Journalismus & Glosse
Dimensionen

„Früher“, sagte meine Mutter neulich, „früher, wenn dein Großater von 'früher' sprach, dann haftete diesem Begriff für mich etwas ungeheuer Geheimnisvolles an. 'Früher' – das war eine zeitliche Dimension, die ich mit meiner kindlichen Vorstellungskraft gar nicht erfassen konnte. Etwas, das schier unendlich in die Vergangenheit hineinreichte und in dem ich mich träumend völlig verlieren konnte. Und heute? Heute sprichst DU schon von 'früher' und meine eigene Erinnerung reicht noch weit über die Zeit hinaus, die du damit meinst. Wie sich die Perspektiven verändern, wenn man älter wird.“

Oh ja, das konnte ich nur bestätigen. Durfte ich „früher“ meine Eltern zum monatlichen Großeinkauf bei Real begleiten, konnte ich mich dort stundenlang bewundernd vor den Regalen mit „Haushaltsbedarf und Geschenkartikeln“ aufhalten, während Vater und Mutter eintauchten in den unendlichen Kosmos des Supermarktes, wo ich sie dann, wenn ich des Betrachtens von Holzbrettchen mit Aufschriften wie „Wenn's Arscherl brummt, ist's Herzerl g'sund“ oder „Wer die Wirtin kränkt, wird aufgehängt“ müde geworden war, nach kilometerlanger Wanderung durch die Gänge irgendwo zwischen den Konserven wiederfand. Später, als Erwachsene, erledigte ich dort meinen Einkauf mal eben in der Mittagspause und war fest davon überzeugt, dass der Markt zwischenzeitlich baulich verkleinert worden sein musste.

Eine ähnliche Erinnerung verbinde ich mit Spielzeugautos. Mein „kleiner Bruder“, drei Jahre jünger, aber mit heute knapp zwei Metern einen guten Kopf größer als ich, besaß als Kind eine ganze Reihe solcher Modellwagen, die auch mich wegen ihrer Detailgenauigkeit faszinierten. Die Türen und Motorhauben ließen sich öffnen und schließen und wenn man mit dicklichen Kinderfingern das Lenkrad drehte, bewegten sich die Räder. Sogar die Nummernschilder waren mit winzigkleinen Buchstaben versehen.

Das Einzige, was selbst meinem kindlichen Empfinden nach nicht dem Original entsprechen konnte, war der auf dem Unterboden eingeprägte Schriftzug „Made in West-Germany“. West-Germany – das klang markig. Nach Marlboro-Man und Cowboys, die in den Sonnenuntergang ritten. Vermutlich irgendwo in der Nähe von Düsseldorf oder so, für mich als Sechsjährige der Inbegriff von Westen. Stundenlang konnte ich mich in die unendliche Weite von „West-Germany“ hineinfantasieren und ich weiß tatsächlich noch, wie enttäuscht ich war, als ich später herausfand, dass „Made in West-Germany“ schlicht der Unterscheidung zu „Made in GDR“ diente.

Vor einigen Tagen fühlte ich mich erinnerungsselig in diese Träumerei zurückversetzt, als ich auf der Autobahn mit 160 PS in den Sonnenuntergang ritt … äh, reiste. Ein Gefühl von Weite und Freiheit machte sich in mir breit. Zeit und Raum entzogen sich jeglicher Messbarkeit. Der Zwangsaufenthalt an der nächsten Tankstelle rückte dann allerdings meine Vorstellung von der Unendlichkeit wieder in die richtige Perspektive.