mehr schämten.
Sie hatte sich verändert. Im Laufe ihrer Beziehung hatte sie sich gewandelt. Aber in eine Richtung, die ihm gar nicht gefiel. War sie am Anfang noch zurückhaltend zu ihm, gab sie ihm jetzt oft Pfeffer. Auch vor Gewalt schreckte sie nicht zurück. Er durfte schon spüren, wie es ist, ihr Knie zwischen seinen Beinen zu haben. Dabei wollte er sie, zu diesem Zeitpunkt, nur liebevoll drücken. Mehr nicht.
Er brauchte es. Haut an Haut. Einfach nur kuscheln. Den Partner spüren. Dabei war es ihm nicht wichtig, ob er am Ende mit ihr schlief, oder nicht. Er wollte sie nur spüren. Sie anfassen. Nähe. Das suchte er. Am Anfang hatte er sie auch häufig von ihr bekommen. Aber dies wurde immer weniger.
Es gab eine kleine Kampelei, als sie sich weigerte, sich etwas drüber zu ziehen. Warum sträubte sie sich so sehr dagegen? Ging es ihr nicht auch auf den Sack, ständig das Wort „Nackt“ zu hören und zu sehen, wie er seinen Finger in diese Richtung zeigte? Oder wollte sie ihn, ihren Mann, nur ärgern und auf die Palme bringen? Ihre Schwester schämte sich vor ihren Töchtern. Von anderen Müttern hatte er erfahren, das sie sich, als ihre Kinder ein bestimmtes alter erreicht hatten, anfingen, sich vor ihren Kindern zu schämen. Warum seine eigene Frau nicht, die sonst immer so Schamhaft war?
Lag es vielleicht daran, das er sich an anderen orientierte? Das es ihm vielleicht deshalb ihre Freizügigkeit so sehr störte? Die Möglichkeit bestand. Aber daran hatte er erst nach dem Unfall gedacht. Als er alles Revue passieren ließ.
Von hinten stülpte er ihr ein T-shirt über ihren Kopf. Sie wehrte sich dagegen. Was dann passierte, wusste er nicht mehr. Das nächste, an das er sich erinnern konnte, war, das sie vor ihm lag. Tot. Sein Sohn stand im Türrahmen und weinte. Dann weinte er mit. Ganz egal, wie es passiert war. Völlig egal, wie sie in den letzten Monaten und Jahren gewesen war. Er hatte sie dennoch geliebt und wollte nicht, das sie vor ihm stirbt. Ein Leben ohne sie, war für ihn undenkbar. Seine Liebe zu ihr war übermächtig gewesen. Deswegen hatte er sich auch alles von ihr gefallen gelassen.
Man hatte sich darauf geeinigt, das es ein Unfall gewesen war. Doch seit dem war er nicht mehr er selbst. War unfähig geworden, sich um sein Kind zu kümmern. Ein normales Leben zu führen. Überall sah er sie. Wie sie auf ihn zeigte und ihn Mörder nannte.
Tag für Tag sitzt er einsam und allein in seiner Wohnung und denkt an früher. Seine Frau und seine Kinder. An die Tage, als er noch eine Familie hatte. Friedlich mit ihnen zusammen lebte. Lange ist es her. Viele Jahren waren, seit dem, vergangen. Wie viele es in zwischen schon waren, weiß er nicht so genau. Über zwanzig, bestimmt.
Ein falsches Wort und sie hatte ihre Sachen gepackt, die Kinder genommen und war gegangen. Verließ ihn auf der Stelle. Bis heute hat er keine Ahnung, was genau der Auslöser war. Er hatte sich über etwas aufgeregt, was sie getan hatte. Das weiß er. Aber was es gewesen war, hat er vergessen. Was er zu ihr gesagt hatte, weiß er auch nicht mehr.
Trotz der vielen Jahren, vergeht kein Tag, an dem er nicht daran denkt. Damit macht er sich selbst kaputt. Er weiß auch, das er nicht mehr lange zu leben hat, da er seit über zwanzig Jahren regelmäßig trinkt und kaum etwas isst. Es ist für ihn ein Wunder, das er noch lebt. So, wie er seinen Körper behandelt?
Damals hatte er sich gesund ernährt. Sich und seine Familie. Regelmäßige Mahlzeiten, bestehend aus Gemüse und Vollkornprodukten. Ab und zu Fisch und nur ganz selten Fleisch. Lange ist es her. Zu der Zeit war er auch glücklich gewesen. Er hatte eine liebe Frau und Engel, als Kinder. Warum ging es nur auseinander?
Als sie ging, brach für ihn eine Welt zusammen. Sein ganzes Leben war vorbei. Wofür er gelebt hatte, wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sie hatte sich nie wieder bei ihm gemeldet. Er hatte nach ihr gesucht, um sie wieder zurückzuholen. Aber er hatte sie nie gefunden. Sie war, wie vom Erdboden verschluckt. Das war der Zeitpunkt, als er anfing zu trinken. Er ertrug das Leben nicht mehr. Sah keine Zukunft für sich selbst. Wollte nur noch sterben. Deshalb fing er an zu trinken. Aber viel vertrug er nicht. Nach spätestens drei Bier fiel er um.
Es gab Momente, da wollte er damit aufhören. Nahm feste Nahrung zu sich. Aber dies hielt nur für wenige Stunden an. In jenen stunden wollte er sich auf etwas Neues einlassen. Aber dann sah er sein Spiegelbild. Damit konnte er niemanden gewinnen. Zu viel hatte er seinem Körper zugemutet. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis er ganz am Ende ist?
Einsamkeit tut weh. Liebeskummer noch mehr. Beides zusammen, bedeutet der Tod. In Gedanken hatte er sich oft vorgestellt, wie es ist, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Aber das dauerte ihm zu lange. Und es war mit Schmerz verbunden. Dann gab es noch die Möglichkeit, sich vor einem Zug zu werfen. Aber was wäre, wenn ein neuer Lokführer drin saß? Konnte er ihm das antun? Eine Leiche am ersten Tag? Nein.
Alles war irgendwie mit Schmerz verbunden. Daher zog er es vor, langsam zu sterben. Im Rausch. Auch heute noch.
Noch einmal sieht er sich die alten Familienfotos an. Tränen rinnen. Fallen auf ihr Bild. Ein letzter Schluck aus seiner Flasche. Fast schmerzlos, legt er sich zur Seite und schläft ein. Für immer.
Es war eine scheiß ABM. Den ganzen Tag hatte ich nichts zu tun. Wenn man davon absah, das ich den Müll beseitigen musste, der auf dem Spielfeld lag. Aber das bisschen. Gut, ich bekam Geld dafür. Mehr, als wenn ich zu Hause gewesen wäre. Und ich war an der frischen Luft. Ansonsten sah ich keinen Sinn. Im Prinzip quälte ich mich nur da raus, falls jemand kam, um mich zu kontrollieren.
Ich war allein dafür zuständig. Hatte keinen Kollegen. Es war langweilig. Bis auf die Zeit, während der Hausmeister seine Runden drehte. Denn nebenan war eine Schule. Bis heute ist mir nicht ganz klar, ob der Sportplatz zur Schule gehörte, oder nicht. Obwohl es eigentlich ganz egal ist.
Der Hausmeister war ein ganz netter Typ. Mich störte nur seine Fahne. Er trank jeden Tag. Torkelte aber nicht. Dafür konnte er einen Mist zusammen reden. Aber so vertrieb ich mir die endlos langen Stunden, bis zum Feierabend. Oft ging ich ihm auch zur Hand. Nur um etwas zu tun zu haben.
Es gab Momente, da sah ich ihn einfach nur an. Dachte über das Leben nach. Sein Leben. Er hatte mir mal gesagt, das er verheiratet gewesen war und zwei Kinder hat, die beide schon erwachsen sind. Ob er deshalb so viel trank? Nicht jeder verkraftet es, wenn er verlassen wird. Manch einer trauert noch nach Jahren. Vielleicht gehörte er zu denen, die es nie verkraften können. Gefragt, habe ich ihn nie. Ich wollte nicht zu tief in seine Privatsphäre eingreifen. Auch wenn es mich schon irgendwie brennend interessierte, wie man dazu kommt, sich dem Alkohol zu ergeben. Es muss ja Grunde dafür geben. Möglicherweise ist dies auch der Grund, warum seine Frau sich von ihm scheiden ließ. Weil er getrunken hat. Oder hatte er sie in den Wind geschickt? Die Möglichkeit bestand ja auch. Woher soll ich wissen, ob sie ihm treu gewesen war? Ich weiß gar nichts über ihn. Nur, das er jeden Tag trinkt, verheiratet war und zwei Kinder hat.
Viele reißen ihr Maul auf und wissen gar nichts. Nur weil es ihnen gut geht und sie es immer wieder geschafft haben, heißt es nicht, das es anderen genauso gehen muss. Warum gibt es so viele Obdachlose? Gut, ein paar werden selbst daran Schuld sein. Anstatt ihre Miete zu zahlen, haben sie es für andere Dinge ausgegeben. Mitunter für Alkohol und andere Drogen. Aber bestimmt nicht alle. Psychische Knicks. Burnouts. Und was es soll alles gibt. Behörden, die alle Unterlagen verschlampen.
Ein angesehener und hochintelligenter Professor hatte alles gehabt. Von einem Tag auf dem anderen war er nicht mehr er selbst. Ließ alles stehen und liegen und lebt seit dem auf der Straße. Wenn man ihn fragt, antwortet er stets, das es ihm blendend geht. Und das scheint auch die Wahrheit zu sein. Er hat stets ein lächeln auf den Lippen. Man kann sich sehr gut mit ihm unterhalten. Und er hat keine Fahne.
Der Hausmeister lächelt auch immer. Stets freundlich, höflich und er gibt auch gern. Damals hatte ich noch geraucht. Wenn wir in der Ecke standen, wartete er nicht, bis ich meine Zigaretten rausgeholt habe. Er gab mir eine von seinen. Angenehm fand ich es nicht. Denn so viel verdiente er auch nicht. Deshalb gab ich dann das Feierabendbier aus. Wir hatten beide viel Zeit. Keiner wartete auf uns. Und solange es draußen noch warm war, nutzten wir die Stunden, um noch frische Luft und Sonne zu tanken.
Manchmal redeten wir über einen gemeinsamen Bekannten. Wir wussten nicht, wo er war und wie es ihm ging. Als ich ihn das letzte mal gesehen hatte, war er ganz unten gewesen. Hatte Leute bei sich, mit denen er einst nichts zu tun haben wollte. Doch seit dem er nicht mehr aufhören konnte zu trinken, stand er jeden Tag bei ihnen und gab gern und häufig einen aus. Später lud er sie sogar in seine Wohnung ein, die nur ein paar Meter entfernt lag. Zu diesem Zeitpunkt hörte der Kontakt, zwischen uns, auf. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Er wollte es auch nicht. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Da er seine Miete stets selber einzahlte, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, das er es irgendwann nicht mehr gemacht hat. Wie auch, wenn er stets im Trampel ist. Schon früh am Morgen fing er mit Trinken an. Schluckte täglich viele Tabletten, um seine Magensäure im Zaum zu halten. Häufig holte er auch alles wieder heraus, was er zu sich genommen hatte. Eigentlich hätte es ihm zu dem Zeitpunkt schon klar sein müssen, das sein Körper den vielen Alkohol nicht verkraftet. Aber er schob es auf die Eisentabletten, die er auch noch nahm. Denn aller acht Wochen gingen wir Blutspenden.
Ich kann nur Vermuten, das er in der Zwischenzeit auf der Straße lebt, oder schon tot ist. Wissen tue ich es nicht. Die einzigste Person, die regen Kontakt zu ihm hatte, wollte mit ihm nichts mehr zu tun haben, nachdem er sie so oft versetzt hatte. Früher waren sie zum Tag der offenen Kirche gegangen. Machten Radtouren. Im Sommer lagen sie am Ufer des Sees. Kino, kostenlose Konzerte und vieles mehr. Plötzlich hatte er keine Lust mehr dazu. Er machte sich mit ihr, beziehungsweise uns, was aus und erschien nicht. Wenn wir ihn anriefen und nachfragten, wo er denn bleibt, maulte er uns oft an. Wir sollten ihn in Ruhe lassen. Wie er so tief sinken konnte, weiß ich nicht. Einsamkeit wird ein Grund gewesen sein. Doch war es teilweise seine Schuld. Die Ansprüche, die er stellte. Jung, sollte sie sein. Anfang bis Mitte zwanzig. So oft, wie er nach Bier roch und so alt, wie er schon war, hatte er keine Chance bei ihnen. Was konnte er ihnen bieten? Nichts, was sie dazu bringen könnte, mit ihm ins Bett zu gehen. Dreißig Euro in der Woche, reichte vielleicht für ihn. Aber für zwei Personen reichte es eben nicht. Einmal ausgehen und das Wochenpensum war überstrichen.
Die Sommer vergingen sehr schnell. Zwei Jahre lang hatte ich die ABM gehabt. Anfangs waren wir noch mäßig im Kontakt geblieben. Aber mit der Zeit ließ es immer mehr nach. Von beiden Seiten her. Ich ließ die Finger ganz vom Alkohol und versuchte, mir ein Leben aufzubauen. Dies gestaltete sich als sehr schwierig. Damen konnte ich nicht ansprechen. Ich bin zu schüchtern. Und wenn ich es mal gebacken bekam, hatte jene Frau kein Interesse an mir. Entweder allgemein, oder weil sie schon liiert war. Jobmäßig war es auch nicht leicht für mich. Keine Auto und kein Führerschein. Überall wurden nur Fachkräfte gesucht. Was ich gelernt hatte, durfte ich nicht mehr machen. Und während ich zusehen durfte, wie viele einen Bildungsgutschein bekamen und mir keiner einen geben wollte, fühlte ich mich am Boden. Wie eine ausgetretene Kippe. Irgendwann erwischte ich mich dabei, wie ich mir wieder Bier kaufen ging. Ganze zehn Flaschen. Und die waren auch an dem Abend leer geworden.
So wird man zum Alkoholiker, dachte ich mir damals. Man ist krank, allein und sieht keine Chance auf Besserung. Warum alles nüchtern ertragen, wenn es doch so viel einfacher im Suff ist. Man sieht die Welt mit anderen Augen. Zugegeben, es ist kein Lösung. Das war mir auch damals schon bewusst. Dennoch tat ich es. Nur ganz selten gelang es mir, stark zu bleiben und keinen Alkohol anzurühren. Diese Tage waren hart und zogen sich endlos dahin.
Ich erinnere mich oft daran, wenn ich im Unterricht sitze. Unter den jungen Menschen, komme ich mir sehr alt vor. Ich frage mich jeden Tag, ob es mir noch etwas bringt. Jahrelang wollte ich. Als ich die Hoffnung aufgegeben hatte, weil ich fand, das ich zu alt dafür bin, bekomme ich diesen Wisch in den Arsch geschoben. Eigentlich mache ich dies auch nur, um nicht jeden Tag zu Hause zu sitzen. Und wer weiß, vielleicht habe ich ja eine Chance, bei den Mädels. Ich bin zwar nicht mehr ganz taufrisch. Aber ich kann noch … Also irgendwas wird mir schon noch einfallen, was ich kann.
Ich sitze auf dem Sofa und schaue neben mich. Da sitzt er. Direkt neben mir. Er kann ja nichts dafür. Schuld hat jemand ganz anderes.
Hin und wieder hatten wir einen kleinen Streit gehabt und gingen uns aus dem Weg. Meistens ging sie zu ihrer Familie. Blieb dort über Nacht und kam dann irgendwann wieder. Spätestens nach drei Tagen, lagen wir uns wieder in den Armen. Sahen ein, das es ein blöder Streit war.
Der letzte Streit war hart gewesen. Sehr hart. Fast einen Monat hatten wir uns nicht gesehen. Keinen Kontakt zu einander gehabt. Unseren Kindern hatte es ganz schön geschadet. Sie hatten ein loses Mundwerk, keinen Respekt und keine Ohren. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, denn sie waren bei der Mutter. Und diese ließ sich zu viel reinreden. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn sie keinen Kontakt zu ihnen gehabt hätte. So, wie es heute ist. Wir streiten uns zwar immer noch ab und zu, aber wir reden mehr miteinander. Gehen uns nur kurz aus dem Weg, um dann ruhig und sachlich miteinander zu reden. Oft stellten wir fest, das wir uns nur falsch verstanden hatten. Mehr nicht.
Sie kam heulend zurück zu mir. Als sie wieder vor der Tür stand, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich hatte schon mit ihr abgeschlossen. Wollte ein neues Leben beginnen. Allein. Denn ich wollte nicht noch einmal verletzt werden. Zu oft wurde ich verlassen. Und immer wieder tat es sehr weh. Als meine Frau ging, schmerzte es, wie noch nie. Die ersten Tage waren noch auszuhalten, da ich dachte, das sie bald wiederkäme. Aber ab Tag fünf gab ich die Hoffnung langsam auf. Denn so lange war sie noch nie weggeblieben, ohne sich bei mir zu melden.
Ich hätte zu ihr gehen können. Schließlich wusste ich, wo sie war. Denn sie kannte keinen anderen Ort. Und sie wusste, wie gut es mir gefiel, wenn sie dort hin ging. Klar war es ihre Familie. Aber nachdem, was ich erfahren hatte, wollte ich nicht, das sie noch Kontakt zu ihnen hatte. Vor allem meine Kinder sahen sich alle Frechheiten von deren Kindern ab. Es war nicht leicht, das wieder rauszukriegen.
Ihre Familie konnte mich nicht leiden. Den genauen Grund kannte ich nicht. Es war mir auch egal. Ich konnte sie auch nicht ab, nach dem, was ich über sie erfahren habe. Außerdem störte mich, das ihre Mutter ständig schwanger war. Aller zwei bis drei Jahre brachte sie ein neues Kind zur Welt. Kümmerte sich aber nicht wirklich um sie, da es ihr zu viel war. Ihr Geliebter war oft unterwegs. Gelegenheitsjobs. Irgendwie hielt er es nie lange bei einem Arbeitgeber aus.
Über ein Monat war vergangen, als sie zu mir zurückkam. Bemerkt hatte, das sie mich liebte und vermisste. Einsah, das es ein Fehler war, abzuhauen. Vor allem so lange. Sie hatte sich an mir festgeklammert und sich die Augen ausgeweint. Da wurde ich weich. Auch unsere Kinder klammerten sich an mich.
Es war eine ganze Zeit vergangen, als sie feststellte, das sie schwanger war. Da beichtete sie mir ihren, ungewollten, Seitensprung. Ihre Familie hatten ihren Beitrag dazu geleistet. Denen war alles recht gewesen, um uns auseinander zu bringen. Meine Frau bereute den Seitensprung und beteuerte mir immer wieder, das sie es nicht gewollt hatte.
Ich wollte ihn nie akzeptieren, nach dem wir herausgefunden hatten, das ich nicht der Erzeuger bin. Aber dann kam alles anders. Während sich meine eigenen Kinder langsam von mir abwendeten, kam der Kleine auf mich zu. Blickte zu mir auf. Kam stets zu mir, wenn er sich was getan hat, oder Hilfe brauchte. Ich war sein erster Ansprechpartner. Er liebte mich.
Ich sehe ihn an. Seine große Augen blicken zu mir auf. Mein Herz wird weich. Er kann ja nichts dafür, das seine Mutter fremdgegangen war. Warum sollte er dafür leiden müssen? Ich liebe den Kleinen. Und morgen erkenne ich die Vaterschaft an.
Wie er es geschafft hatte, das er ein beliebter Moderator wurde, wusste er selbst nicht. Eines Tages hatte er es satt gehabt. Kehrte seiner Heimat den Rücken und fuhr blindlings durchs Land. Irgendwann kam er hier an. Es war eine Gefühlssache gewesen. Sein Gefühl hatte ihm gesagt, das er hier aussteigen und bleiben sollte. Und es hatte recht gehabt.
Schon nach wenigen Tagen hatte er sich richtig eingelebt und fühlte sich in seiner neuen Heimatstadt recht wohl. Was auch daran lag, das er fast spontan eine Bleibe gefunden hatte, die billig war. Zwar war er es nicht gewöhnt, mit mehreren Menschen, die er nicht kannte, unter einem Dach zu leben, aber da sie alle sehr nett waren, lebte er sich schnell ein.
Es fing beim Stadtfest an. Ein paar Bier und er war lustig drauf. Als die Musiker pausierten, schnellte er auf die Bühne, nahm das Mikrofon in die Hand und erzählte ein paar Witze. Dabei nahm er sich selbst auf die Schippe. Er kam sehr gut an. Die Zuschauer dachten, das er ein Teil des Programms war. Sie lachten und wollten Zugaben. Den Musikern hatte es zuerst nicht gefallen, das er einfach so auf ihre Bühne gegangen war. Aber bevor sie ihn stoppen konnten, hatte er schon die ersten Lacher auf seiner Seite gehabt.
So begann seine Karriere als Komiker und Moderator. Der Sprung, von der kleinen Bühne ins Fernsehen, ging ziemlich schnell. Und trotz seines großen Erfolges blieb er am Boden. Teilweise hatte er es seinen Mitbewohnern zu verdanken. Wenn sie nicht gewesen wären, hätte er öfters in Kneipen rumgehangen und sich betrunken. Denn fürs Herz hatte er immer noch keine gefunden. An manchen Tagen fühlte er sich sehr einsam. Wenn er in die Zuschauerreihen sah und die vielen Pärchen sah, erinnerte es an seine Herzensdame, die ihm so sehr wehgetan hatte. Ihretwegen er geflohen war.
Es geschah in einer Talkshow. Er war Gast gewesen. Anfangs war alles noch ganz heiter. Sein trockener Humor peppte die Sendung ein wenig auf. Doch auf einmal wurde es sehr ernst. Er redete über seine Vergangenheit. Seine Frau, von der er zwar getrennt lebte, aber dennoch mit ihr verheiratet war. Niemand war bisher die Scheidung einreichen. Wenn sie es täte, wäre sie schön blöd. Denn sie hatte ihn bestimmt schon im Fernsehen gesehen. Sie wusste also, das er nicht mehr der arme Schlucker von früher war. Wenn er eines Tages sterben sollte, würde sie sein Vermögen erben.
Damals wollte ihm niemand glauben, wie sie wirklich war. Zu ihm und den Kindern. Auch als das Jugendamt von fremden Personen erfuhr, wie sie mit den Kindern umsprang, geschah nichts weiter. Sie wurde darauf hingewiesen, das ihr dann die Kinder weggenommen werden und jene in Pflegefamilien unterkämen. Von ihm war nie die Rede. Selbst als er ausgezogen war und sie gesehen haben, das er besser war, als seine Frau, hörte er nicht, das er die Kinder bekommen würde, wenn sie der Kindesmutter entzogen würden. Er war, anscheinend, nur der Erzeuger. Dabei wäre er so gern Vater gewesen.
Die Kinder wurden wie ihre Mutter. Laut. Zickig. Unberechenbar. Daher zog er es vor, heimlich zu verschwinden. Die Ersparnisse hatten gereicht, um ihn hier her zu bringen und ein neues Leben zu beginnen. Als er so sprach und, unter Tränen, sein Herz ausschüttete, fragte er sich, warum ihn noch keiner aufgefordert hatte, Unterhalt für seine Kinder zu zahlen. Damals, als er ging, hatte der Staat gezahlt.
Den Zuschauern, der Moderatorin und allen anderen Anwesenden, standen die Tränen im Gesicht. All das, was er in die hinterste Ecke seines Hirns verstaut hatte, kam wieder hervor. Aber es tat ihm gut, darüber zu sprechen. Er fühlte sich erleichtert. Als er fertig war, hatte er das Gefühl, er wäre frei. Jetzt erst war er wirklich bereit eine neue Beziehung einzugehen. Das Unausgesprochene hatte ihn daran gehindert, eine Frau zu finden. Nun war alles draußen. Er wischte sich die tränen aus dem Gesicht und lächelte. Sein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen.
Irgendwo im Dunkeln der Nacht, in irgendeiner Ecke, saß er da und dachte über sein Leben nach.
Schon sehr früh musste er erfahren, das das Leben kein Zuckerschlecken war. Immer wieder musste er sich Vorhaltungen anhören. Seinetwegen mussten seine Eltern Raritäten ihrer Plattensammlung verkaufen und dieses und jenes. Alles wegen ihm. Er stand nur da und hörte still zu. Dachte sich seinen Teil. Warum hatten sie ihn gezeugt, wenn sie ihn nicht haben wollten? Wieso gaben sie ihn nicht in eine andere Familie? Weshalb musste er sich das immer und immer wieder anhören? Wie oft musste er sich das alles noch anhören.
Jetzt, wo er erwachsen war, stellte er sich die selben Fragen. Und, warum sie nicht einfach angefangen hatten zu sparen? Jeder von ihnen rauchte über eine Schachtel Zigaretten am Tag. Jedes Wochenende waren sie in der Kneipe und ließen sich volllaufen. Oft war er dann bei seinen Großeltern. Die hatte er lieb. Denn sie waren anders. Freuten sich, wenn sie ihn sahen. Doch leider verstarben sie viel zu früh. Konnten nicht verstehen, was aus ihren Kindern geworden war. Ja, sie machten ihm keine Vorhaltungen. Rechneten ihm nicht vor, was er kostete.
Wenn seine Eltern betrunken waren, erkannte er sie nicht wieder. Sie wurden kindisch. Spielten mit ihm, anstatt ihn ständig fortzuschicken. Wenn man es spielen nennen konnte. Vielleicht lag es auch nur daran, das sie beobachtet wurden. Ihnen war es nie recht gewesen, wenn seine Großeltern ihn in der Kneipe abgegeben hatten. Denn dann wurden sie von ihren Saufkumpanen deutlich darauf hingewiesen, das sie nach Hause mussten. Seinetwegen. Oder anders gesagt, sie wurden rausgeschmissen.
Er durfte nichts selber machen. Viele Jahre lang schmierten sie ihm die Schnitten. Er wollte es selber tun. Durfte aber nicht. Und das war nicht das einzigste, was er nicht durfte. Sie trauten ihm rein gar nichts zu. Schienen auch nicht zu bemerken, das er älter wurde. Selbst als Teenager wurde er noch wie ein Kleinkind behandelt.
Er war verschlossen. Ließ niemanden an sich ran. Er hatte keine Freunde. Die meiste Zeit verbrachte er mit seinen Büchern. Vor allem die Schicksale anderer Menschen interessierte ihn. Anfangs fühlte er sich hinterher ein wenig besser. War froh, das er nicht in einer so gewalttätigen Familie aufwachsen musste. Wobei ihnen öfters mal die Hand ausrutschte. Sie brachten ihren Frust nach Hause. Eine winzige Kleinigkeit reichte und er hatte ihre Handabdrücke im Gesicht. Mit den Jahren hatte er sich daran gewöhnt. Spürte den Schmerz nicht mehr. Gab sich auch eine mühe, alles richtig zu machen. Es war ihm egal geworden, wenn sie ihm Ohrfeigen gaben.
In der Schule gehörte er eher zum Mittelfeld. Keinem interessierte es. Immer öfter fragte er sich wieder, warum er auf der Welt war. Seinen Eltern war er ein Klotz am Bein. Warum hatten sie nicht dafür gesorgt, das sie keinen nachwuchs bekommen, wenn sie keinen wollten?
Da er nie etwas selber machen durfte, konnte er auch nichts. Er hatte zwei linke Hände. Selbst die einfachsten Handfertigkeiten fielen ihm sehr schwer. Daher bekam er auch keine Ausbildung. Die Noten waren nicht berauschend. Bei den Probearbeiten fiel er komplett durch. Frustriert und arbeitslos, verbrachte er seine Zeit damit, über das Leben und dessen Sinn nachzudenken. Ab und zu versuchte er, doch noch irgendwie Arbeit zu bekommen. Sogar schwarz wollte er arbeiten. Aber auch die wollten ihn nicht nehmen. Vom Arbeitsamt bekam er auch nichts zugewiesen. Sie halfen ihm in keiner Weise.
Er war auf sich allein gestellt. Wusste weder ein noch aus. Niemand half ihm. Selbst seine Eltern nicht. Die waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Das Rauchen und der häufige Alkoholkonsum zeigten ihre Wirkung. Sie waren krank. Wussten manchmal nicht, was sie taten. Eines Tages schmissen sie ihn raus. Von da an lebte er auf der Straße.
Irgendwo im Dunkeln der Nacht, in irgendeiner Ecke, saß er da und dachte über sein Leben nach.
Tränen. In einer einsamen Ecke, in einer heruntergekommenen Kneipe, saß er da und ließ sich volllaufen. Verfluchte alles, was modern war. Allem voran das Internet.
Als seine Großeltern noch lebten, war er gern bei ihnen. Sie waren sich über all die vielen Jahren treu geblieben. Bis auf einen kleinen Ausrutscher von seinem Großvater. Nicht nüchtern, küsste er an seinem Hochzeitstag eine andere. Zum Glück waren es damals andere Zeiten gewesen. Seine Frau hatte zwar ein wenig Stress gemacht. Aber im Großen und Ganzen blieb sie locker. Und es war nur bei dem einen Mal geblieben.
In den über fünfzig Jahren, die sie verheiratet gewesen waren, hatten sie sich stets geliebt. Die Treue gehalten. Sie konnten sich gegenseitig aufeinander verlassen. Und genauso sollte seine Ehe sein. Aber dann kam alles anders. Nur durch Zufall hatte er davon erfahren. Ein winziger Fehler von ihr.
Sie waren schon ein seltsames Paar gewesen. Beide wussten nicht immer, was sie wollten. Mal waren sie zusammen, dann wieder auseinander. Keiner blickte da durch. Selbst die beiden nicht.
Es war zu dem Zeitpunkt, als sie gerade wieder zusammen waren. Er hatte von nichts eine Ahnung. Sie war im Internet und schrieb mit anderen Männern. Nicht nur mit Einem. Es waren mindestens zwei gewesen. Er hatte nur gesehen, das seine Frau mit jemanden übers Internet schrieb. Dabei lächelte sie seltsam. Das kannte er gar nicht von ihr. Als er sie einmal darauf ansprach, war sie sehr wortkarg. Da war es ihm klar gewesen, das sie mit anderen Männern flirtete. Aber warum?
Er suchte das Gespräch. Aber sie hüllte sich in Schweigen. Suchte nach Ausreden, warum sie gerade nicht reden konnte. Da war es ihm völlig klar, das sie Interesse an den Typen hatte, mit dem sie sich täglich schrieb. Mit dem sie angeblich nichts hatte und von dem sie angeblich nichts wollte.
Sie schickte ihn fort. Warf ihn regelrecht aus der Wohnung. Denn sie erwartete Besuch. Männlichen Besuch. Davon wusste er nichts. Sie hatte öfters mal ihren rappel. Es war Gewohnheit. Er vertrieb sich dann die Zeit mit spazieren gehen, oder einkaufen. Am Abend brachte er ihr dann ein kleines Geschenk mit. Ein Blümchen, oder etwas Süßes.
An jenem Abend erwischte er sie im Schlafzimmer. In seinem Ehebett. Seine Hände zitterten. Er wollte sie töten. Alle beide. Doch im letzten Augenblick kam er zur Besinnung. Flüchtete aus der Wohnung und rannte in die heruntergekommene Kneipe. Er trank ein Bier nach dem anderen und hoffte, das er sterben würde. Er liebte die Frau. Auch wenn es nicht leicht war, mit ihr zu leben. Warum er sie so sehr liebte, wusste er nicht. Er tat es einfach.
Der Wirt machte Feierabend. Er schwankte volltrunken auf die Straße, stellte sich mitten auf die Fahrbahn und wartete auf einen herankommenden Wagen.
Ich war mit dieser Verbindung eh nie zufrieden gewesen. Der Typ hatte etwas an sich gehabt, das ihn, für mich, unsympathisch machte. Damals wusste ich noch nicht, was es war. Ich dachte, das ich so reagierte, weil ich meine Tochter nicht verlieren wollte. Dann erfuhr ich von seinem wahren Charakter.
Langsam hatte ich mich daran gewöhnt, das sie mit ihm zusammen war. Gefallen, hatte es mir dennoch nicht. Eine Art Alarmglocke schrillte ständig in meinem Kopf. Ich hatte mit meiner Frau darüber geredet. Sie meinte, das ich einfach nur eifersüchtig sei. Ich solle akzeptieren, das sie, meine Tochter, kein kleines Kind mehr war. Das tat ich ja. Gefiel mir zwar nicht, aber ändern konnte ich es auch nicht.
Eines Tages kam sie bedrückt nach Hause. Und sehr spät. Normalerweise kam sie gleich nach Schulschluss nach Hause. Erst dann traf sie sich mit ihren Freunden, oder ihrem Freund. Am Kühlschrank hinterließ sie uns eine kurze Notiz, mit wem sie sich wo traf. Damit wir uns keine Sorgen um sie machten. Diesen Zettel hatte ich vermisst.
Sie verkroch sich sofort in ihr Zimmer. Sprach kein Wort mit uns. Das war uns auch neu. Meine Alarmglocken läuteten lautstark. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Hoffte aber, das ich mich irrte.
Der Hunger lockte sie aus ihrem Zimmer. Es war schon weit nach acht gewesen. Ich hatte mich schon gefragt, wann sie Hunger bekommen würde. Da sie nach der Schule nicht nach Hause gekommen war, um sich am Kühlschrank zu bedienen, musste sie großen Hunger haben.
Ich redete nicht um den heißen Brei herum.
„Im wievielten Monat bist du?“
Mir wäre ein riesiger Felsbrocken vom Herzen gefallen, wenn sie mir gesagt hätte, das sie nicht schwanger sei. Stattdessen erstarrte sie und fragte mich, woher ich das wüsste. Ich antwortete nicht. Wartete darauf, das sie sich zu mir umdrehte und mir ins Gesicht sah. Sie konnte mit uns über alles reden. Das wusste sie ganz genau. Wir waren für Klarheit und Wahrheit. Keine Lügen und Heimlichtuereien. Deshalb funktionierte auch unsere Ehe so gut. Streits gab es kaum, weil wir über alles redeten. Den Partner ausreden ließen. Stets ruhig und sachlich blieben. Und genauso erzogen wir unsere Tochter.
Unter Tränen gestand sie mir, das sie in der sechsten Woche war. Das sie nicht die einzigste war, mit der er geschlafen und dann fallen gelassen hatte. Es war nur das eine mal gewesen. Keiner hatte an Verhütung gedacht. Dabei hatten wir sie rechtzeitig aufgeklärt. Ihr alles über Geschlechtsverkehr, Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaft, so wie deren Verhütung, erzählt. War das alles für die Katz gewesen?
Es fiel mir schwer, die ruhe zu bewahren. Nicht auszurasten und zu meckern. Ich war geladen. Seinetwegen. Und weil meine Tochter so blind gewesen war. Wie sollte ich es ihrer Mutter sagen? Sie saß vor dem Fernseher und löste Kreuzworträtsel. Ich musste sie in die Küche holen. Meine Tochter musste es ihr persönlich beichten.
„Wie konntest du nur so unvorsichtig sein. Du bist fünfzehn Jahre alt. Wir dachten, du wärst reif genug, um auf dich selbst aufpassen zu können.“, fing meine Frau an.
„Für Standpauken ist es zu spät.“, unterbrach ich sie, „Reden wir lieber darüber, wie es jetzt weitergeht. Behalten, oder nicht behalten. Auf alle Fälle möchte ich, das du deine Schule beendest und eine Ausbildung machst. So, wie ich deine Mutter kenne, ist sie gegen Abtreibung. Wir sind auf jeden Fall für dich da. Auch für dein Kind, wenn du es behalten möchtest. Das versprechen wir dir.“
Sie weinte. Es waren Tränen der Erleichterung. Bestimmt hatte sie mit schlimmeren gerechnet. Aber was hätte das gebracht. Was passiert war, war nun mal passiert. Man konnte es nicht mehr ändern. Und heutzutage war es irgendwie zur Normalität geworden, beizeiten ein Kind zu bekommen.
„Morgen gehst du nicht in die Schule. Wir beide werden zu meiner Frauenärztin gehen. Ich denke, das wäre wohl das Beste. Oder warst du schon bei einem Frauenarzt gewesen?“, fragte meine Frau.
„Nein. Ich weiß es durch einen Schwangerschaftstest. Ich brauche übrigens noch einen Fünfer. Meine Freundin hatte mir ausgeholfen.“
„Okay. Ich ruf jetzt meine Kollegin an und tausche mit ihr die Schicht.“
Ich war aufgeregter, als damals. Als ich mein Kind erwartete. Noch keine vierzig und ich sollte schon Opa werden. Der Gedanke gefiel mir gar nicht. Ich fühlte mich so alt. Immer wenn ich Opa, oder Großvater, höre, stelle ich mir einen alten Mann vor, mir grauem Haar. Ich war noch nicht so weit.
Wir bereiteten alles für den Nachwuchs vor. Die erste Zeit würde es bei seiner Mutter sein. Ihr zimmer war groß genug für ein Kinderbett mit kleiner Spielecke. Ich tapezierte die Babyecke neu. Die Tapete hatte sich meine Tochter ausgesucht. Kleine, lustige Piraten auf hellblauen Hintergrund. Ich machte meiner Frau den Vorschlag, unser Schlafzimmer genauso zu tapezieren. Sie fand es gar nicht lustig.
Drei Monate vor dem errechneten Geburtstermin, waren wir so weit, den Neuankömmling zu empfangen. Wir hofften, das er nach unsere Tochter kommen würde. Es hatte lange genug gedauert, um uns an den Gedanken zu gewöhnen, das sie ein Kind bekam. Wie lange würde es wohl dauern, bis wir uns an seinen Anblick gewöhnen würden, wenn er wie sein Erzeuger aussah. So ein Kind konnte man nur schwer lieben und in sein Herz schließen. Jedes mal würde man daran denken, was sein Erzeuger ihr getan hatte.
Ich weiß nicht, ob man es Glück nennen konnte. Meine Frau musste arbeiten und ich durfte mit meiner Tochter ins Krankenhaus fahren. Sie verstand es überhaupt nicht, warum wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhren, anstatt einen Krankenwagen zu rufen. Sie konnte ihr Kind doch nicht in der Straßenbahn oder im Bus bekommen. Ich sagte ihr immer wieder, das sie keine Angst haben brauchte. So früh, wie wir losgefahren waren, kamen wir sogar noch viel zu früh an. Wenn wir wollten, könnten wir irgendwo noch eine Tasse Kaffee trinken. Ganz in Ruhe.
Das taten wir dann auch. Im Krankenhaus. Nachdem wir sie angemeldet hatten. Ihr Zimmer wurde in der Zwischenzeit vorbereitet. Frische Laken und all das. Ich fragte mich, wie lange es bei ihr dauern wird, bis sie ihr Kind in Händen halten konnte. Bei seiner Frau hatte es etwas mehr als zwölf Stunden gedauert, zwischen dem Platzen der Fruchtblase und der Geburt. Eine Bekannte hatte nicht so viel Glück. Sechsunddreißig Stunden lang lag ihr Kind im Trockenen. Ob das wirklich stimmte? Mir kam es recht lang vor.
Als wir in ihr Zimmer gingen, bekam sie ihre Wehen. Ziemlich starke, so wie sie aussah. All zu lange würde es wahrscheinlich nicht mehr dauern, bis mein Enkel auf die Welt kam. Und zu meinem Pech musste ich dabei sein. Die ganze Zeit über. Hand halten. Gut zureden. Ablenken. Damals, bei meiner Frau, hatte ich Glück gehabt. Ich wartete in ihrem Zimmer. Versuchte ein wenig zu schlafen. Aber daran war gar nicht zu denken. Irgendwie spürte ich ihre Schmerzen.
Da saß ich nun und musste uns beide ablenken. Ich erzählte ihr eine Anekdoten, aus meiner Vergangenheit. Die Geschichte, wo ich einem anderen Mann einen dicken, fetten Kuss auf die Lippen presste. Nüchtern war ich dabei nicht gewesen. Ihrer Mutter hatte es damals nicht gepasst. Für sie war es, als hätte ich eine andere Frau geküsst, obwohl sie ganz genau wusste, das ich hundert pro hetero war. Wütend stand sie auf und verließ die Feier. Und ich bin ihr hinterher. Die Party war mir egal gewesen. Ich wollte sie nicht verlieren. Vor allem wegen so einem Blödsinn nicht. Auch wenn ich nicht ganz so verstand, warum sie so wütend reagiert hatte. Erst sehr viel später erfuhr ich, das der Typ, dem ich den Schmatzer gegeben hatte, sie versucht hatte zu betatschen. Es blieb nur bei diesem einen Abend. Ich hatte mit ihm darüber geredet und er versprach mir, das er es nie wieder tun würde. Und er hielt sein Versprechen. Sie war also nicht auf mich sauer, weil ich ihn geküsst hatte, sondern weil sie nicht wollte, das er sie weiter anfasst.
Ich schwelgte so sehr in der Erinnerung, das ich gar nicht mitbekommen hatte, das der kleine Kerl schon da war.
Ein Prachtzwerg. So klein und doch so kräftig. Er lag an ihrer Brust und saugte. Wir konnten uns die Träne nicht unterdrücken, als wir ihn ansahen. Weder meine Tochter, noch ich. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Er sah ein wenig aus, wie ich. Unsere Gene hatten sich durchgesetzt. Hoffentlich kam sei Charakter auch von uns.
Meine Frau hatte es sehr eilig gehabt. Sie stürmte in das Krankenhaus und rief die ganze Zeit nach unserer Tochter. Ich eilte zu ihr, bevor sie etwas tat, was sie hinterher bereuen würde. So früh hatte ich gar nicht mit ihr gerechnet. Bestimmt hatte sie vorzeitig Feierabend gemacht, um ihr Enkelkind sehen zu können. Frauen und Babys.
Es war ein seltsames Gefühl gewesen, ihn zum ersten Mal im Arm zu halten. So ein kleines, zierliches Wesen. Und so was wird mal ein großer, stattlicher Mann. Unglaublich. Aber so hatte es die Natur eingerichtet.
Meine Frau verlor ein paar Tränen. Sie war so stolz auf ihren Enkel. In wenigen Tagen würde er bei uns wohnen und nachts wecken, weil er Hunger hat. Daran musste ich denken, als ich sie so sah.
„Oma.“, lächelte ich sie an.
„Opa.“, grinste sie zurück.
Ich konnte es immer noch nicht glauben. Irgendwie fühlte ich mich nicht wie ein Opa. Eher wie... Ich weiß nicht so genau. Aber nicht wie ein Opa. Großväter bezogen Rente. Und ich musste noch über zwanzig Jahre arbeiten gehen, bevor ich Rente beantragen durfte.
Eines muss ich meiner Tochter lassen. Sie war eine sehr gute Mutter. Wie sie mit ihrem Kind spielte, es hegte und pflegte. Sie meisterte alles perfekt. Ihre Mutter und ich konnten normal arbeiten gehen, weil sie ihr Kind mit in die Schule nahm. Dank ihres Sturkopfs. Sie überredete nämlich den Direktor und ihren Lehrer, das sie, meine Tochter, ihr Kind mit in den Unterricht nehmen durfte.
Ich habe sehr viel Respekt vor meiner Tochter. Trotz Doppelbelastung, schaffte sie ihr Abitur mit zwei Komma eins. Das feierten wir ausgiebig. Ich lud meine ganze Familie in ein gehobenes Restaurant ein. Mir war es egal, wie teuer es werden würde. Meine Tochter hatte ein großartiges Abitur. Wenn das kein Grund zum Feiern war.
Ein paar Tage drauf kam sie zu mir und wollte wissen, was sie machen solle:
„Ich würde gern Medizin studieren und Ärztin werden. Aber das dauert. Mein Sohn hat auch Bedürfnisse. Und die kosten Geld. Das heißt, das ich eine Ausbildung machen muss, die maximal drei Jahre dauert, damit ich Geld verdienen kann.“
„Deine Mutter und ich verdienen nicht schlecht. Es reicht zum Überleben und wir können noch etwas zurücklegen. Wie du weißt, hast du ein Sparbuch. Das hatten wir angelegt, weil wir gehofft hatten, du würdest eines Tages studieren und etwas aus die machen. So um die zehntausend sind bisher angespart worden. Weil, du hattest ja Geburtstagsgeld und so bekommen, von Verwandten und Bekannten. Mach dir also keine Sorgen. Studiere und wir kümmern uns mit um deinen Sohn. In ein paar Tagen geht er ja in den Kindergarten. Und davon abgesehen, war heute ein Brief für dich gekommen. Du hattest ja schon öfter erwähnt, was du beruflich machen willst. Deine Mutter und ich haben uns darum gekümmert. Wenn mich nicht alles täuscht, dürfte darin dein Termin stehen, wann dein Studium anfängt.“
Sie war überglücklich und konnte es nicht glauben.
So war das damals. Lange ist es her. Sie ist eine sehr gute Ärztin. Nachdem mein Arzt in Rente gegangen war, wechselte ich zu ihr. Die Wartezeiten sind sehr lang, da sie sehr viele Patienten hat. Ihr guter Ruf eilt ihr voraus. Und die Warteliste ist sehr lang.
Ihr Sohn, mein Enkel, fing vor kurzem eine Jurastudium an. Wir alle sind sehr stolz auf ihn. Er ist voller Ehrgeiz. Intelligent. Redegewandt. Naja, und das gefällt meiner Tochter nicht so ganz, er ist homosexuell. Ihr einzigstes Kind und er wird nie Nachwuchs bekommen. Für sie ist es nicht tragisch. Sie hätte nur gern gewusst, wie es ist, Oma zu sein.
Für uns lief das Leben gut. Lange genug hatte es auch gedauert, bis ich endlich einmal Glück hatte. Von der Kindheit bis zur Jugend kannte ich nur die Schattenseiten des Lebens. Als ich die zwanzig schon eine Weile überschritten hatte, fand ich meine jetzige Frau und damit auch mein Glück. Erst durch sie fand ich Spaß am Leben. Sie ist eine großartige Frau und ich liebe sie über alles.
Wir hatten gemeinsam einen Termin beim Jugendamt. Die Tage zuvor war ich am Überlegen, ob ich hingehen sollte, oder nicht. Lust hatte ich keine, da ich wusste, das ich der einzigste Mann in der Runde sein würde. Vier Frauen gegen mich. Die „Chefin“ und unsere beiden Familienhelferinnen. Als Mann ist man der Angearschte. Was hat ein Mann, heutzutage, noch zu melden? Selbst unser Bundeskanzler ist eine Frau.
Wir lebten getrennt. Kamen aber häufig zusammen. Konnten weder miteinander, noch ohne einander. Was aber vor allem an meiner Dame lag. Denn sie wusste nicht, was sie wollte. Ich versuchte es ihr stets recht zu machen und machte es dennoch falsch. Ich glaube, so ganz richtig, konnte ich es bei ihr nicht machen. Es war belastend. Aber ich liebte sie nun mal. Ertrug es, wie ein ganzer Mann.
Sie hatte auflagen vom Jugendamt. Nur hielt sie sich nicht dran. Über einiges sah ich hinweg. Die Kinder sollten mich sehen, wenn sie es wollten und nicht, weil es auf dem Papier stand. Und wenn meine Dame Hilfe brauchte, war ich da. Ich konnte und wollte nicht, das sie alles alleine meistert. Das schaffte sie auch gar nicht. Auch wenn sie das Gegenteil behauptete. Ich habe sie gesehen, als sie es versucht hatte. Völlig am Ende mit ihren Nerven und ihrer Kraft.
Als der Hilfeplan erstellt wurde, waren mir einige Punkte sehr wichtig. Die sollten unbedingt mit darein. Als erstes sollte sie beizeiten zum Arzt gehen. Denn wenn sie Schmerzen hatte, ließ sie es an mir aus. Teilweise bekamen es auch die Kinder zu spüren. Deshalb gab es auch dieses hin und her bei uns. Wenn ich sie nicht mehr ertragen konnte, bin ich in meine Wohnung gegangen. Sie wollte mich eh nicht sehen. Damit das endlich ein Ende hat, wollte ich, das dieser Punkt mit hinein kommt.
Dann ging es mir noch um ihre Ernährung. Das sie mollig war, interessierte mich nicht. Ich hatte sie so kennen und lieben gelernt. Mir ging es nur darum, das sie auf ihre Ernährung achtet, wenn sie schon füllig ist und dazu noch raucht. Bewegung hatte sie auch nicht so viel, wie sie immer behauptete. Vom Balkon aus habe ich sie öfter mal beobachtet. Nie habe ich gesehen, das sie mit den Kindern gespielt hat. Sie saß da und machte nichts. Außer vielleicht rauchen und sich mit Menschen abgeben, die ihr nicht guttaten und dazu beitrugen, das wir getrennt waren.
Als sie wieder mal Schmerzen hatte und ich vor ihr geflüchtet war, kam sie, wieder einmal, auf die Idee mit mir Schluss zu machen. Aber diesmal endgültig. Das wollte ich mir so nicht gefallen lassen. Zumal sie mir keinen Grund dafür nennen konnte, warum sie mit mir Schluss machte. Ich hatte ein paar Fehler gemacht, in unserer Vergangenheit. Keine schwerwiegenden. Aber es reichte ihr. Natürlich hatte sie nicht darüber nachgedacht, das es mit ihr zusammenhing. Und das sie mich oft allein gelassen, weh getan, angelogen und … hatte. Das machte mich wütend. Deshalb wurde meine stimme auch lauter. Sehr zu ihrem Missfallen. Aber das war mir egal. Dabei sprach ich noch nicht einmal alles an. Das sollte erst noch kommen.
Ich hatte mich also doch noch entschieden, zu diesem gemeinsamen Termin zu erscheinen. Ich hatte einiges aufgeschrieben, was ich so mit meiner Holden erlebt hatte. Mit ihr, ihrer Familie und ihren sogenannten Freunden. Die Liste war länger geworden, als ursprünglich gedacht. Was ich mir habe alles von ihr gefallen gelassen, geht auf keine Kuhhaut. Ich bin so blöd. Rege mich über sie auf, weil sie nicht aus ihren Fehlern lernt und bin selbst nicht besser. Liebe macht nicht nur blind, sondern auch noch taub und saudumm.
Das Gelaber ging mir auf den Sack. Meine Frau schob einen Hass auf mich, weil sie immer noch nicht verstanden hatte, warum ich mich ans Jugendamt gewendet hatte. Sie hatte nichts gegessen, nach dem sie mich abgeschoben hatte. Trank den ganzen Tag Kaffee und schlief nur zwei bis drei Stunden täglich. Ich habe sie darauf hingewiesen, das sie die Kinder hat. Das sie schon mehrmals umgefallen war. Mitten auf der Straße. Sie lag schon mal im Krankenhaus. Unsere Kinder waren noch zu klein gewesen, um einen Notarzt zu kontaktieren. Es ging ihr am arsch vorbei. Also richtete ich mich ans Jugendamt. Und die „Chefin“ leitete es an ihre Kolleginnen weiter. Den beiden Familienhelfern.
Ich saß da und ließ sie labern. Immer wieder blickte ich zu meiner Dame. Warum kam ich nicht von ihr los? Sie war so ein Miststück. Klar, sie hatte auch ihre guten Seiten. Aber die zeigte sie mir nur selten. Ich hatte versucht, sie zu vergessen. Nur an ihre schlechten Eigenschaften zu denken. Nichts hat geholfen. Ich saß neben ihr und wollte sie berühren.
Irgendwann sollte ich was sagen. Die frage hatte ich gar nicht recht verstanden, weil ich in Gedanken war. Zuerst wollte ich gar nichts sagen. Was brachte mir das? Vier Weiber. Alle waren sich einig, das ich der Arsch bin. Es interessierte sie doch so wie so nicht, was ich zu sagen hatte. Doch dann sprudelte es aus mir heraus. Alles. Aber wirklich alles. Und ich nahm kein Blatt vor den Mund. Vergaß das höfliche „SIE“. Knallte ihnen an den Kopf, das die Probleme schon von Anbeginn bestehen und es keinem interessierte, was ich sagte. Das sie sich über Kleinigkeiten kümmern, die unwichtig sind und dabei die Hauptprobleme vergessen. Ich vergaß nicht zu erwähnen, was ich in Zeitungen und Zeitschriften gelesen habe. Wie viele Kinder leiden und sterben mussten, weil sich keiner rechtzeitig einschaltete. Ich sprach von meiner Frau und was sie alles getan hat. Von ihrer schrecklichen Vergangenheit. Eigentlich sprach ich nur von Dingen, die schon bekannt waren. Nur das ich diesmal etwas sehr laut und unhöflich war. Die Damen waren schon kurz davor den Sicherheitsdienst zu holen. Denn diesmal ließ ich mich nicht unterbrechen. Es musste raus. Jahrelanger angestauter Frust. Ich machte mir Luft, ohne an irgendwelche Konsequenzen zu denken. Was wollten sie mir denn? Die Kinder wegnehmen? Oder gar das Sorgerecht? Die Kinder lebten bei ihrer Mutter. Auch wenn ich es nicht so ganz verstand.
Als ich meinen ganzen Frust abgelassen hatte, ging ich zur Tür. Drehte mich noch einmal um. Schaute meine Frau streng an. Mein Zeigefinger zuckte vor ihrem Gesicht.
„UND DU...ruf mich an, wenn was ist. Auch nachts.“
Das waren meine letzten Worte gewesen. Erleichtert und bereit ein neues Leben zu beginnen, schritt ich hinaus. Ich atmete tief ein. Die Luft roch herrlich. So ganz anders, als da, wo ich hergekommen war. Plötzlich hatte ich Lust zu leben. Ich wusste noch nicht, was auf mich zukommen würde und wie ich mein Leben gestalten wollte. Es war auch nicht wichtig. Wichtig war, das ich mich frei fühlte. Frei und nicht allein.