Romane & Erzählungen
Die falsche Liebe (09)

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"Die falsche Liebe (09)"
Veröffentlicht am 22. November 2011, 26 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

untypisch für ein Mädchen (wird mir auch oft gesagt) teilzeit Kummerkasten unordentlich Nachtmensch
Die falsche Liebe (09)

Die falsche Liebe (09)

Noch immer benommen von der Narkose, blinzelte ich mit den Augen. An meinem Bett saß mal wieder mein großer Bruder, aber auch Papa war da. „Wo ist Julchen?“ „Zu Hause. Sie schläft schon oder vielmehr immer noch. Mensch Friedi, was machst du denn für Sachen?“ Ich dachte nach und fasste mir an die Stirn, doch da war noch immer mein Verband vom Treppensturz. „Ich hatte Durst und da habe ich auf den Notfallknopf gedrückt, weil ich selber ja nicht aufstehen konnte. Die Schwester kam und war ziemlich genervt. Sie brachte mir ein Glas Wasser und den Tee. Ich trank beides. Erst das Wasser und dann den Tee. Plötzlich verspürte ich ein Kratzen im Hals und ich bekam nur sehr schwer Luft. Ich drückte wieder und wieder auf den Knopf, aber es kam keiner. Erst nach langem Klingeln kam dann endlich wieder die Schwester und die hat dann den Arzt gerufen und ja, dann weiß ich auch nicht mehr.“ Ich schaute meinen Vater an. Der war etwas verwirrt und wütend auf die Schwester, da diese nicht sofort gekommen war und sagte deshalb leicht gereizt: „Das haben wir alles schon erfahren, aber ich wollte vielmehr wissen, warum du den Tee trinkst, wenn du weißt, dass du allergisch darauf reagierst?!“ „Daran habe ich in dem Moment nicht gedacht. Tut mir Leid. Ich versuche das nächste Mal schlauer zu sein, okay?“ „Darum geht es ja gar nicht, sondern…“ „Papa, jetzt hör doch mal auf. Siehst du nicht wie fertig sie ist? Ärger und Streit sind jetzt die beiden letzten Dinge, die sie braucht“, fiel ihm mein Bruder ins Wort und dafür war ich ihm sehr dankbar. Er hatte recht. Erst die Schuldgefühle, dann die Sache mit dem Tee und jetzt das. Ich fühlte mich ziemlich mies und das Einzige, das ich wollte, war Schlaf und tröstende Worte. In dem Moment klingelte das Handy meines Vaters. Er nahm ab: „Udo Kressmann … ja … hm … ja, dann … hm … na …ja, ja, ich würde … nein … muss das denn sein? ... ja … nein … meine Tochter liegt schwer verletzt und frisch operiert im Krankenhaus … ja … okay, bis gleich!“ Er seufzte kurz, legte auf und wandte sich schuldbewusst an mich: „Tut mir leid wegen eben. Ich muss nochmal los, komme aber nachher wieder. Karl, bleibst du hier?“ „Klar, wieso auch nicht? Alles andere kann warten.“ Dankbar sah mein Vater Karl an und rannte förmlich aus dem Zimmer. „Wow, das ging jetzt aber schnell. Danke, dass du hier bleibst, aber du kannst ruhig gehen. Ich schlafe, mache irgendwas mit meinem Laptop, lese oder so. Keine Angst, ich finde schon eine Beschäftigung. Geh ruhig. Julchen wartet  bestimmt auf dich.“ Nicht, dass ich ihn loswerden wollte, aber ich wollte, dass er seine Semesterferien effektiver nutzen würde, als im Krankenhaus am Bett seiner kleine Schwester zu sitzen. „Friedi, ich hole gleich die Krankenschwester, damit sie dir eine Schlaftablette gibt und ich hier in Ruhe sitzen kann ohne das Gefühl zu haben, unerwünscht zu sein. Was Julchen betrifft, mach dir um sie keine Sorgen. Sie ist alt genug, um alleine zu Recht zu kommen. Sie weiß außerdem, dass du im Krankenhaus liegst und wird daher schnell wissen, wo ich bin.“ Wieder einmal dankte ich Gott für diesen einzigartigen, tollen und umwerfenden großen Bruder. „Schlaf ruhig!“, forderte er mich auf, aber an Schlaf wollte ich in diesem Moment als letztes denken. „Kannst du mir einen Gefallen tun? Kannst du an der Rezeption fragen in welchem Zimmer Max liegt?!“ Ohne eine Antwort zu geben, verließ er das Zimmer. Meine Augen wurden von Minute zu Minute schwerer und schließlich schlief ich ein. Ich träumte schlecht und wälzte mich die ganze Zeit im Bett herum. Plötzlich merkte ich einen stechenden Schmerz im Brustbereich. Ich fuhr aus dem Schlaf hoch. Ich lag nicht mehr im Krankenhausbett, sondern auf dem Ekelboden. Ich versuchte aufzustehen, aber es gelang mir nicht. Wieder und wieder versuchte ich mich auf meine Arme zu stützen und das unversehrte Bein auf zu stellen, um dann das gebrochene, eingegipste Bein wie eine Krücke zu benutzen. Doch ich rutsche wieder und wieder weg. Meine Arme hielten mich nicht. Irgendwann gab ich schweißgebadet vom Traum und dem Versuch aufzustehen auf. Erschöpft lehnte ich meinen Kopf gegen den Bettpfosten.

Anscheinend war ich eingeschlafen, denn als ich müde blinzelte schien bereits die Sonne und blendete mich. Ich fühlte mich dreckig und wollte unbedingt duschen. Das Problem war nur: Ich saß immer noch bewegungsunfähig auf dem Boden. Ich versuchte mir mein Buch zu angeln, aber dabei renkte ich mir meinen Arm aus. „Warum habe ich immer so viel Pech auf einmal? Kann mir das mal jemand sagen?“ Konnte natürlich keiner, denn ich führte erneut Selbstgespräche. Doch dann kam das rettende Klopfen. Es war eine junge, attraktive, blonde Krankenschwester, die allerdings ziemlich neu sein musste, denn sie stellte sich ziemlich ungeschickt an. Zuerst wollte sie gleich wieder das Zimmer verlassen, als sie niemanden im Bett sah, aber da ich dann ein lautes „Warten Sie! Ich bin hier auf dem Boden neben dem Bett.“ In Richtung Tür rief, entschloss sie sich nach langem Zögern nachzuschauen. Doch bevor sie mir wieder ins Bett half und mir mein Frühstück brachte, musste ich ihr alles erzählen. Genüsslich aß ich das Ekelessen, das gar nicht so schlecht war. Es schienen frische Brötchen zu sein. Dazu bekam ich Schokoladenmilch, da ich ja kein Tee mehr bekommen durfte, und Marmelade. Ich aß alles auf. Die Krankenschwester, die sich höflich als Schwester Karin vorstellte, klopfte erneut, um das Tablett wieder mitzunehmen. „Wäre es möglich, dass ich heute duschen könnte?“ Schwester Karin wusste nicht recht und verließ ohne Antwort mein Zimmer. Dann halt nicht. „Keine Antwort ist auch ‘ne Antwort.“, murmelte ich leise. Doch dann kamen gleich mehrere Schwestern auf einmal. Ich war verwirrt, denn sie hoben mich hoch und stützen mich, während andere mein Bett neu bezogen. Sie schleppten mich zur Dusche. Ich genoss das Gefühl von Reinheit und Sauberkeit. Sie gaben mir ein neues Nachthemd. Als sie mich wieder in mein Zimmer verfrachten wollten, fragte ich: „Könnte ich bitte Max Schuster besuchen?“ Die Krankenschwestern schauten mich zwar skeptisch an, sagten aber nichts, sondern brachten mich zu ihm. Max fiel kaum auf in dem weißen Zimmer in dem weißen Bett, versteckt durch die weiße Bettdecke. „Max…“, hauchte ich, dann versagte meine Stimme. Er sah echt richtig scheiße aus. Seine Augen waren eingefallen und seine Augenhöhlen seltsam hohl. Die Wangenknochen traten stark hervor. War er jetzt etwa magersüchtig? Doch der Arzt, der hinzukam, erzählt mir, dass Max nur noch am Brechen war, wegen seiner seelischen Belastungen. Als der Arzt das Zimmer verlassen hatte, wachte Max auf. Er sah mich und lächelte. Seine Augen strahlten. Vorsichtig strich ich ihm durchs Haar. Ich wollte ihn küssen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, hob er seinen Kopf und drückte seine Lippen auf meine. Es war das gleiche Gefühl, wie bei unserem ersten Kuss. Doch irgendwann wurde sein Kopf zu schwer und er sank in sein Kissen zurück. Ich streichelte noch lange seine Hand. Wir redeten über alles Mögliche. Plötzlich fragte er: „Sind wir denn jetzt wieder zusammen?“ Lächelnd fragte ich ihn: „Hatten wir uns denn jemals getrennt?“ Glückselig schüttelte er den Kopf. Als das Mittagessen kam, aß er alles auf und behielt es drinnen. Lange saßen wir schweigend nebeneinander. Mitten in die Stille hinein klopfte es. Es war Karl, der mir mein versprochenes Essen brachte. Er war bester Laune und setzte sich zu uns. Er hatte mir Buchstabensuppe gekocht sie schmeckte ausgezeichnet. Ich teilte sie mir mit Max, wobei er den größeren Teil bekam, da er abgemagert war. Karl steckte uns mit seiner ruhigen Art an. Wir saßen lange beisammen und waren so ausgelassen, dass der Arzt irgendwann reinkam und um Ruhe bat. Es wurde ein wundervoller Nachmittag. Die Zeit verging wie im Flug. Als die Schwestern reinkamen, um mich zurück zu tragen, war ich sogar ein wenig traurig und der Arzt meinte: „Ach Schwester Karla und Schwester Sarah lassen Sie die kleine Friedi doch noch ein Weilchen hier! Ich bringe sie dann nachher mit ihrem Bruder auf ihr Zimmer, oder Karl?“ „Klar, Heinrich, das machen wir.“ Freundschaftlich klopften sie sich gegenseitig auf die Schultern. Die Schwestern waren reichlich verwirrt. Sie dachten wahrscheinlich, dass ihr Chef zu viel getrunken hatte. Doch sie gingen ohne noch etwas zu sagen. Bestimmt fehlten ihnen die Worte. Die Schwestern brachten das Abendbrot und kamen gegen um zehn, um ihren Chef auf die Nachtruhe zu verweisen. „Man soll aufhören, wenn‘s am schönsten ist. Komm Karl, wir lassen die beiden nochmal kurz alleine.“ Wir brauchten nichts zu sagen. Wir verstanden uns auch so. Worte hätten diesen Augenblick nur zerstört. Ich gab ihm noch einen Gutenachtkuss und rief dann nach Karl und Heinrich. Wir hatten alle zum „Du“ gewechselt und sprachen uns mit den Vornamen an. Sie trugen mich aufs Zimmer, deckten mich zu und dann verabschiedete sich Heinrich. Er wünschte mir und Karl, der im Bett neben mir schlafen würde, eine angenehme Ruhe und einen guten, festen und erholsamen Schlaf. Ich war so müde, dass ich sofort einschlief. Ich hörte nur noch wie Karl sagte: „Ich muss dir morgen unbedingt etwas Sensationelles sagen, aber jetzt schlaf erst mal! Gute Nacht.“

Nach einer traumlosen Nacht erwachte ich ausgeruht und voller Tatendrang. Karl schlief noch und mein Tatendrang und meine gute Laune verwandelten sich in Ungeduld und Langeweile. Wie können Leute so lange schlafen? Ich überlegte lange, ob ich ihn wecken sollte oder nicht. Ich entschied mich ihn schlafen zu lassen. Auch ich versuchte noch einmal zu schlafen. Doch ich war viel zu aufgeweckt und ausgeschlafen, um wieder einzuschlafen. Ich wälzte mich hin und her, aber es half nichts. Ich musste unbedingt etwas machen. Schließlich entschloss ich mich, mich zu bewegen. Die Bewegungen schmerzten immer noch, so dass ich mich ganz vorsichtig und langsam erhob und meine Füße auf den Boden stellte. Noch etwas unbeholfen schlurfte ich zum Fenster. Es war ein wolkenklarer Himmel und die Sonne schien hell und freundlich. Es würde ein wunderbarer Tag werden. Die Vögel hatten bereits begonnen ihre Lieder zu zwitschern und die Regentropfen vom letzten Sommergewitter glitzerten. Das einzig schlechte an der Sache: Ich saß hier drinnen fest. Das war ja echt zum kotzen. Wieso muss ausgerechnet dann gutes Wetter sein, wenn ich nicht raus kann? Warum muss mir so etwas ausgerechnet in den Ferien passieren? Nur wegen dieser blöden Mareike! Ich wusste ja schon immer, dass sie ein gemeines und hinterhältiges Miststück ist. Doch warum regte ich mich auf? Das war doch reine Energieverschwendung. Seufzend humpelte ich zurück zum Bett. Da ich immer noch nicht genau wusste, was ich machen sollte, schaltete ich meinen Laptop an. Leider hatte ich vergessen den Ton auszumachen und so erklang der Startton in voller Lautstärke. Mein Bruder musste im Halbschlaf gewesen sein und ziemlich nah am Bettrand gelegen haben, denn plötzlich hörte ich ein dumpfen Aufschlag: Mein Bruder ist vor Schreck aus dem Bett gefallen. Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Ich kriegte mich nicht wieder ein und bekam bereits Bauchschmerzen. Mein Bruder, der durch den Aufprall hellwach war, fand das allerdings gar nicht lustig und grummelte wütend vor sich hin. Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, beschlossen wir die Krankenschwester zu holen. Vielmehr mein Bruder wollte die Schwester holen. Es dauerte ziemlich lange. Nach zehn Minuten Wartezeit hatte ich die Schnauze voll. Zum zweiten Mal an diesem Tag versuchte ich mich zu erheben. Ich biss mir fest auf die Zunge, damit ich die Schmerzen nicht so deutlich spürte. Vorsichtig lief ich Richtung Tür. Ich legte die Hand auf die Klinke und drückte sie nach unten. In dem Moment wurde die Tür aufgestoßen. Ich konnte gerade noch die Hand wegziehen, aber keinen Schritt zurück gehen und so bekam ich sie mit voller Wucht gegen den Kopf. „Man Karl, kannst du nicht aufpassen?“ Ich fasste an meine schmerzende Stirn. Das würde garantiert eine Beule werden. Ich fühlte es jetzt schon. Doch anstatt sich zu entschuldigen, lachte mein Bruder lauthals los. „Das ist nun wirklich nicht lustig. Hör auf zu lachen!“ Doch mein Bruder dachte gar nicht daran mit dem Lachen aufzuhören. „Karl Maximilian Kressmann! Wenn du nicht sofort aufhörst zu lachen, dann…“ Weiter kam ich nicht, denn mein sonst so friedlicher Bruder blitzte mich wütend an. Ich war es nicht gewohnt und geriet ins Stocken. Hätte ich kein gebrochenes Bein gehabt und normal laufen können, dann wäre ich zum Fenster gerannt und rausgesprungen, da es im ersten Stock lag. Doch leider waren das nicht die derzeitigen Umstände. Ich musste also ruhig stehen bleiben und möglichst unbeeindruckt gucken. „Friederike Emilia Sophie Kressmann, wie hast du mich soeben genannt?“ Er kam einen Schritt auf mich zu, doch jetzt fiel es mir leichter böse zu gucken, denn ich hasste es genau wie er beim vollen Namen genannt zu werden. „Karl Maximilian Kressmann.“ Unsere Eltern hatten den Drang all ihren Kindern Doppelnamen zu geben. Nur ich hatte drei bekommen. Wir hießen: Karl Maximilian, Friederike Emilia Sophie, Julia Katharina, Jakob Michael, Lena Marie und Marius Robert. „Glaubst du, ich fand es lustig, als ich deinetwegen aus dem Bett gefallen bin und du gelacht hast. Der Sturz tat höllisch weh!“ In Erinnerung an den Sturz musste ich wieder loslachen. „Siehst du? Du lachst schonwieder deswegen. Wieso darf ich dann nicht lachen, wenn du eine Tür vor den Kopf kriegst, weil du nicht mal zehn Minuten warten kannst?“ Das war eine gute Frage, auf die ich leider keine Antwort wusste. „Tut mir leid. Du hast Recht“, erwiderte ich kleinlaut. „Na komm her!“ Verlegen wollte ich einen Schrittauf ihn zu machen, aber meine Verletzungen verhinderten das. Stattdessen stolperte ich und fiel ihm in die Arme. Zum Glück hatte er genau wie Bernd Judo gemacht und konnte mich rechtzeitig auffangen. Was Bernd wohl gerade machte? Und Max? Und Felix? Und Anna? Wie ging es dem Rest meiner Familie? Wann würde ich endlich nach Hause gehen dürfen? Fragen über Fragen, die mir in dem kurzen Moment in den Sinn kamen. „Lass uns frühstücken!“ Mit diesen drei Worten unterbrach mein Bruder den Gedankenfluss und ich hatte nur noch einen Gedanken: Essen. Mein Bauch knurrte. Fragend schaute ich meinen Bruder an. „Hast du der Schwester Bescheid gesagt?“ „Ja und sie ist einverstanden.“ Ich verstand nur Bahnhof. „Einverstanden? Womit? Das sie uns das Essen bringt?!“ Amüsiert entgegnete mein Bruder: „Nein, du Dummerchen. Sie ist einverstanden, dass wir uns in ein Café setzen. Also, zieh dich schnell an!“ Klar, es war toll, dass wir in ein Café gehen würden, aber wie denn? Ich konnte weder mit noch ohne Krücken laufen. Wie stellte er sich das vor? Er musste meine Gedanken erraten haben. Leider hatte ich die Eigenschaft, mein Inneres nach außen zu kehren. Sozusagen wie bei Heine: „Nichts ist Außen, nichts ist Innen, denn was Außen, das ist Innen.“ Zur Erklärung: Angenommen ich mag eine Person nicht, dann sieht man mir das an. Das ist ziemlich schlecht, denn ich möchte nicht, dass jemand merkt, dass er mir zum Beispiel auf die Nerven geht oder dass ich ihn nicht mag. Klar, die Person weiß dann, woran sie ist, aber ich fühl mich nicht wohl dabei. Jedenfalls meinte mein Bruder nur: „Keine Angst! Ich habe an alles gedacht und extra für dich einen Rollstuhl organisiert.“ Da war ich baff. So schnell ich konnte, humpelte ich zum Schrank und zog mich an. Mein Bruder half mir in den Rollstuhl und schob mich den ganzen Weg bis nach draußen. Endlich an der frischen Luft, atmete ich tief durch. Mein liebster Bruder war der Meinung, dass ich meine Armmuskeln trainieren sollte und so durfte ich den Rollstuhl allein schieben. Völlig fertig kamen wir in meinem Stammcafé "La Rose" an. Zu meiner Ãœberraschung wartete dort meine ganze Familie, Anna, Bernd und seine Studienkollegin Katharina-Magdalena. Das war eine Ãœberraschung. Meine kleinsten Geschwister waren während ihrer Abwesenheit ganz schön gewachsen. Mama stammelte nur immer wieder: „Oh mein armes Kind. Mein armes, armes Kind“ und strich mir fürsorglich übers Haar. Peinlich berührt fragte ich in die Runde: „Können wir dann Essen? Ich habe großen Hunger. Im Krankenhaus gibt es nur Ekelessen.“ Nachdem wir mehrere Zweiertische zusammengeschoben hatten, aßen wir alle genüsslich unser Frühstück. Es machte wider erwarten richtig viel Spaß und die Stimmung war ausgelassen. „Sag mal Karl, wolltest du mir gestern nicht noch was sagen?“, flüsterte ich meinem Bruder leise ins Ohr. Mein Bruder schaute mich mit großen Augen an. Er lächelte verlegen und meinte nur: „Ach nee! Da musst du dich verhört haben. Ich will dir nichts sagen.“ Sofort wand er sich von mir ab und vertiefte sich in ein Gespräch mit Katharina-Magdalena, die wir alle nur Katha nennen sollten. Das war ja wohl die Höhe. Also wenn diese Frau sich erdreisten sollte mich Friedi zu nennen, dann war die Hölle los. Es war erstaunlich, wie wenig Zeit sie gebraucht hatte, um alle um den Finger zu wickeln. Alle waren begeistert von ihr. Karl konnte gar nicht mehr aufhören mit ihr zureden und auch meine Eltern hingen an ihren Lippen. Anna und Steffan waren mit sich beschäftigt. Michi, Leni und Bobby spielten in der Kinderspielecke und achteten gar nicht auf uns. Sie hatten bereits neue Freunde gefunden. Der einzige, der mich beachtete, war Bernd. „Und Friedi, wie ist es so im Rollstuhl zu sitzen?“ Skeptisch schaute ich ihn an und überlegte, ob er die Frage jetzt ernst meinte oder ob er mich nur ärgern wollte. Ich entschied mich dafür, dass er es ernst meinte und antwortete wahrheitsgemäß: „Anstrengend und nicht gerade angenehm.“ „So schlimm?“ „Nein Bernd, viel schlimmer, als du dir denken kannst. Ich bin froh, wenn ich endlich wieder richtig laufen kann und nicht mehr hier drin fest sitze. Das ist grausam. Ich will nicht. Ich kann das nicht.“ „Was? Was kannst du nicht? Friedi schau mich an!“ Als ich seiner Aufforderung nicht nachkam, legte er vorsichtig unter mein Kinn und drückte meinen Kopf sanft nach oben. „Friedi…“, wie vorsichtig er meinen Namen aussprach. Oder bildete ich mir das nur ein? „Lass uns mal an die frische Luft gehen!“ Ohne dass ich mich wehren konnte, schob er mich nach draußen. Es roch draußen angenehm nach Regen. Wahrscheinlich würde es jeden Moment regnen, obwohl…der Himmel war wolkenlos und von einem klaren Blau. Ich atmete tief ein. „So und jetzt erzähl mal! Was ist wirklich los? Ich merk doch, dass irgendwas los ist!“ Ach ja? Und was merkte er noch? Wie weit konnte ich gehen? „Hm, naja ist halt alles nicht so rosig im Moment. Aber ansonsten geht es mir super!“ Ich versuchte zu lächeln, was mir leider missglückte, aber so richtig. Man, warum gibt es Leute, die sehen, was mit einem los ist und warum muss ich wie ein offenes Buch sein? Bernd schaut mich durchdringend an. „Das soll ich dir jetzt glauben?“ „Soll? Du sollst überhaupt nichts. Tu dir bitte keinen Zwang an, denn das erleichtert das Leben. Dennoch ist es dir überlassen, ob du es mir glaubst oder nicht. Ich weiß ja nicht, wie sehr du mir vertraust. Also entscheide selbst, aber so, dass du deine Entscheidung hinterher nicht bereust. Ich will dir aber auch gar nicht reinreden und deshalb halt ich jetzt den Mund.“ Ich atmete tief durch. Was hatte ich gerade nur für einen Quatsch erzählt? Da war es ja wohl offensichtlich, dass es mir nicht gut geht. Aber konnte ich es ändern? Nein. Geschehen ist geschehen und das konnte ich leider nicht wieder rückgängig machen. „Friedi? Alles klar? Ist schon ok. Ich wollte dir nicht zu nahe kommen. Am besten lasse ich dich jetzt alleine.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zurück ins Café. Na das hatte ich ja echt wieder super hinbekommen. Wütend über mich selbst rollte ich in den Stadtpark. Doch leider war das die schlechteste Entscheidung, die ich an diesem Tag getroffen hatte. Denn wer saß eng umschlungen auf der Bank am See? Niemand anders als Julia und Felix. Ich hatte nur flüchtig hingeguckt und dachte erst, dass ich mich nur verguckt hatte. Doch zur Sicherheit schaute ich nochmal hin. Zu meiner Enttäuschung waren es wirklich Julia und Felix. Vor Erstaunen und Ãœberraschung fiel mir die Kinnlande runter. Ich beeilte mich, mich zu ihnen zu gesellen. „Hey Julia. Felix.“ Die Bank stand ziemlich nah am Wasser, ich fuhr ziemlich schnell und so reichte ein kleiner Stein, um mich ins Wasser zu befördern. Peinlich berührt saß ich hilflos bis zum Hals im Wasser. Julia und Felix schauten mich an, als wäre ich verrückt. Verlegen grinste ich die beiden an und fragte: „Könntet…könntet ihr mir vielleicht hier raus helfen? Bitte?“ Felix sprang sofort auf. Anscheinend war doch nicht so verliebt in Julia, denn er beachtete sie gar nicht mehr, sondern half mir aus dem Wasser, wieder in den Rollstuhl und dann schob er mich zurück ins Krankenhaus mit dem Vorwand, dass ich mich sonst noch erkälten würde in den nassen Sachen. Ich wieder sprach, da es ja schließlich bereits Frühling war und ich nicht wollte, dass Julia wieder sauer auf mich wird. Doch Felix ließ sich nicht abbringen. Ich gab auf und hoffte, dass es mir Julia nicht übelnehmen würde.

Wieder im Krankenhaus sah mich zuerst die böse Krankenschwester. Naja, eigentlich war sie gar nicht so böse, aber ich erinnerte mich noch immer an den Abend an dem ich meine Allergische Reaktion auf den Tee hatte. „Ach Gott, Kind! Wie sehen Sie denn aus? Sie sind ja ganz nass. Sie müssen dich sofort umziehen! Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Ohne Felix eines weiteren Blickes zu würdigen begleitete sie mich auf mein Zimmer. Doch vorher wickelte sie mich noch in die dickste Decke, die sie finden konnte. Allerdings war es viel zu warm und so wurde mir sehr schnell warm. Leider bestand sie darauf, dass ich in der Decke eingewickelt blieb und so trocknete meine Kleidung bereits auf dem Weg in mein Zimmer. Leider rochen sie dadurch auch nicht so gut, so dass ich mich doch noch umziehen musste. Sobald ich meine Sachen gewechselt hatte, steckte mich die Schwester ins Bett. Ich konnte es kaum glauben. Draußen war das wunderschönste Wetter, Felix machte sich an meine Schwester ran und ich konnte nichts tun, weil ich schlafen sollte! Das war eindeutig zu viel des Guten. Zum Glück hatte ich ein Zimmer, das ganz in der Nähe der Notausgangstür war. Doch ich konnte mich nicht ohne Rollstuhl fortbewegen. Das Problem: Es gab keinen in meiner Nähe. So musste ich wohl oder übel doch im Bett bleiben.

Die Tage vergingen. Ich traf mich jeden Tag mit Max. Schon nach wenigen Wochen bekam ich meinen Gips am Arm ab, so dass ich problemlos auf Krücken gehen konnte, denn irgendwie wollte der Bruch des Beines nicht heilen. Auch Max musste zu meinem Glück noch ein wenig dableiben, obwohl es ihm schon wieder richtig gut ging. Ich wurde auf ein Zwei-Bett-Zimmer verlegt. Meine Mitbewohnerin, Luisa-Marie-Katharina Stoch, hatte einen Reitunfall und ebenfalls ein gebrochenes Bein. Wir gingen oft im Park spazieren, machten auch Wettrennen auf Krücken und erzählten uns alles. Kurz gesagt: Wir wurden richtig gute Freundinnen. Schließlich erzählte ich ihr von der Sache mit Felix. Sie fand sein Verhalten auch mies. Zusammen mit Anna überlegten wir, wie wir den Plan in die Tat umsetzen konnten. Endlich war es dann soweit: Ich wurde entlassen, da der Bruch endlich fast vollständig verheilt war. Doch ich musste zweimal die Woche zur Krankengymnastik, um mich langsam wieder an das Laufen zu gewöhnen. Ich lernte auch, wie ich das Bein nicht überbelastete. Luisa musste leider noch länger bleiben,  aber ich besuchte sie oft im Krankenhaus. Als sie endlich entlassen wurde, trafen wir uns noch wöchentlich. Wir erzählten uns alles. Es gab aber auch reichlich zu erzählen, denn Julia und Felix waren bereits seit einiger Zeit zusammen. Er schien es diesmal ernst zu meinen. Zumindest ernster als mit den anderen Mädchen. Bei Max und mir war leider nicht alles ok. Es waren Kleinigkeiten, die den anderen störten, aber sie waren da. Mit jedem Streit entfernten wir uns weiter voneinander. Am Ende plauderten wir ausschließlich über belanglose Dinge, so dass es erst gar nicht zu einem Streit kommen konnte. Mich plagten Zweifel, ob es wirklich noch sinnvoll war zusammen zu sein. Aber vor allem, ob ich ihn noch liebte. Ich hielt es kaum noch aus. Schließlich beendete ich unsere Beziehung. Doch es ging mir nicht unbedingt besser. Die Schule hatte begonnen, Karl war nicht mehr zu Hause, Julia schäumte über vor Freude und Max sah ehrlichgesagt richtig scheiße aus. Er hatte Augenringe, passte im Unterricht nicht richtig auf und verschlechterte sich. Mir ging es auch nicht gerade viel besser. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und fuhr zu ihm nach Hause. Ich zögerte doch schließlich klingelte ich doch. Nach einiger Zeit öffnete mir Max die Tür. Eine Weile standen wir unschlüssig und schweigend da, dann fragte ich: „Könnte ich eventuell reinkommen?“ „Nein!“ Mit diesen vier Buchstaben knallte er die Tür wieder zu. Wow! Ich hätte nie gedacht, dass er so reagieren würde. Ich blieb völlig perplex vor der Tür stehen. Ich konnte es nicht glauben. Nach ungefähr drei Minuten völliger Reglosigkeit drehte ich mich langsam um und ging weg. Ich bekam nichts mehr mit. Die Außenwelt existierte nicht mehr für mich. Ich bekam nicht mit wohin ich ging und auch nicht, dass ich anfing zu weinen. Aus irgendeinem Reflex machte ich mich auf den Weg zu Bernd. Wahrscheinlich weil er in dem Moment den fehlenden großen Bruder ersetzte. Er war allein zu Hause und ich erzählte ihm alles. Auch er erzählte viel. Ich erfuhr, dass er mit Katha zusammen war. Er riet mir Max noch nicht aufzugeben und so versuchte ich wieder und wieder mit ihm ein Gespräch anzufangen. Doch es half alles nichts. Er blieb mit gegenüber schweigsam, wobei er bei jedem „nein“ immer mehr zusammensackte. Zumindest verlor es immer mehr an Schroffheit, dennoch versiegte es nicht. Schließlich gab ich es ganz auf, was ihn aber auch irgendwie zu verletzen schien, aber ich konnte einfach nicht mehr. Von jetzt an sollte er auf mich zukommen, wenn ich ihm irgendwas bedeuten sollte. Doch der Tag kam nie. Wir begegneten uns wie zwei Fremde. Es schien mir irgendwie irreal, da wir doch so glücklich waren, aber es schien halt doch eine falsche Liebe gewesen zu sein. Auf jeden Fall nicht die große Liebe.

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