Kapitel 16
„Aljoscha!“ Ich lief aufgeregt zu ihm und warf mich in seine Arme.
„Ich habe dich so sehr vermisst, Lilly.“ Er drückte mich etwas von sich und strich mir zärtlich über die Wange.
„Ich dich auch.“ Gerade beugte er sich zu mir, um mich zu küssen, als Christoph angerannt kam und mich von ihm riss.
„Sie gehört mir“, zischte er Alexej wütend an und zog mich weg von ihm.
„Nein, ich gehöre zu Alexej!“ Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt mich weiter fest. „Aljoscha, hilf mir!“
Doch er stand nur da und lächelte mich traurig an. Ich entfernte mich immer weiter von ihm, war jedoch nicht dazu fähig, mich von Christoph zu lösen. Alexejs Gestalt wurde immer kleiner, bis sie schließlich im Schatten des Baumes verschwand. Ich wehrte mich verzweifelt gegen Christoph, aber er war zu stark. Plötzlich ließ er mich jedoch los und stieß mich zu Boden.
„Du hast es schon wieder getan“, sagte er kühl.
„Was? Aber…“ Verängstigt wich ich zurück.
Er folgte mir langsam und kniete sich vor mich. „Du hast mich schon wieder mit diesem Penner betrogen“, hauchte er mir bedrohlich ins Ohr.
Erschrocken riss ich die Augen auf. „Aber ich…“
„Tu nicht so, als hättest du es nicht getan!“ Er schlug mir mit der Faust in den Bauch und stieß mich gegen den Brunnen. „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!“
„Nein, ich… Alexej ist gar nicht hier… Er ist nie hier gewesen!“
„Und wie erklärst du dann das hier?“ Sein Finger wanderte langsam von meiner Brust zu meinem Bauch, der deutlich gerundet war. „Wie rechtfertigst du dann, dass du sein Kind in dir trägst?“
Verwirrt sprang ich auf und sah mich um. Überall um mich liefen unsere Mitschüler, die missbilligend auf mich herabsahen, mich herumschubsten und gegeneinander stießen. Sie tuschelten aufgeregt, starrten auf meinen Bauch und liefen schließlich weiter, als würde ich nicht existieren.
„Eve?“
„Ich glaube, sie wird wach.“
Ich öffnete langsam die Augen und sah Christoph und den Schularzt neben mir.
„Anscheinend geht es ihr wieder besser. Ich werde später noch einmal für einige Untersuchungen vorbei kommen.“ Der Arzt stand auf und verließ das Krankenzimmer.
„Hey Süße…“ Christoph wollte meine Hand nehmen, doch ich wich verärgert zurück.
„Lass mich in Ruhe.“
„Habe ich dir etwas getan?“, fragte er verwirrt, doch ich antwortete ihm nicht. Ich hatte keine Lust, mich wieder in irgendetwas hineinzusteigern. „Eve, was ist denn?“
„Du fragst wirklich, was los ist? Die ganze Zeit habe ich alleine rumgesessen, habe ein schlechtes Gewissen wegen dir gehabt, und jetzt tust du auf einmal so, als wäre nichts passiert!“
„Du hast versuchst dich umzubringen, meinst du, ich würde dich jetzt alleine lassen?“
„Als ich dich am meisten gebraucht habe, hast du es genauso getan, sonst wäre der ganze Mist gar nicht erst passiert!“ Ich stand langsam auf und ging in Richtung Tür. Mir war zwar immer noch etwas schwindlig, doch ich musste hier weg. Ich musste weg von Christoph und seinen verdammten Ausreden.
„Eve, es tut mir Leid, aber was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe?“
„Sicher nicht so mies wie ich, du hattest ja anscheinend jede Menge Spaß mit Celina, während du so viel für die Schule zu erledigen hattest“, blaffte ich ihn an.
„Warte… bleib hier. Du kannst nicht gehen.“
„Ach, willst du mich etwa aufhalten?“ Vom Schultor aus kam ein großer, schwarzer SUV angefahren, der mit einem lauten Quietschen zum Stehen kam. „Wer ist das?“
„Niemand“, antwortete er schnell. „Bitte bleib hier.“
„Nein. Ich gehe nach unten.“
„Eve, warte!“ Er packte mich am Arm und zog mich zurück, doch ich entwand mich seinem Griff und ging hinaus auf den Flur. „Du kannst nicht runter gehen!“
„Und wieso nicht?“ Ich drehte mich noch einmal zu ihm um.
„Weil er nicht gut für dich ist“, sagte er leise.
Ich riss erschrocken die Augen auf und stürzte die Treppen hinunter. Nein, er konnte es nicht sein. Sie konnten ihn nicht wieder hierher gebracht haben, sie würden ihn niemals wieder in meine Nähe lassen…
Eilig öffnete ich die Tür und rannte auf den Schulhof.
Das konnte einfach nicht wahr sein…
Ich starrte entgeistert zu ihm, unfähig dazu, mich irgendwie zu rühren. Ich wusste nicht, wie ich reagieren oder was ich sagen sollte, jetzt, wo Alexej wieder vor mir stand. Er stand einfach nur da, sah mich an und lächelte, als wäre nie etwas geschehen. Auf einmal stiegen mir Tränen in die Augen und rasten meine Wange hinunter. Ich konnte sie nicht unterdrücken, stattdessen rannte ich wütend auf Alexej zu. „Warum hast du das alles getan?“, schrie ich ihn an. „Wieso hast du mich einfach allein gelassen?“
„Weil ich musste“, sagte er leise.
„Ich habe dich geliebt, du Idiot!“
„Ich weiß.“ Er breitete die Arme aus und drückte mich fest an sich, während ich mich gegen seine Brust warf und mit den Fäusten gegen ihn trommelte.
„Warum hast du mich einfach im Stich gelassen“, schluchzte ich laut und krallte mich in sein Shirt.
„Es tut mir Leid, Lilly.“ Er beugte sich zu mir herunter und küsste mich, so, wie er es immer in meinen Träumen tat.
„Bitte lass mich nie wieder allein…“ Ich drückte mich ein wenig von ihm, um ihm besser in die Augen sehen zu können. Wie sehr hatte ich mich danach gesehnt, ihn endlich wieder in die Arme zu nehmen und zu küssen…
„Keine Sorge, das werde ich nicht.“ Er zog mich wieder an sich und fuhr mir vorsichtig mit der Hand durch die Haare.
„Warum bist du eigentlich wieder hier?“, fragte ich leise, als wir zusammen in meinem Bett lagen.
„Zanolla hat mich angerufen, nachdem Nathan dich hier gefunden hat.“
„Oh… Nathan hat mich gefunden?“
„Ja, anscheinend eine Stunde danach…“ Er nahm meine Hand und sah mir tief in die Augen. „Bitte, tu so etwas nie wieder“, sagte er traurig.
„Ich habe keinen Grund mehr dazu, jetzt, wo du wieder bei mir bist.“ Ich lächelte ihn vorsichtig an und zog ihn zu mir herunter, sodass ich ihn küssen konnte. „Weißt du… möglicherweise haben uns vorhin alle gesehen, als wir auf dem Schulhof waren…“
„Möglicherweise, ja. Wir müssen sowieso nach Brest zu deinem Vater, damit er mich wieder als deinen Hüter einstellt.“
„Muss das wirklich sein?“
„Du brauchst doch jemanden, der auf dich aufpasst.“
„Aber… so könnten wir zusammen sein…“
„Wenn ich nicht an der Schule angestellt bin, muss ich zurück aufs Festland, Lilly…“
„Verdammt.“ Ich drehte mich von ihm weg, nahm mir eine Zigarette und schaltete den Fernseher ein.
„Hast du immer noch nicht damit aufgehört?“
„Zwischendurch irgendwann, ja. Bis Christoph mich hat hängen lassen.“
„Wieso das?“
„Naja, wir waren zusammen, und irgendwann hat er lieber irgendwelches Schulzeug mit Celina gemacht anstatt Zeit mit mir zu verbringen.“
„Und deswegen hast du auch mit dem Ritzen angefangen… oder?“
„Nein, damit habe ich angefangen, weil ich dich zu sehr vermisst habe… Weißt du, am Anfang war alles so unwirklich… Ich konnte nicht glauben, dass du weg bist, und jetzt kommt es mir so seltsam vor, dass du wieder neben mir liegst… Es fühlt sich immer noch so an, als wäre alles nur ein Traum…“
„Das ist es aber nicht.“ Er drückte mich enger an sich und küsste mich vorsichtig am Hals.
„Das hoffe ich…“ Ich zerdrückte langsam meine Zigarette im Aschenbecher und schloss die Augen. Alexej war wirklich wieder hier, er lag neben mir, hielt meine Hand und küsste mich, so, wie früher immer… „Warum hast du eigentlich mit Natalja geschlafen?“, platzte es aus mir heraus.
„Was?“, fragte er überrascht. Er richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Weißt du, ich… ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was in dem Moment mit mir los war… Sie stand auf einmal da, und… ich hatte mir anscheinend so sehr gewünscht, endlich einmal mit dir zu schlafen, dass ich…“ Er verzichtete darauf, seinen Satz zu beenden, und ließ sich wieder neben mir auf die Matratze fallen.
Für den Rest des Abends schwieg ich, und ich war erleichtert darüber, dass Alexej mich auch in Ruhe ließ, bis ich einschlief.
Ich war unendlich froh darüber, ihn wieder bei mir zu haben, doch jetzt, wo ich ihm wieder ins Gesicht sehen konnte, musste ich immer an die Nacht denken, in der ich ihn mit Natalja erwischt hatte. Wie er sie geküsst und berührt hatte, so wie er es auch heute wieder bei mir getan hätte. Es verletzte mich immer noch, auch, wenn ich es nicht richtig zugeben wollte, doch diese Erinnerung würde sicher noch eine Ewigkeit auf mir und unserer Beziehung lasten.
Obwohl mein Wecker am nächsten Morgen nicht klingelte, stand ich pünktlich um vier Uhr auf und verließ das Zimmer, um ein wenig joggen zu gehen.
Mittlerweile war es sehr kalt in Fortezza, sodass ich mich dazu durchringen musste, einige Runden zu laufen. Dazu kam auch noch, dass es alleine furchtbar langweilig war, doch ich hatte erst mal keine Lust mit Alexej zu reden, da ich immer noch über ihn und Natalja nachdenken musste. Als er nicht bei mir war, musste ich ständig an ihn denken, habe mir so sehr gewünscht, dass er zu mir zurückkehrt, und jetzt konnte ich einfach nicht aufhören, an die beiden zu denken. Ich sah ständig vor Augen, wie sie zusammen im Bad standen und sich küssten, dieses Bild ging einfach nicht aus meinem Kopf heraus…
„Hey, Evi…“
Ich hielt erschrocken an und drehte mich um. „Nathan, was…“
„Ich reise heute ab.“ Er lächelte mich zögernd an und warf einen Koffer in seinen Wagen.
„Was? Aber wieso…“
„Ich habe hier alle Geschäfte erledigt, und… du brauchst mich ja auch nicht mehr.“
„Nat, du kannst nicht einfach gehen…“ Ich stellte mich vor ihn und nahm seine Hand.
„Du scheinst doch jetzt, wo Nowakow zurück ist, wieder glücklich zu sein.“
„Anscheinend glücklicher als du denkst, ja.“ Ich zog ihn auf eine der Bänke und setzte mich. „Weißt du… Ich habe dir doch erzählt, was damals in Nam-Bay passiert ist…“, sagte ich leise.
„Mit Nowakow und dieser Natalja?“
„Genau das… Sobald ich die Augen schließe, sehe ich die beiden vor mir… Es widert mich an, dass er sie damals genauso behandelt hat wie mich immer, und… sobald er mich küsst, wünschte ich, er wäre wieder auf dem Festland… Ich kann so einfach nicht mit ihm zusammen sein.“ Ich drehte leicht den Kopf zu Nathan und war selber überrascht, als er mir die erste Träne von der Wange wischte.
„Hast du mit ihm schon darüber geredet?“
„Nein, ich habe nur gefragt, warum er es überhaupt getan hat. Keine Ahnung, wie ich das nun verstehen sollte, aber anscheinend hat er sich irgendwie vorgestellt dass ich Natalja wäre oder so, weil er mit mir ja auch schlafen wollte.“
„Dir ist schon klar, dass das nur nach einer dämlichen Ausrede klingt, oder?“
„Ja“, sagte ich lächelnd und starrte wieder auf den Boden. „Aber irgendwie gefällt mir das besser als wenn er sagen würde, dass er einfach auf Natalja scharf war.“
„Wer weiß, was er in eurer Beziehung noch so anstellt.“
„Da lass ich mich lieber überraschen.“
„Warum hast du mich nicht geweckt?“ Alexej ließ sich neben mir auf die Bank fallen und legte einen Arm um meine Schulter.
„Weil ich erst mal alleine sein wollte“, antwortete ich leise.
„Naja, also… Ich werde dich sicher mal besuchen kommen“, sagte Nathan schnell und sprang auf. „Wir sehen uns, Evi.“
„Ja, bis… bis irgendwann mal.“ Er gab mir noch einen Kuss auf die Wange und verschwand schließlich in seinem Wagen.
„Über was habt ihr euch denn so unterhalten?“, fragte Alexej schließlich.
„Ach, nichts Besonderes, weißt du…“ Ich drehte leicht den Kopf von ihm weg und versuchte, an irgendetwas außer ihn und Natalja zu denken.
„Ist irgendwas?“
„Nein, überhaupt nicht.“ Ich stand auf und ging zurück zum Wohngebäude, ohne ihn noch einmal anzusehen. „Wir sehen uns ja dann bei mir im Zimmer“, rief ich ihm noch zu.
Als ich in meinem Zimmer ankam, fand ich auch gleich die passende Ablenkung. Die Sachen aus meinem Kleiderschrank waren alle ordentlich in einige Koffer gepackt worden, genauso wie der restliche wichtige Kram, zum Beispiel das Bild von mir und Alexej, wofür ich vor einiger Zeit einen neuen Rahmen besorgt hatte. Ich lief vorsichtig um die Koffer und ließ mich auf mein Bett fallen.
Keine Ahnung, was hier schon wieder los war, doch es würde mir sicher nicht gefallen. Aber sobald Alexej hier war, würde er mich sicher aufklären.
Also nahm ich mir mal wieder eine Zigarette, schaltete den Fernseher ein und zappte durch das gesamte Programm.
„Lilly, wach auf.“ Alexej stand wie immer neben mir und rüttelte an mir rum.
„Was ist denn los?“ Ich richtete mich langsam auf und sah mich um. Rings um das Bett lagen einige Bierflaschen, die ich anscheinend noch geleert hatte, bevor ich eingeschlafen war. Wenigstens wusste ich jetzt, woher diese verdammten Kopfschmerzen wieder kamen. „Oh.“
„Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“
„Muss ich mich jetzt etwa vor dir rechtfertigen, nur weil ich mal was trinke?“
„Ich habe genug darüber gehört, wie du dich verhalten hast, als ich nicht da war, und so kann es nicht weitergehen.“
„Wie ich mich verhalte ist ja wohl mein Problem“, zischte ich ihn an. „Du bist nicht mein Vater, der mir jeden Scheiß vorschreiben kann!“
„Das nicht, aber ich bin dein Freund und würde mir wünschen, dass du auch meine Meinung respektierst.“
„Seit wann sind wir denn wieder zusammen?“, fragte ich kühl.
Er sah mich jedoch nur verwirrt an. „Lilly, ich dachte…“
„Ist meine Meinung etwa unwichtig?“
Anscheinend konnte er nicht richtig glauben, dass ich nicht mit ihm zusammen sein wollte. Zögernd setzte er sich neben mich und nahm meine Hand. „Aber… Was ist denn auf einmal los, ist es wegen Nathan? Oder hast du Christoph getroffen, und…“
„Es hat nichts mit den beiden zu tun.“ Ich wandte den Blick von ihm ab und unterdrückte einige Tränen. „Es… es liegt nur an mir“, sagte ich leise.
„Habe ich irgendwas falsch gemacht? Ich wollte nichts überstürzen, ich habe nur gedacht dass…“
„Alexej…es ist nicht wegen dir…“
„Und warum siehst du mich dann nicht an?“, fragte er zögernd.
Ich drehte leicht den Kopf zu ihm und lächelte, brachte es jedoch nicht übers Herz, ihm direkt in die Augen zu sehen. Vor einer Woche wäre ich dafür gestorben, ihn wieder bei mir zu haben, doch seit unserem Wiedersehen war alles so anders…
„Lilly, rede doch mit mir…“
„Ich kann einfach nicht…“
„Was?“
„Ich kann so nicht mit dir zusammen sein, verdammt!“, schrie ich ihn an. „Ich kann nicht mit dir zusammen sein wenn ich ständig daran denken muss, wie du mit ihr geschlafen hast…“ Ich sah ihn verzweifelt an und wischte mir einige Tränen von der Wange. „Ich muss ständig daran denken, ständig habe ich dieses Bild vor Augen, ich werde es einfach nicht mehr los…“
Er wollte noch näher an mich rücken, doch ich wich ihm aus. „Wie soll ich dir helfen, wenn du mich nicht an dich ranlässt?“
„Lass… lass mir einfach Zeit… damit ich sehe, dass du denselben Fehler nicht noch öfter machen wirst…“
„Lilly, ich werde dich ganz sicher nicht noch einmal betrügen…“
„Schon okay. Also… ich nehme an, wir fahren zu meinem Vater, was…“
„Ja, morgen früh geht’s los.“
„Okay, also… ich werde noch einmal zu Pater Paolo gehen…“ Ich sprang eilig auf und verließ das Zimmer, ohne auf Alexejs Reaktion zu warten.
Als ich die Tür des Wohngebäudes öffnete und auf das Schulgelände hinaustrat, schlug mir sofort der kühle Wind entgegen. Ich schlang die Arme eng um meinen Körper und machte mich auf den Weg zur Kirche, die fast am anderen Ende des Geländes stand.
„Oh, hallo Eveline, was machen Sie denn so spät noch hier? Es ist fast sechs Uhr.“ Pater Paolo stand gerade vor der Kirche und wollte die Tür abschließen.
„Ich hatte einfach nichts zu tun und wollte noch ein wenig die Ruhe genießen…“
„Nun, was halten Sie davon, wenn wir noch einen Kaffee trinken und dann wieder auf unsere Zimmer gehen?“
„Ja klar, gerne.“ Ich lächelte ihn an und folgte ihm in sein Büro. Es war viel größer, als ich gedacht hatte und sehr liebevoll eingerichtet. Es gab eine große Couch, einen Sessel, einen Kamin, etliche gepolsterte Stühle und –was wohl am wichtigsten war- einen riesigen Schreibtisch, der in der hinteren Ecke des Zimmers stand. Die Wände waren mit etlichen Fotos und Portraits verziert, deren Farbe schon etwas ausgeblichen war. Noch dazu stand gleich neben der Tür eine kleine Einbauküche inklusive Kaffeemaschine.
„Setzen Sie sich ruhig.“ Er legte zwei Pads in die Maschine, stellte die Tassen darunter und setzte sich schließlich neben mir auf die Couch. „Hier, Ihr Kaffee.“
„Danke. Und… war heute Morgen jemand zum Gottesdienst hier?“
„Ja, einige Ihrer Klassenkameraden waren da. Die meisten haben sich ordentlich verhalten, doch einige haben es auch etwas übertrieben und angefangen, sich über die Statue der Heiligen Maria lustig zu machen, sodass ich sie der Kirche verweisen musste…“
„Oh, das tut mir Leid, ich wusste nicht, dass einige von ihnen sich so schrecklich verhalten würden.“
Der Pater lächelte mich freundlich an und nahm einen Schluck von dem Kaffee. „Das ist doch nicht Ihre Schuld, Eveline. Nun, ich habe gesehen, dass Ihr Freund wieder an der Schule ist, richtig?“
„Ja, also… eigentlich ist er ja gar nicht mein Freund.“
„Eveline, ich habe Sie gestern gesehen, als er wieder hier angekommen ist, und so eine Begrüßung geht weit über Freundschaft hinaus.“
„Möglicherweise, ja…“ Ich zog die Beine an den Körper und trank meinen Kaffee. „Wissen Sie, es ist einfach alles viel zu kompliziert, als dass wir einfach zusammen sein könnten.“
„Wegen Ihrem Alter?“
„Nicht nur das, naja… Es ist einiges zwischen uns vorgefallen, und nun kann ich ihm einfach nicht mehr Vertrauen. Bis gestern war noch alles in Ordnung, und nun hat sich auf einmal alles geändert…“
„Wissen Sie, manchmal ist es einfach besser, sich Zeit für sich zu nehmen. Auch, wenn es Ihnen jetzt noch schwer fällt, da er gerade erst hier angekommen ist.“
„Das sowieso, ja… aber ich glaube, es würde mir leichter fallen, als ständig bei ihm zu sein und ihm in die Augen sehen zu müssen.“
„Sie werden das schon regeln.“ Er nahm meine Tasse und stellte sie zum restlichen Geschirr in die Spülmaschine. „Ich hoffe, wir sehen uns nächste Woche zum Gottesdienst wieder.“
„Ja, ganz bestimmt“, sagte ich erfreut und verließ die Kirche.
Es war zwar leicht gesagt, Alexej aus dem Weg zu gehen, doch wie sollte ich das bitte machen, wenn er ständig um mich herumschlich und wir nun zusammen nach Brest fuhren?
„Da bist du ja!“ Alexej kam auf mich zu gerannt und zog mich in Richtung Schultor.
„Was ist denn los?“
„Einige der Hüter haben Sukkuben auf dem Festland gesehen, wir müssen also sofort los, damit wir noch rechtzeitig den Zug erreichen.“
„Wir fahren mit dem Zug?“
„Mit dem Auto wäre es bis nach Brest zu gefährlich. Komm, hier lang.“ Er lief mit mir hinunter zum Bootssteg und schubste mich auf eine der Bänke im Boot. Sofort startete er den Motor und fuhr in Richtung Festland.
„Aber… was machen sie eigentlich auf dem Festland? Ist das nicht…“
„Ja, es ist verboten, doch die Regeln werden ihnen anscheinend zu langweilig.“
„Und die anderen Hüter kümmern sich sicher darum, oder?“
„Das schon, aber es kann trotzdem sein, dass es immer mehr von ihnen werden. Genau deswegen haben wir es ja so eilig.“
Ich sah ihn entsetzt an und hielt am Himmel Ausschau nach den Sukkuben, konnte jedoch keine entdecken. Die Sonne war erst untergegangen und spendete gerade noch genug Licht, um die Wesen im Zaum zu halten.
Nach quälenden zwanzig Minuten erreichten wir schließlich die Küste und stiegen in einen kleinen Honda ein, der dort bereits wartete. Der Hüter, anscheinend war sein Name Roberto, fuhr sofort los. Diesmal dauerte die Fahrt jedoch nicht so lange, sodass wir bereits nach zehn Minuten am Bahnhof ankamen und uns einen Abteil mit Bett sicherten. Wir bedankten uns noch einmal bei Roberto und machten es uns schließlich auf dem Bett bequem. Durch die ganze Aufregung hatte ich mein Problem mit Alexej ganz vergessen, wodurch ich mich auch jetzt lieber an ihn schmiegte, anstatt auf Abstand zu gehen. Dafür hatte ich erst einmal viel zu viel Angst vor den Sukkuben.
Die erste Zeit saßen wir schweigend auf dem Bett und starrten nur auf irgendeine italienische Talkshow, die gerade lief, bis Alexej schließlich das Wort ergriff.
„Warst du eigentlich die ganze Zeit beim Pater?“
Ich sah kurz zu ihm auf und drückte mich enger an ihn. „Ja, wir haben Kaffee getrunken und… geredet…“
„Und über was?“, fragte er neugierig.
„Ach, nichts Wichtiges, weißt du…“ Ich ließ mich auf die Matratze fallen und zog Alexej neben mich.
„Ihr habt wieder über mich geredet, oder“, sagte er leise.
„Ja…“, flüsterte ich und drehte mich leicht zu ihm. „Alexej, ich…“
„Hör auf, mich so zu nennen.“ Er sah mich traurig an und nahm meine Hand. „Lilly, nur wegen diesem Fehler kannst du nicht so tun, als würdest du mich nicht lieben. Ich weiß, dass du genauso fühlst wie ich, also bitte hör endlich auf damit…“
„Es hat nichts damit zu tun, ob ich dich liebe oder nicht, es geht einfach darum, dass ich dir nicht vertrauen kann…“
„Weißt du… Lassen wir das Thema einfach…“ Er drückte fest meine Hand und wollte mich küssen, doch ich wich ihm aus, da ich jetzt überhaupt keine Lust darauf hatte, ihm noch näher zu kommen. Dass wir hier nebeneinander lagen, reichte mir erst einmal. „Vergiss es einfach.“ Ohne noch ein Wort zu sagen, drehte er sich von mir weg.
„Klar du Idiot, ich rede auch nicht mit jedem…“ Ich wandte mich zum Fernseher und spürte leicht, wie sich Alexejs Muskeln anspannten. Anscheinend hatte er wieder einen dieser Wutanfälle…
Ich schloss schnell die Augen und verdrängte die Gedanken an unseren letzten Streit. Nach einer Weile bekam ich nur noch mit, wie der Zug ruckartig anhielt, und fiel dennoch in einen unruhigen Schlaf.
„Wir wollen nicht, dass sich Hüter in diesem Zug befinden.“
„Es ist doch scheißegal, ob ich ein Hüter bin! Wir haben ein Recht darauf, in diesem verdammten Zug zu sitzen und wie alle anderen Fahrgäste nach Brest zu fahren!“
„Es tut mir Leid, aber Ihre Anwesenheit ist hier von keinem der Passagiere erwünscht.“
Nachdem ich einige Minuten zugehört hatte, öffnete ich langsam die Augen und sah mich um. Alexej saß hinter mir und hatte wieder diesen wütenden Gesichtsausdruck. Vor uns standen vier oder fünf Polizisten, die bereits eine Hand am Schlagstock hatten, um sich im Notfall zu verteidigen. Auch sie sahen nicht gerade begeistert aus.
„Was ist hier los?“, fragte ich leise, immer noch etwas benommen vom Schlaf.
„Wir müssen aussteigen“, sagte Alexej ernst und stand auf.
Erst jetzt fiel mir auf, dass die Polizisten mit einem leichten französischen Akzent gesprochen hatten.
„Sind wir schon da?“, fragte ich aufgeregt.
„Nein, noch nicht.“ Er packte einige Sachen in die Koffer, zog mich vom Bett und führte mich quer durch den Zug nach draußen.
„Aber… was ist denn los?“ Draußen war es immer noch stockfinster, und wir waren ganz sicher noch nicht in Brest. Ich sah mich kurz um und erkannte ein riesiges Schild, auf dem in großen Buchstaben „Willkommen in Frankreich“ stand.
„Die Polizisten haben uns rausgeworfen da es ihnen zu gefährlich war, einen Hüter im Zug zu haben. Angeblich würde das die Aufmerksamkeit der Sukkuben erregen.“ Er sah sich kurz in der kleinen Stadt um, in der wir gelandet waren, und steuerte auf einen Supermarkt zu.
„Was willst du denn dort?“
Anstatt zu antworten, zog Alexej einen Handschuh über, schlug durch die Fensterscheibe eines Autos und öffnete die Tür. „Los, steig ein.“
Sofort folgte ich seinem Befehl und ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder. „Müssen wir denn unbedingt ein Auto stehlen?“
„Willst du lieber nach Brest laufen?“ Er startete den Motor und fuhr auf die Hauptstraße, durch die wir auf die Autobahn und letztendlich auch nach Brest gelangten.
Die Fahrt dauerte praktisch ewig, und zwischendurch mussten wir ständig unsere Fahrzeuge wechseln, da anscheinend jemand sein Auto als gestohlen gemeldet hatte. Zwischendurch fuhren wir auch einige Strecken mit dem Bus, in einen Zug trauten wir uns jedoch nicht mehr. Auch für kurze Pausen hatten wir keine Zeit, da wir so schnell wie möglich zu meinem Vater wollten. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns hier Sukkuben begegneten, war zwar relativ gering, doch trotzdem wollte Alexej dieses Risiko nicht eingehen und ließ mich nur einmal für fünf Minuten alleine, damit ich auf Toilette gehen und mir etwas zu Essen holen konnte.
„In einer Stunde werden wir da sein“, erklärte Alexej nach einem Blick auf die Karte.
„Super. Und darf ich dann endlich mal fahren?“
„Du bist viel zu jung.“
„Na und? Du bist viel zu müde, außer der einen Stunde im Zug hast du doch sicher nicht geschlafen.“
„Das heißt nicht, dass ich nicht mehr fahren kann.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und stellte mich stur. „Warum sind wir eigentlich nicht gleich mit dem Flugzeug geflogen?“
„Weil wir nicht genügend Zeit hatten, um eines zu organisieren.“ Er sah kurz zu mir und lächelte mich an. „Mir wäre es auch lieber gewesen, anstatt hier ewig durch Frankreich zu gurken.“
„Komm schon, so schlimm ist es doch gar nicht. Und Brest ist wenigstens nicht so ein Nest wie Nam-Bay, in dem man absolut gar nichts unternehmen kann.“
„Du hast anscheinend gar keine Ahnung, wovon du redest“, sagte er lachend.
„Oh doch, das habe ich. In Nam-Bay gibt es kein einziges Kino, keine Läden, wo man shoppen gehen kann, und nur einen Supermarkt, wo einem auch nur irgendwelcher Billigkram angedreht wird."
„Dafür gibt es dort sehr viele nette Leute.“
„Ja, das habe ich gemerkt.“ Ich wandte mich zum Fenster und beobachtete, wie die Bäume an uns vorbeirauschten.
Alexej seufzte nur und konzentrierte sich schließlich wieder auf die Straße.
„Wir sind da.“
Ich setzte mich langsam auf und rieb mir die Augen. So mies wie heute hatte ich echt schon lange nicht mehr geschlafen.
Alexej sprang aus dem Wagen und schleppte unsere Koffer vor zur Eingangstür der riesigen Villa. Ich rannte ihm schnell hinterher und nahm ihm wenigstens einen meiner Koffer ab.
Nachdem wir geklingelt hatten, blieb im Haus zunächst alles ruhig. Schließlich kam eine der Angestellten zur Tür und begrüßte uns herzlich.
„Willkommen zurück, Miss Eveline! Bitte stellen Sie Ihr Gepäck hier ab, Stefano wird es gleich auf Ihr Zimmer bringen“, sagte Gillian, eine hübsche junge Frau, die nur einige Jahre älter als ich war.
„Vielen Dank, Gillian.“ Ich umarmte sie kurz und sah mich schließlich in der Eingangshalle um. „Sind Mum und Dad da?“
„Leider nein, Miss Eveline, sie sind noch auf einem Ausflug, da sie erst heute Abend mit Ihnen rechneten.“
„Oh, klar, natürlich. Wann sind sie denn mal nicht unterwegs.“ Ich schnappte mir einige Sachen aus meinem Koffer und ging rauf auf mein Zimmer, um mich umzuziehen. Alexej folgte mir vorsichtig, doch ich sah dass er eher damit beschäftigt war, Gillian begierig zu beobachten. Anscheinend würde unser Aufenthalt hier genauso enden wie in Nam-Bay.
Als ich schließlich in meinem Zimmer war, schloss ich sofort die Tür und drehte den Schlüssel herum, damit Alexej nicht mit hereinkommen konnte. Wenn er eher auf Gillian stand, sollte er halt bei ihr glotzen, und nicht bei mir.
„Lilly? Was ist denn jetzt schon wieder los?“ Er stand immer noch vor der Tür und klopfte zögernd an.
„Nichts, ich will mich nur umziehen.“
„Und da darf ich nicht dabei sein?“
„Nein, und ich habe auch erst mal keine Lust, weiter mit dir zu reden. Du kannst ja zu Gillian gehen, ich bin mir sicher, dass sie irgendeine Aufgabe für dich hat.“
„Weißt du, langsam frage ich mich, warum wir überhaupt noch hier sind. Ich hätte genauso gut auf dem Festland bleiben können“, sagte er leise.
„Ja, wahrscheinlich wäre es so besser gewesen.“ Ich zuckte zusammen, als er mit der Faust gegen die Tür schlug. Bei der Kraft, die er anscheinend wieder angewandt hatte wunderte ich mich, dass die Tür überhaupt noch ganz war.
„Was ist nur los mit dir, Lilly“, sagte er traurig. „Ich liebe dich, ich würde wirklich alles für dich tun…“
„Klar, und am liebsten starrst du andere Frauen an.“ Langsam ging ich zur Tür und schloss sie auf. Sofort kam Alexej hereingestürzt und packte mich am Arm, sodass ich ihm in die Augen sehen musste.
„Ich will nur dich, verstehst du das nicht?“
„Und warum hast du dann Gillian schon wieder so angestarrt?“, schrie ich ihn an. „Warum sagst du, dass du nur mich willst, wenn du ständig anderen Frauen hinterherschaust und sie angaffst, als würdest du gleich über sie herfallen?“
„Das hat doch gar nichts zu bedeuten… Wenn wir unterwegs sind siehst du genauso den Männern hinterher, habe ich mich darüber mal aufgeregt?“
„Nein, aber ich starre die auch nicht an, als würde ich sie am liebsten mit meinen Blicken ausziehen.“
Er trat einige Schritte zurück und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich glaube, das alles hat sowieso keinen Sinn mehr. Als ich in Fortezza angekommen bin habe ich gedacht, zwischen uns würde endlich alles gut werden, und jetzt kommst du mit deiner scheiß Eifersucht und machst wieder alles kaputt.“
„Dann versuch doch wenigstens etwas zu tun, damit ich überhaupt nicht eifersüchtig sein muss“, erwiderte ich, erschöpft von unserem Streit. „Ich habe einfach keine Lust mehr, dauernd mit dir zu diskutieren und mir wieder die Schuld für alles geben zu lassen.“
„Lilly, ich will mich doch auch nicht mit dir streiten…“ Er nahm meine Hand und zog mich fest an sich.
Ich sah vorsichtig zu ihm auf, traute mich jedoch nicht, etwas zu sagen. Auf einmal war Natalja vergessen, und ich hätte ewig mit ihm hier stehen können, so, wie er mich jetzt in den Armen hielt.
Alexej drückte mich leicht von sich, legte eine Hand in meinen Nacken und küsste mich zärtlich. Danach drängte er mich zu meinem Bett, warf mich darauf und schob langsam mein Oberteil nach oben, um mich am Bauch und an der Hüfte zu küssen.
„Eveline, kann ich reinkommen?“, fragte meine Mutter, die auf dem Flur stand.
Erschrocken sprang Alexej von mir und stellte sich neben das Bett.
„Ja, klar…“, stotterte ich und zupfte noch ein wenig an meinem Oberteil.
Schließlich kam meine Mutter herein und sah sich aufmerksam im Zimmer um. „Du hast ja noch alles ganz gelassen“, sagte sie lächelnd.
„So lange sind wir ja noch nicht hier. Mum, das ist Alexej.“ Ich nahm seine Hand und zog ihn neben mich.
„Sie sind also der Mann, wegen dem Evelines Vater sich immer wieder aufs Neue aufregt, ja?“
„Anscheinend schon. Es freut mich, Sie kennenzulernen.“
„Mich ebenfalls. Nun, warum seid ihr eigentlich hier?“
„Also… wir wollten eigentlich mit Dad reden und ihn fragen, ob er Alexej wieder einstellen kann.“
„Oh“, sagte sie überrascht und blickte zwischen uns beiden hin und her. „Ich bin mir nicht sicher, was er dazu sagen wird, aber erfreut wird er sicher nicht sein.“
„Wenn es nötig ist, werde ich mich für die Unannehmlichkeiten noch einmal bei ihm entschuldigen“, warf Alexej schnell ein.
„Ihnen scheint ja viel daran zu liegen, mit Eveline zusammenzuarbeiten.“
„Ja, er… passt ja auch immer gut auf mich auf“, sagte ich zögernd.
Meine Mutter beäugte Alexej kritisch und wandte sich schließlich wieder mir zu. „Dein Vater wird auch gleich hier ankommen. Ich werde ihm Bescheid sagen, dass er in seinem Büro auf euch warten soll.“ Sie verließ eilig das Zimmer und vergaß wieder einmal, die Tür zu schließen, sodass ich ihr schnell hinterher lief und sie schloss.
„Meinst du, er wird ja sagen?“, fragte ich leise.
„Warum sollte er mich nicht wieder einstellen?“
„Weil mein Vater dich hasst.“ Ich ließ mich auf mein Bett fallen und starrte an die weiße, mit bunten Sternen übersäte Decke.
„Dafür gibt es aber keinen, der dich besser beschützen kann als ich.“ Langsam kam er wieder zu mir und setzte sich neben mich. „Wir kriegen das schon hin.“
„Das hoffe ich, ja…“
Den restlichen Tag lagen wir nur noch in meinem Zimmer rum und versuchten, uns irgendwie am Rechner und mit dem Fernsehprogramm zu beschäftigen, bis wir am Abend schließlich zum Büro meines Vaters gingen.
Ich konnte nicht sagen, ob Alexej genauso aufgeregt war wie ich, doch auch er schien sich nicht sonderlich wohl zu fühlen. Kurz bevor wir in der Eingangshalle ankamen, ließ Alexej meine Hand los und zog mich für einen leidenschaftlichen Kuss an sich.
„Bitte warte draußen, ich möchte nicht, dass du deinem Vater gegenüber wieder unhöflich wirst.“
„Okay, also… bis gleich…“
„Ich liebe dich, Lilly“, flüsterte er mir ins Ohr, bevor er den Flur entlanglief und das Büro meines Vaters betrat. Ich sah ihm noch eine Weile sehnsüchtig hinterher, bis ich schließlich zurück auf mein Zimmer ging und einige Badesachen holte, die ich im Swimmingpool anziehen konnte.
Um den Pool im Hinterhof zu nutzen war es bereits zu kalt, sodass ich in unsere „Schwimmhalle“ ging, mich dort umzog und einige Bahnen schwamm.
Es war zwar nicht so schön, wie draußen zu schwimmen, doch im Moment musste ich mich mit der Halle zufriedengeben. Nach ungefähr einer Stunde hörte ich, wie jemand die Tür öffnete und eilig hereingestürmt kam.
„Lilly?“ Alexej trat langsam ans Becken und ließ sich in das kühle Wasser fallen.
„Hat er dich wieder eingestellt?“ Ich sprang vom 5m-Turm und schwamm schnell zu ihm an den Beckenrand.
„Ja. Er hat zwar eine Weile diskutiert, aber letztendlich war es ihm auch zu anstrengend, einen neuen Hüter für dich zu suchen.“ Er nahm mich fest in die Arme und beugte sich leicht zu mir herunter, um mich zu küssen.
„Weißt du… vielleicht wird jetzt ja doch noch alles gut…“ Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und griff vorsichtig nach seiner Hand.
„Hey, ihr habt ja sogar einen Whirlpool.“ Er lächelte mich an und zog mich auf die andere Seite der Halle, wo er mich vorsichtig in den Pool hob.
„Ja klar, mein Vater ist Milliardär, was hast du denn sonst erwartet?“, sagte ich lachend.
Alexejs Miene jedoch wurde ernst, als er sich neben mich setzte. „Weißt du eigentlich, wie sehr ich unseren ersten richtigen Kuss damals genossen habe?“, flüsterte er mir ins Ohr.
„Mir ging es genauso…“ Ich legte meine Arme um seinen Hals und küsste ihn. Danach zog er mich aus, legte sich auf mich, so wie im Schwimmbad in Venedig, als wir uns näher gekommen waren. Er warf sich mit mir in das Schwimmbecken, küsste mich weiter und streichelte mich an jeder Stelle meines Körpers. Schließlich hob er mich aus dem Becken und legte sich neben mich. Er sah mich genauso an wie damals, mit diesem bewundernden Blick und dem zufriedenen Lächeln, in das ich mich verliebt hatte. Vorsichtig beugte er sich zu mir herunter und küsste mich, während er sich auf mich legte und weiter streichelte.
„Ich liebe dich“, sagte er leise und küsste mich weiter am Hals.
„Ich dich auch, Aljoscha…“ Ich kratzte ihm mit meinen Fingernägeln leicht über den Rücken und drückte ihn fester an mich.
„Und, willst du heute?“
„Ja…“
Doch bevor Alexej weitermachen konnte, riss jemand die Tür auf, blieb aber anscheinend dort stehen. Wir sprangen erschrocken auf und starrten zu meiner Mutter, die am anderen Ende der Halle stand und uns entsetzt ansah.
„Eveline, was ist hier los?“, fragte sie wütend.
Und alles, was danach geschah, war ein einziges Chaos. Sie rief die Wachleute, die Alexej sofort abführten und in ein anderes Zimmer sperrten. Mich brachten sie ebenfalls hinauf in meinen „Kerker“ und schlossen mich dort bis zum Morgen ein. Meine Mutter schrie mich die ganze Zeit an, wandte sich jedoch nicht an Alexej, der nur schweigend dastand und mich traurig ansah. Letztendlich rief sie auch meinen Vater, von dem ich natürlich wieder einige Schläge kassierte. Diesmal stand meine Mutter aber nur daneben und sah zu, anstatt etwas dagegen zu tun. Ihre Miene blieb so ernst wie immer, sodass ich sie nur wütend und enttäuscht zugleich anfunkelte. Anscheinend hatte ich mich in meiner Mutter getäuscht, sie war nicht die liebenswerte Person, für die ich sie mein ganzes Leben lang gehalten hatte.
Und wenn ich genauer nachdachte, war sie ja nicht einmal meine richtige Mutter.
Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, sogar als es schon zwei Uhr war, lag ich noch wach. Wie immer starrte ich vor mich hin und dachte noch einmal über den gestrigen beschissenen Tag nach. Mir war ja klar, dass meine Eltern nicht sehr begeistert darüber sein würden, dass ich mit Alexej zusammen war, aber deshalb brauchten sie nicht gleich so einen Aufstand machen. Wenn wir wieder in Fortezza waren, konnten sie uns eh nicht mehr trennen…
Ich hörte ein leichtes Knacken an der Tür und setzte mich erschrocken auf.
Anstatt meinem Vater oder sonst irgendjemandem, der mich wieder schlagen würde, kam jedoch Alexej herein. So leise wie möglich schloss er wieder die Tür hinter sich und kam zu mir gerannt.
„Wie bist du hier reingekommen?“, fragte ich überrascht und zugleich erleichtert.
„Ich bin mit einem der Wächter, der mich abgeführt hat, befreundet. Er hat mir die Ersatzschlüssel für die Zimmer geliehen, damit ich dich hier rausholen kann.“
„Also… also gehen wir?“
„Ja. Oder willst du, dass dein Vater dich weiter schlägt?“ Er berührte vorsichtig die Platzwunde an meiner linken Augenbraue. „Ich nehme an, das ist nicht die einzige Wunde, oder?“
„Nein, sicher nicht“, sagte ich traurig. „Du weißt doch, sein Lieblingsgürtel. Naja, mit den Narben von der Explosion kann mich sowieso nichts mehr entstellen.“ Ich wollte mich gerade umdrehen und meine Sachen packen, als Alexej mich wieder an sich zog und zärtlich küsste.
„Sag so etwas nicht, Lilly. Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe, egal ob mit oder ohne Narben.“ Er lächelte mich kurz an und ließ mich schließlich los, um mir beim Packen zu helfen. „Übrigens… ich habe mich mit dem Wächter unterhalten. Er meinte, die Situation in Venedig wird immer schwieriger, doch… noch haben sie alles unter Kontrolle. Wahrscheinlich werde nicht nur ich bald dort kämpfen müssen.“
„Was meinst du damit?“
„Im Hauptquartier der Hüter wird derzeit diskutiert, ob für diesen Notfall nicht noch einige Schüler rekrutiert werden sollten. Natürlich nur die, die auch ordentlich kämpfen können, sollte sich die Lage weiter verschlimmern…“
„Du meinst also Leute wie mich, ja?“
„Genau, aber… Meistens werden die Männer bevorzugt, also könnten wir noch einmal Glück haben.“
„Ja, das hoffe ich doch…“ Ich nahm meine Koffer und schleppte sie zusammen mit Alexej leise die Treppe hinunter. Als wir unten ankamen, wartete der Wächter bereits an der Haustür und gab uns einen Schlüssel.
„Nehmt den schwarzen Van in der Garage. Niemand wird bemerken, dass er fehlt.“
„Vielen Dank, Marius.“
„Kein Problem“, sagte er lächelnd und schloss die Tür hinter uns.
Wir rannten schnell zur Garage, warfen unser Gepäck in den Kofferraum und fuhren los.
„Du hast doch sicher noch Geld dabei, oder?“, fragte Alexej, als wir auf die Hauptstraße abbogen.
„Klar, wieso?“
„Wir müssen doch noch irgendwo schlafen.“ Er lächelte mich an und wandte sich schließlich wieder der Straße zu.
„Also, wohin fahren wir?“
„Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich werde erst mal in Richtung der Grenze fahren, und falls wir irgendwo ein Hotel finden, können wir dort übernachten.“
„Willst du nicht lieber mich fahren lassen? Du hast doch gar nicht geschlafen, so wie du aussiehst“, sagte ich nach einer Weile.
„Quatsch, es geht schon.“
„Nein, das geht überhaupt nicht, ich… Hey, fahr da raus! Los!“ Da Alexej nicht zeitig genug reagierte, beugte ich mich zu ihm und riss das Lenkrad herum, damit wir die Ausfahrt noch nehmen konnten.
„Was sollte das?!“
„Wir sind in Nantes, hier vorne ist gleich ein Hotel.“
„Oh, okay.“ Ohne zu protestieren fuhr Alexej noch ein Stück weiter und parkte schließlich vor einem riesigen Hotel. Es schien fast komplett aus Glas zu bestehen und zählte mindestens zwanzig Stockwerke. „Das sieht teuer aus.“
„Du vergisst wohl, dass ich noch die Kreditkarte von meinem Vater hab. Ich glaube nicht, dass er sie schon gesperrt hat“, sagte ich grinsend.
Wir holten also einige unserer Koffer aus dem Wagen und gingen zur Rezeption. Vor uns standen noch einige Leute, sodass wir eine halbe Stunde warten mussten, doch wenigstens hatte ich etwas zu tun, nämlich reiche, schnöselige Leute zu beobachten. Die Menschen liefen alle kerzengerade und hielten ihre Köpfe so hoch dass man ihnen schon von weitem ansah, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Noch dazu trugen die meisten von ihnen einen Pelzschal aus irgendeinem ekligen, tierischen Fell um den Hals, der perfekt zu ihrer Lederhandtasche passte. Und die Leute, denen ein Schal nicht reichte, trugen gleich einen Mantel, der sie noch protziger wirken ließ. Wenn ich genauer hinsah, bemerkte ich auf einmal, dass viele Ähnlichkeit mit meinen Eltern hatten. Es war mir zwar nie aufgefallen, doch auch sie liebten diesen teuren Lebensstil, liefen in ausgefallen Designerklamotten rum und waren bei allen Leuten, die in Frankreich etwas zu melden hatten, beliebt.
„Oh mein Gott, bitte lass mich nie so wie diese Leute werden“, sagte ich leise.
„Was?“ Alexej drehte sich zu mir und starrte mich an.
„Ach, nichts“, murmelte ich und ging vor an die Rezeption.
Als wir uns zusammen ins Bett legten, war es schon sieben Uhr morgens, doch ich war einfach zu müde, um bis zum Abend wach zu bleiben. Ich zog also meine Sachen aus, kuschelte mich zu Alexej unter die warme Decke und schloss zufrieden die Augen.