1
Geschafft! Sie war eine der ersten, die mit dem Training fertig war. Vom Rand sahen schon die anderen herüber: Max, Cath, Adam, Joanne, David und Mike. Siebte, das war gar nicht mal schlecht, wenn man davon absah, dass anscheinend über dreiviertel der Leute immer noch nicht kapiert hatten, dass man irgendwann keine Dusche mehr abbekam und deswegen zu spät kamen und/oder sich alle Zeit der Welt ließen. Na ja, nicht ihr Problem."Na Süße, soll'n wa zusammen duschen?", rief Mike ihr zu. Max und Adam lachten. Joanne versteifte sich. Sie war neu und hatte sich noch nicht an den Umgang hier gewöhnt. Ihr ließen die Jungs noch etwas Zeit, aber für Leah und die anderen war es halt alltäglich, dass die Jungen mitten in der Nacht in ihre Zimmer kamen, sich in ihre Betten legten und sich ihnen aufdrängten. Über so was wurde nicht gesprochen und den Aufsehern von Broken Lives ging es am Arsch vorbei. Jap, hier lebte sie: Das Erziehungsheim Broken Lives. Zerbrochene Leben, Zerstörte Leben. Der Name passte. Männer, die in Broken Lives aufwuchsen, wurden kriminell, handelten mit Drogen und gehörten irgendwelchen Gangs an. Die Frauen aus Broken Lives endeten auf der Straße, wurden Drogenabhängig oder begangen Selbstmord. Für die Mädchen war Broken Lives der pure Albtraum. Viele wurden schon froh sexuell belästigt oder vergewaltigt. Auch jene, die zu Anfang oft noch freiwillig mit den Jungs schliefen, wurden davon nicht verschont. Es war zwar ein Erziehungsheim, aber erzogen wurde in Broken Lives niemand. Leah war am Rand bei den anderen angekommen. "Komm schon, Kleine" Mike klatschte ihr auf den Hintern. Sie ignorierte es, meistens ließen sie einen dann in Ruhe. Sie wandte sich an Cath: "Was glaubst du, wann schließen sie die Duschen auf?", doch bevor Cath antworten konnte platzte Mike dazwischen: "Na, du kannst es ja kaum noch erwarten." Er legte seinen Arm um Leah's Taille und lies ihn ihren Rücken herunter wandern, bis zu ihrem Hintern. Sie schubste ihn weg. Er packte ihren Arm. "Pass auf, Süße", raunte er ihr ins Ohr. Zu laut, denn anscheinend hatte das Ganze die Aufmerksamkeit eines Aufsehers erregt. War ja klar, es war egal, was passierte, so lange es niemand, das hieß nicht das ganze Heim, mitbekam. Wenn die anderen mitbekamen, wie ein Junge ein Mädchen belästigte, bekam er Ärger, sonst nichts. Adam hatte anscheinend auch gesehen, dass Mr. Folder, einer der Aufseher, mit finsterer Miene näher kam. Er drängte sich zwischen sie und Mike und zischte ihm zu: "Alter, hör auf, Mr. Folder kommt schon rüber." Dabei 'streifte' er ganz 'zufällig' mit dem Arm Leah's Brüste, nur drückte er seinen Arm so stark gegen ihren Busen, dass jeder erkennen konnte, dass dies kein Zufall war. Cath rollte mit den Augen und Leah und sie stellten sich zwei Meter weiter. Langsam wurden auch die anderen fertig und es bildeten sich mehrere kleine Grüppchen am Rand. Sadie und Louana kamen auf Leah und Cath zu, Sadie's schwarzer Pferdeschwanz wippte im Takt ihrer Schritte und Louana's grüne Augen blitzten belustigt: "Na Leah, die beiden sind ja echt scharf auf dich." Leah zog die Augenbrauen hoch: "So lange sie es bei so was wie grad belassen." Cath sah sie an. "Soweit ich weiß liegt Mike", sie verzog das Gesicht angeekelt, "wegen so was wie gerade mit den anderen gerade ziemlich im Clinch, also wirst du vor ihm, denke ich mal, Ruhe haben." Sie sprach leise, die Jungs würden nur unnötig sauer werden, wenn sie hörten, dass sie so über sie sprachen. "Wär ja auch noch schöner", seufzte Leah, "der Typ ist echt widerlich!" Mr. Folder schloss den Duschraum auf. Sadie, Louana, Cath und Leah schnappten sich die hintersten vier Kabinen, sie mussten sich beeilen, bald würden auch die letzten Jungs mit Training fertig sein und keine von ihnen hatte Lust, plötzlich nackt dazustehen, weil irgendein Idiot der Meinung war, ihnen das Handtuch vom Körper ziehen zu müssen. So lange die alle noch unter der Dusche waren, ging von ihnen keine Gefahr aus. Leah klopfte gegen die Wand, die sie von Cath trennte, um herauszufinden, ob diese schon fertig war, als plötzlich ein markerschütternder Schrei ertönte. "Oh nein!", hauchte sie, ein Mädchen hatte wohl vergessen, ihre Kabinentür abzuschließen. Ihr einziger Gedanke galt Cath, Sadie und Louana. Bitte lass es nicht eine von ihnen gewesen sein, war das einzige was sie denken konnte. Sie schlang das Handtuch um ihren klatschnassen Körper und öffnete vorsichtig die Tür, wenn sie nicht aufpasste würde ihr wahrscheinlich das Gleiche passieren. Drei Meter weiter von ihr entfernt stand Jay und sie blickte direkt in seine dunkelblauen Augen. Jay war der Anführer, ihm unterstand hier alles, sogar manche Aufseher. Sie konnte sich nicht von seinem Blick losreißen, stechend wie Eis, erst das Aufkeuchen von Cath riss sie aus dieser Trance, sie wandte sich ab und folgte Cath's Blick, dann sah sie mit voller Entsetzen, was passiert war. In der Kabine stand Mike nackt und drückte die ebenfalls nackte Joanne an die Wand. Er hatte anscheinend noch nicht gemerkt, dass soeben jemand die Kabinentür aufgerissen hatte. Joanne's Augen waren geschlossen, doch ihr Gesicht war schmerzverzerrt und an ihren Wangen liefen leise Tränen herunter. Dann waren auch schon Christian und Logan bei ihm und rissen ihn von Joanne weg. Jay hielt ihr ein Handtuch hin. Einer der Jungs warf auch Mike ein Handtuch zu, es landete auf dem Boden. Als er es sich notdürftig um die Hüften gebunden hatte, wandte sich Jay wieder ihm zu. Mike flehte ihn an und versuchte sich rauszureden, doch Jay hörte nicht mal hin, er schlug ihm einfach mit der Faust ins Gesicht, man hörte ein knacken. Es musste höllisch wehtun, wenn Mike Pech hatte war der Kiefer gebrochen, aber er verdiente es. "Was hab ich dir gesagt?!", fragte Jay mit eiskalter Stimme. Mike konnte nicht antworten. "Bringt ihn weg." Jay wandte sich ab. Inzwischen waren einige Mädchen zu Joanne geeilt, darunter auch Jenny und Claire. Leah, Cath, Louana und Sadie sahen sich an, sie alle waren schon fertig mit duschen. Leah nickte den dreien zu und sie schlichen sich an der jetzt laut schluchzenden Joanne und Jay, der sich inzwischen in einer der restlichen Kabinen verzogen hatte, vorbei. Auf dem Flur begegneten sie Logan, er holte wahrscheinlich Mike's Sachen.
2
Nachdem sie sich angezogen und geföhnt hatten, hatten die vier noch etwas Zeit bis zum Abendbrot, also setzten sie sich alle auf Leah's Bett und Leah kam nicht daran vorbei, an Joanne zu denken. Bei jedem anderen konnte man gute Miene zum bösen Spiel machen, aber dieser widerliche Mike übertraf alles, was sie je erlebt hatte. Mitten in der Dusche, vor allen anderen. Dann holte Sadie sie aus ihren Gedanken zurück. "Leah, findest du nicht auch, dass Jay ihn ziemlich hart erwischt hat?" Sadie's kühle Stimme beruhigte sie, irgendwie. "Aber er hats verdient!", warf Louana ein. Die anderen drei nickten nur. Eine lange Pause entstand, dann fügte Leah hinzu: "Jetzt kann er wenigstens nicht mehr zum Essen kommen, er kam unserem Tisch sowieso in letzter Zeit viel zu nahe." Der Gong erklang und die Mädchen sprangen auf und liefen hinunter zum riesigen Speisesaal. Dort angekommen nahmen sie an ihrem Tisch, links am Fenster, platz. Zu essen gab es Schwarzbrot, dazu ein paar Sorten Wurst und Käse und Wasser. Wie erwartet erschien Mike nicht zum Essen, und auch Joanne kam nicht. Leah's Blick wanderte durch den Raum. Dann fand er Jay's Augen, wie hübsch sie doch waren, so dunkel, ja, dunkel traf es. Leah sah weg. Als sie wenige Sekunden später wieder hinüber sah, hatte Jay sich ganz seinem Essen gewidmet, sie musste sich getäuscht haben. Sie überlegte noch einmal, ob sie sich nicht doch was nehmen sollte, doch irgendwie hatte sie keinen Appetit.
Diese Nacht kamen die Träume wieder, es war dunkel, die Luft war schwer und irgendwie feucht. Dann begann der Körper über ihr sich zu bewegen, seine Hände berührten ihren nackten Körper, ihre Brüste, ihre Taille, ihre Hüften. Dann berührte er sie zwischen den Beinen, jedoch nicht mit seinen Händen, die lagen immer noch auf ihren Hüften. Als sie aufwachte stand ihre Zimmertür offen. Sie blickte zu den anderen rüber, aber die schliefen tief und fest und angezogen waren sie, wie sie selbst, auch noch, also stand sie, nicht mehr ganz so beunruhigt, auf um die Tür zu schließen, da vernahm sie vom Flur her ein leises Wimmern. Dort in der einen Ecke, neben dem Fenster, hockte Joanne. Sie hatte die Beine mit den Armen umschlungen und weinte. Leah schloss die Tür hinter sich und ging langsam auf sie zu. "Joanne" Das Mädchen sah hoch, ihre Augen waren vom Weinen rot und geschwollen. "Was ist passiert, Joanne?" Leah setzte sich neben sie. Joanne antwortete nicht, sie legte ihren Kopf auf ihre Knie, ihr langes, glattes, schwarz-braunes Haar legte sich um ihre bebenden Schultern. Leah strich mit ihrer Hand über Joanne's Haar. Ihre eigenen, taillenlangen, goldenen Locken bildeten einen Schleier, der sie beide vom Rest der Welt abschirmte. "Du hättest an meiner Stelle sein sollen, dich wollte er! Dich!", schrie Joanne sie plötzlich an. Ihre Arme lösten sich von ihren Beinen und sie fing an auf Leah einzuschlagen. "Du, du, du, es ist alles deine Schuld! Alles deine Schuld!", kreischte sie. "Ich bin in dein Zimmer gekommen, um dir genauso weh zu tun, wie er mir wehgetan hat, denn es ist alles deine Schuld!" Deswegen hatte also die Tür offen gestanden. Joanne schlug weiter auf sie ein, Leah versuchte sich die Arme schützend vors Gesicht zu halten, doch es half nichts. Sie versuchte aufzustehen, aber sie kam nicht hoch. Sie hatte keine Panik, sie wusste, dass Joanne ihr mit ihren Fäusten niemals solche Schmerzen bereiten konnte, wie Mike ihr zugefügt und Leah schon zu viele Male gespürt hatte. Dann fühlte sie, wie zwei starke Arme sie von hinten packten und sie hoch und von Joanne weg zogen. Sie sah außerdem, wie Logan seine Arme um Joanne schlang und trotz ihrer heftigen Proteste nicht mehr los ließ. Leah drehte sich um, direkt vor ihr stand Jay, sein dunkelblondes, fast braunes Haar war verstrubbelt. Sie wollte gar nicht wissen von wo, oder eher gesagt von welchem Mädchen er grad kam. Er sah sie an, als ob er genau wissen würde, was sie grad dachte. "Du solltest jetzt am besten wieder ins Bett gehen", sagte er sanft, was Leah ernsthaft überraschte. Jay war eigentlich mehr der Typ, der einem mit seiner Stimme zeigte, wie scheißegal man ihm war. Sie sah die beiden Jungs prüfend an. "Aber wehe ihr tut ihr was. Das in den Duschen war schon schlimm genug." Dann wandte sie sich ab und ging zurück in ihr Zimmer. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Oder hätte sie lieber bei Joanne bleiben sollen? Hatte Joanne Recht? War das alles wirklich ihre Schuld? Alle diese Fragen geisterten Leah durch den Kopf, während die versuchte wieder einzuschlafen.
Leah merkte erst, dass sie letzte Nacht doch noch einmal eingeschlafen sein musste, als das laute Schrillen des Weckers erklang. Der Lautsprecher, durch den dieses schreckliche Geräusch kam, hing direkt über ihrem Bett. Draußen, vor dem Fenster, hingen Nebenschwaden. Leah zog sich ihre Jeans über die Hüften. Sie passten perfekt. Broken Lives war ein Albtraum, das konnte man nicht bestreiten, aber auf den äußeren Schein wurde geachtet, und dazu gehörte passende und 'modische' Kleidung. Als sie ihr Nachthemd auszog, fiel ihr Blick auf ihren von blauen Flecken übersähten Oberkörper. Louana und Cath verstummten und auch Sadie blickte sie nur schweigend an. Leah schüttelte den Kopf. "Erzähl ich euch später.", sagte sie leise, während sie sich ein langärmliges Oberteil anzog, damit man die Blutergüsse nicht sah. Sie fuhr sich ein paar Mal mit der Bürste durch ihr widerspenstiges Haar, dann gab sie auf und band es in einem Zopf zusammen, sie würde sich nach dem Frühstück darum kümmern. Leah machte sich mit Sadie auf den Weg nach unten, zum Frühstück, die anderen beiden waren schon voraus gegangen. Auf dem Flur trafen die beiden Cynthia. Cynthia war die Art Mädchen, die man beim puren Anblick nicht mochte, groß, schlank, wunderschön, immer perfekt gestylt. Mit ihrem scharf geschnittenen, strengen Zügen hatte sie etwas von einer Rachegöttin, wohingegen Leah mehr etwas von einem Engel zu haben schien. Dabei hatten sie beide sehr viel gemeinsam. Wenn es irgendeine Art von Hierarchie unter den Mädchen gab, dann standen sie beide an der Spitze. „Hi Leah“, Cynthia kam auf sie zu, „dass mit Mike hat vielleicht doch mehr ausgelöst als gedacht... Gestern Abend, da sind mehrere Mädchen zu mir gekommen und wollten nicht mehr gehen, besonders die Jüngeren und die Neuen scheint es sehr erschreckt zu haben. Sie sollten sich vor so was nicht fürchten müssen. Ich will nicht, dass es ihnen genauso geht wie uns.“ Leah nickte. „Eine Versammlung, zwischen dem Frühstück und der ersten Stunde, im Aufenthaltsraum der Mädchen. Es sind keine Jungs erlaubt.“ Dann sah sie Sadie an. „Ich komme gleich nach.“ Leah drehte sich um und ging. Sie wusste, dass Cynthia sich nicht um die anderen Mädchen kümmerte, sondern nur ihre Macht behalten und in Ruhe gelassen werden wollte, aber sie hatte Recht, die anderen Mädchen sollten nicht das gleiche erleben wie sie.
Leah stieß die Tür zum Jungentrakt auf. Ein paar dümmlich grinsende Jungen trotteten ihr Schlaftrunken entgegen. Die meisten schliefen wahrscheinlich noch, sie gingen erst später zum Frühstück und von dort aus direkt in den Unterricht. Vor der letzten Tür blieb Leah stehen. Sie klopfte zweimal an die Tür, dann öffnete sie sie. Obwohl es ein Einzelzimmer war, war es größer als die meisten Fünferzimmer im Mädchentrakt. Aber was sollte man machen, wenn man einen rückständigen Direktor hatte, der immer noch der Meinung war, dass Frauen weniger wert wären als Männer. Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen ein paar Kleidungsstücke, ansonsten war das Zimmer aufgeräumt. Sie war gerade dabei einzutreten, als er seinen Kopf aus einem angrenzenden Raum, wahrscheinlich dem Badezimmer, hereinstreckte. Er runzelte die Stirn und seine blauen Augen fixierten sie. Sein Haar war nass, anscheinend hatte er gerade geduscht. Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich, dann ging sie und sah hinaus in den Nebel. Leah gab Jay Zeit sich anzuziehen, sie würde nicht mit ihm sprechen, so lange er nur eine Boxershorts trug. "Was ist Leah? Die Bestrafung von Mike ist meine Angelegenheit, nicht deine." Jay sah sie durch die Spiegelung im Fenster hin an. Leah drehte sich langsam zu ihm um. "Darum geht es mir nicht..." "Worum dann?", unterbrach er sie. Sie beachtete ihn nicht und fuhr fort:"...sondern darum, dass die Neuen und die Jüngeren keine Angst vor so was haben sollten." Sie blickte ihm fest in die Augen.