Fantasy & Horror
Das verlorene Buch (4) - Kapitel 13 - 16

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"Das verlorene Buch (4) - Kapitel 13 - 16"
Veröffentlicht am 12. November 2011, 136 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Tjaaa.. eigentlich ich bin mehr eine Einzelgängerin und eine komlette Tagträumerin dazu xD Aber ab und an bin ich auch gerne unter Leuten, wobei es mir etwas an Gesprächsstoff fehlt, es sei denn es geht ums Schreiben und meine Geschichten. Da kann ich tagelang drüber reden :P Allerdings möchte ich hier auch mal zu meinen Geschichten anmerken, dass sie wirklich lange Stories sind, die sich über einen längeren Zeitraum erst richtig entwickeln und ...
Das verlorene Buch (4) - Kapitel 13 - 16

Das verlorene Buch (4) - Kapitel 13 - 16

Beschreibung

Ausgerechnet Alexandra, die nicht an fiktive Wesen wie Vampire oder Dämonen glaubt, zieht deren Aufmerksamkeit wie magisch an. Zudem gerät sie auch noch in das mörderische Spiel eines Dämonenfürsten hinein, dessen Ziel es ist das "verlorene Buch" in seine Hände zu bringen. Die Gute ist sehr begeistert, weil ihr Leben nun noch abenteuerlicher wird, als es ohnehin schon war. Es kommt zu einem Wettlauf, in dem Alexandra von so ziemlich allem verfolgt wird, was von den Menschen eigentlich als Ausgeburten der Fantasie abgetan wird. Und sie alle wollen nur eines: Das verlorene Buch. Enthält: Kapitel 13: Wiedervereinigung Kapitel 14: Vampirclan Kapitel 15: Nichts wie weg von hier Kapitel 16: die Sense eines Shinigami

Kapitel 13: Wiedervereinigung

„Wie geht es deinen Verletzungen?“, fragte Ryan und holte einige Teller aus dem oberen Küchenschrank, um sie auf den Tisch zu stellen.

„So gut wie verheilt“, antwortete Alexandra und holte Milch und Aufschnitt aus dem Kühlschrank.

„Das freut mich“, sagte der junge Erwachsene, „Auch wenn es mich ja wirklich mal interessieren würde, wie solche Verletzungen so schnell heilen können. Besonders dein Arm und Bein. Ich hab ja die Kugel da raus geholt.. Wie können diese Wunden innerhalb von noch nicht mal vierundzwanzig Stunden heilen?“

„Ich weiß es nicht.“

„Das kauf ich dir nicht ab.“

„Ich weiß es wirklich nicht, zumindest nicht sicher.“

„Und was vermutest du?“ Er stellte zuletzt noch einen Korb mit frischen Brötchen vom Bäcker auf den Tisch und setzte sich anschließend.

Alexandra nahm ebenfalls Platz. „Würde sich etwas ändern, wenn du es wüsstest?“

„Vielleicht.“ Ryan sah das Brötchen in seiner Hand nachdenklich an. „Vielleicht auch nicht.“

„Dann brauche ich es ja nicht zu sagen“, stellte Alexandra gelangweilt fest und bis in ihr mit Honig bestrichenes Brötchen.

„Wieso wusste ich, dass ich keine Antwort bekommen würde?“

„Du hast eine Antwort bekommen“, bemerkte sie, „Nur wahrscheinlich nicht die, die du dir erhofft hast.“

„So kann man es auch ausdrücken.“

„Was macht ihr zwei da?“ Azraél stand auf einmal in der Tür zur Küche und sah die beiden leicht ungläubig an.

„Frühstücken“, antwortete Alexandra gelassen, „Wir haben für dich auch gedeckt, aber wenn du nicht willst, esse ich eben deine Hälfte. Ist mir auch recht.“

„So weit kommt es noch“, murmelte er nur resigniert und setzte sich auf den freien Stuhl. Allerdings betrachtete er die Brötchen nur mit einem argwöhnischen Blick.

„Keine Sorge, sie sind nicht vergiftet.“ Ryan schien bei so viel Misstrauen am liebsten die Augen zu verdrehen, doch er verkniff es sich.

„Seit wann bist du denn so Übervorsichtig?“, fragte Alexandra einfach mit vollem Mund, „Das ist nervig.“

„Mir scheint es eher so, dass du zu unvorsichtig geworden bist“, flüsterte Azraél und griff nach einem der Brötchen und der Salami. Allerdings klebte ihm im nächsten Moment ein Stück Schinken im Gesicht und sein leicht genervter Blick wanderte zu Alexandra, die gerade die zweite Hälfte ihres Brötchens mit Schinken belegte.

„Du solltest nicht vergessen, dass ich gute Ohren habe“, bemerkte sie schlicht. Jedoch fand sich im nächsten Moment ein Fetzen Salami in ihrem Gesicht wieder und sie sah Azraél warnend an.

„Und du könntest mir wenigstens ein bisschen mehr Respekt entgegen bringen“, erwiderte er und biss in sein Brötchen. In der nächsten Sekunde traf ihn jedoch ein Klecks Honig direkt auf der Nase und er gab ein entnervtes Knurren von sich.

„Ein Hund hat seiner Herrin zu gehorchen, also komm nicht auf die Idee die Hierarchie durcheinander zu bringen“, konterte sie gelassen.

Als nächstes gingen jedoch zwei Stücke Schweizer Käse auf Wanderschaft und klebten anschließend in Alexandras Gesicht, eines sogar direkt über ihrem Auge. Prompt fing ihre Augenbraue an zu zucken.

„Hey, Kinder, mit dem Essen spielt man nicht“, ermahnte Ryan sie resigniert und zog im nächsten Moment aber den Kopf ein, als ein größeres Stück Butter ihn beinahe traf.

„Okay, macht doch was ihr wollt, aber wehe ihr macht den Saustall nachher nicht wieder sauber.“ Damit flüchtete er sich mit seiner Portion aus der Küche und ging kopfschüttelnd ins Wohnzimmer. Die Jugend von heute musste er nicht verstehen.

„Wer ist hier ein Hund?“, fragte Azraél nun beinahe empört und griff nach dem Glas mit der Marmelade.

„Na du, wer denn sonst?“, erwiderte sie, „Und ich befehle dir sofort das Glas mit dem klebrigen Zeug da wieder wegzustellen. Die Flecken gehen nur schwer wieder raus, also lass den Schwachsinn.“

„Wer hat denn damit angefangen?“, konterte Azraél mit einer hochgezogenen Augenbraue und lächelte dann freudig, „Außerdem haben ein paar Flecken in den Klamotten noch keinem geschadet.“

„Wage es nicht“, sagte Alexandra drohend, bewaffnete sich aber sicherheitshalber schon mal mit dem Honig und Schinken.

„Und wenn ich es doch tue?“ Azraél grinste vielversprechend.

„Dann kannst du dein blaues Wunder erleben“, knurrte Alexandra und zog den Stuhl zurecht, sodass er ihr als Schutz dienen konnte, „Das ist meine letzte Warnung, stell den Klebkram wieder weg.“

„Hmmm.. Ich hab eine bessere Idee.“

Plötzlich flogen mehrere Placken Marmelade durch die Luft und um ein Haar hätte sie einen davon mitten ins Gesicht gekriegt.

„Na warte.“ Das bedeutete Krieg. Sie wischte sich kurz den Käse und die Salami aus dem Gesicht und griff nach einem Löffel aus der Schublade. Was der Typ konnte, konnte sie schon lange.

So entstand die Miniaturversion einer satten Essenschlacht. Jeweils zwei Stühle dienten den beiden als Schutzwall und über den Tisch hinweg flog so ziemlich alles, was an Aufschnitt in diesem Haus vorhanden war. Dabei erwischte es natürlich die Einrichtung, aber auch Alexandra und Azraél traf es doch so einige Male. Als Ryan einmal kurz den Kopf durch die Tür steckte und ihm daraufhin prompt ein Stück Schinken mitten im Gesicht traf, ward der junge Erwachsene nicht mehr gesehen.

Die Schlacht zog sich fast eine halbe Stunde lang hin, bis ihnen schließlich die Munition ausging. Es herrschte einige Sekunden lang Schweigen.

„Wie wäre es mit Waffenstillstand?“, fragte Azraél schließlich und blickte über seine Barriere hinweg.

„Na meinetwegen“, seufzte Alexandra und kam ebenfalls wieder hoch.

Die beiden sahen sich einen Moment lang an, dann brachen sie zeitgleich in schallendes Gelächter aus. Sie hatten alle beide überall Reste von dem Aufschnitt, Honig, Marmelade und noch so einigem mehr. Besonders ihre Gesichter und Haare hatte es erwischt. Und das sah so schön komisch aus, dass keiner der beiden mehr an sich halten konnte.

„Du siehst dämlich aus!“, kicherte Alexandra nur und hielt sich den Bauch. Wann hatte sie das letzte Mal so gelacht? Sie konnte sich nicht daran erinnern, aber es war gar nicht mal so unangenehm. Im Gegenteil, es tat wirklich gut.

„Dann guck dich erstmal an!“, erwiderte Azraél nur, der ebenfalls herzlich lachen musste.

„Du kannst mich mal!“

Ryan stand um die Ecke und lächelte vor sich hin. Am Anfang hatte es den Anschein gehabt, dass die Kinder durch die ganze Verfolgungsgeschichte – wo wahrscheinlich noch viel mehr hinter steckte, als er bisher wusste – ihren Frohsinn verloren hatten. Doch scheinbar hatte er sich getäuscht, die beiden waren doch noch in der Lage wie normale Kinder zu lachen. Irgendwie war er erleichtert.

Azraél kam unterdessen auch dazu Alexandra richtig anzusehen. Er war ein klein wenig verblüfft, aber zugleich war er verdammt froh. „Du kannst ja auch mal lachen“, stellte er schmunzelnd fest, „Und ich muss sagen, es steht dir gut.“

Alexandra verstummte überrascht und blickte schnell zur Seite. Nicht nur hatte sie gerade vollkommen vergessen darauf zu achten, was sie tat, jetzt spürte sich auch noch deutlich, wie ihr das Blut in den Kopf stieg und sie rot anlief. Verdammt, wieso ausgerechnet jetzt? Außerdem hatte sie vollkommen verpennt, dass sie eigentlich immer noch ein wenig sauer auf ihn war. Mal davon abgesehen, dass er ihr da auch noch eine ganze Menge Antworten schuldig war.

„Pff, steck dir deine Komplimente sonst wo hin“, murmelte sie nur. Dummerweise mochte sie sein Lächeln irgendwie, was ihr so ganz und gar nicht passte.

„Wow, das ist das erste Mal, dass ich mal sehe, wie du dich zumindest etwas wie ein Mädchen benimmst“, neckte Azraél sie, „Aber verlegen siehst du auch gar nicht mal so schlecht aus.“

„Wer ist hier verlegen?“, fragte sie beinahe schon entgeistert und biss sich auf die Unterlippe, „Hiermit tritt dein Redeverbot wieder in Kraft, also halt die Klappe!“

„Wieso denn?“, fragte Azraél mit gespielter Enttäuschung und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, „Ich hab´s grad so genossen nicht immer um Erlaubnis bitten zu müssen, wenn ich etwas sagen will.“

„Das hast du doch sowieso nie getan“, bemerkte sie resigniert.

Er lächelte spitz.

„Wenn ihr euren kleinen Krieg dann beendet habt, könnt ihr gleich die Küche wieder saubermachen“, sagte Ryan, der das Ergebnis der kleinen Schlacht nüchtern betrachtete, „Und danach solltet ihr euch vielleicht auch mal waschen.“

„Wieso sollten wir die Küche saubermachen?“ Alexandra hob eine Augenbraue. „Es ist deine Wohnung, also kannst du es auch selber machen.“

„Und wer hat den Saustall hier bitteschön verursacht?“, fragte Ryan, „Es wird dir kein Zacken aus der Krone brechen, wenn du auch mal was tust.“

Alexandras Augen wurden schmal. „Ich kann es absolut nicht leiden, wenn man glaubt mir Befehle erteilen zu können.“

Ryans linkes Auge schien ganz leicht zu zucken, dann stöhnte er. „Also gut, ich bitte dich und Azraél darum die Küche sauber zu machen. Besser so?“

Einen Moment lang überlegte sie. „Na schön, Azraél, mach die Küche sauber. Ich wasch mir in der Zeit das Zeug aus dem Gesicht.. und meine Haare können wohl auch mal wieder Shampoo vertragen.“

„Hey, wer hat gesagt, dass ich das alleine aufräume?“, fragte Azraél leicht empört.

„Ich“, antwortete Alexandra schlicht, „Ich borg mir mal dein Badezimmer, Ryan. Und wehe einer von euch beiden kommt rein. Derjenige erlebt den nächsten Morgen nicht mehr.“ Damit ging sie durch den kurzen Flur und verschwand im Badezimmer.

Azraél seufzte herzhaft und sah sich kurz um, da warf Ryan ihm einen Lappen zu.

„Sie ist ein nettes, aber ganz schön anstrengendes Mädchen“, stellte er lächelnd fest und griff nach dem Wischmop, den er schon geholt hatte, „Mich würde ja mal interessieren, was genau bei euch passiert, aber ich denke nicht, dass ich eine Antwort bekommen werde.“

„Richtig erkannt“, sagte Azraél nur und machte sich daran die Reste der Schlacht vom Tisch zu kratzen.

„Sag mal“, sagte Ryan nach einer Weile, „Du bist wirklich ein Dämon, oder?“

Azraél hielt für einen Moment inne. „Ja“, sagte er dann, „Wir höheren Dämonen sind aber in der Lage unsere Kräfte zu verbergen, deswegen können weder du noch Alex spüren, was ich wirklich bin.“

„Du hast es ihr also nicht gesagt?“ Ryan zupfte ein Fetzen Schinken von dem Fenster und fragte sich, wie man Essen so misshandeln konnte.

„Bis vor kurzem nicht.“

„Es kam also überraschend heraus“, stellte der junge Erwachsene fest, „So wie du dich anhörst, wolltest du es eigentlich nicht sagen.“

Azraél blickte leicht argwöhnisch über seine Schulter.

„Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten“, sagte Ryan daraufhin.

So machte Azraél den Tisch weiter sauber und ging dann zur Arbeitsplatte, die auch einiges abbekommen hatte. Auf diese Weise herrschte eine Weile lang wieder Schweigen.

„Danke.“

Ryan blickte überrascht auf.

„Dafür, dass Sie sie gerettet haben“, fügte Azraél ohne aufzusehen hinzu. Wäre er damals nicht so überrascht gewesen, hätte er Alexandra davon abgehalten alleine weiterzulaufen. Doch er hatte sich aus dem Konzept bringen lassen und das hätte sie fast getötet. Das konnte er sich einfach nicht verzeihen.

„Kein Problem“, sagte Ryan nur und sah den Jungen durchdringend an, „Aber du scheinst ja auch sehr auf sie zu achten.“

„Wenn das so einfach wäre“, murmelte Azraél.

„Dass das ziemlich schwer ist, glaube ich dir“, lächelte Ryan, „Sie scheint mir nicht der Typ zu sein, der Schutz von anderen annimmt. Schon gar nicht, wenn das heißt, dass sie jemandem gehorchen muss.“

„Das trifft es.“ Auch wenn Azraél sich noch nicht hundertprozentig sicher war, begann er langsam dem jungen Erwachsenen zu vertrauen. Er schien ganz in Ordnung zu sein. Und er merkte verdammt schnell, wie der Hase lief.

„Das erinnert mich daran.. Sie hat auch noch von zwei anderen Freunden gesprochen“, bemerkte Ryan, „Wir wollen morgen anfangen sie zu suchen, sobald ich den Wagen aus der Werkstatt geholt habe.“

Azraél überlegte einen kurzen Moment. „Scheint keine schlechte Idee zu sein, mit einem Auto sind wir wesentlich schneller.. Nur werden Raphaels Leute damit auch Wind von dir kriegen und unter Umständen auch dich verfolgen, selbst wenn du uns sonst nicht weiter begleitest.“

Für einen Sekundenbruchteil wirkte Ryan verdattert, dann hatte er sich sofort wieder gefangen. Jedoch begriff er langsam auch, um was es hier ging. „Damit werde ich klarkommen. Ganz wehrlos bin ich nicht, wenn ich nicht gerade gegen einen Dämon wie dich antreten muss.“

„Schön zu hören.“

„Dann wäre das ja auch geklärt.“ Alexandra stand in der Tür zur Küche und trocknete gerade noch die längeren Strähnen ihres rotbraunen Haares mit einem Handtuch ab. „Heute können wir uns dann alle nochmal ausruhen, das scheint mir auch der beste Plan zu sein.“

„Besonders deinen Verletzungen wird es gut tun“, bemerkte Azraél.

„Die waren mal, ist alles verheilt“, erwiderte sie trocken.

Daraufhin sah er sie allerdings ziemlich verblüfft an.

„Und wie lange wolltest du eigentlich noch als belegtes Brötchen rumlaufen?“, fragte Alexandra weiter, „Sieh zu, dass du dich wäscht, bevor du noch anfängst nach Fleisch und Käse zu stinken. In dem Fall kannst du heute Nacht draußen schlafen.“

Es brauchte noch gute zwei Sekunden, dann schüttelte Azraél den Kopf und damit wohl auch die Verblüffung ab. „Nein danke, ich finde es drinnen wesentlich angenehmer.“ Damit ging er auch schon in den Flur und verschwand im Badezimmer.

„Brav.“ Alexandra sah sich um. „Wow, jetzt sieht es hier auch wieder wie in einer Küche aus und nicht wie im Schweinestall.“

„Wessen Schuld war das denn bitte?“, fragte Ryan leise. Er war sich ziemlich sicher, dass er dieses Mädchen nie verstehen würde.

„An deiner Stelle würde ich solche Kommentare nicht laut aussprechen“, bemerkte Alexandra.

Ryans Gesichtsausdruck entgleiste kurz ein wenig, dann fing er sich wieder. „Hast du eigentlich keine anderen Klamotten? Deine Bluse sieht ja doch etwas mitgenommen aus.“

„Die sind noch im Hotel.. nur bin ich mir nicht ganz sicher, wie lange wir die Zimmer dort gemietet haben“, sagte Alexandra nachdenklich, „Da fällt mir auch ein, mit etwas Glück sind Stella und Seth so schlau gewesen zum Hotel zu gehen. Dort sollten wir wahrscheinlich am besten mit dem Suchen morgen anfangen.“

„Gute Idee“, stellte Ryan fest, „Aber wie kommt es, dass du so schnell mit dem Duschen fertig warst? Ihr Mädchen braucht doch sonst meistens über eine halbe Stunde.“

„Ich bin es nicht anders gewöhnt.“ Sie legte sich das Handtuch über die Schulter und sammelte ihre längeren Strähnen zusammen, um sie wieder zu einem Zopf zusammenzubinden. „Ich brauch eigentlich nie länger als fünf Minuten.“

„Hut ab, so schnell bin noch nicht mal ich“, sagte Ryan leicht erstaunt.

„Reine Übungssache.“

Ryan schüttelte über ihren gelangweilten Ton nur den Kopf.

„Worüber habt ihr noch gesprochen?“, fragte Alexandra dann, „Nur über morgen?“

Für einen Sekundenbruchteil stockte Ryan, dann nickte er nur.

Es war Alexandra anzusehen, dass sie ihm das nicht abkaufte, doch sie sagte nichts weiter und ging stattdessen zum Kühlschrank. Dort holte sie die Milch raus und trank einfach aus der Tüte.

„Hey, hol dir wenigstens ein Glas.“

Alexandra strafte ihn gekonnt durch Nichtachtung und trank einfach weiter. Im nächsten Moment jedoch war plötzlich ein Klicken zu hören und ein kühler Luftzug strich durch die Küche. Ryan blickte verdattert zum nun sperrangelweit offen stehenden Fenster und sah die beiden Gestalten auf der Fensterbank ungläubig an.

„Siehst du, ich hatte Recht“, sagte Stella und sah Seth verärgert an, „Ich hab dir doch gesagt, dass sie hier ist. Meine Nase irrt sich bei solchen Sachen nicht.“

„Schon gut, schon gut, ich geb´s ja zu“, erwiderte er nur schmollend.

Ryan sah zu Alexandra. „Deine vermissten zwei Freunde?“

„Ja...“ Sie hatte nur eine Augenbraue hochgezogen und war gerade dabei ihre Gedanken zu sortieren. Das war ja nun völlig unerwartet.

„Wieso kommen die eigentlich alle durch das Fenster?“ Ryan verzog ungläubig das Gesicht.

„Verdammt, da ist ja einer!“, rief Seth überrascht und auch Stella wirkte erschrocken, anscheinend hatten sie Ryan erst jetzt entdeckt.

„Weil sie zu blöd sind um einfach die Tür zu benutzen“, antwortete Alexandra, „Hey ihr zwei, hat euch keiner beigebracht anzuklopfen, bevor man reinkommt?“

Stella und Seth sahen sie verständnislos an.

„Und der da ist übrigens auf unserer Seite, also regt euch ab und kommt rein“, fügte sie noch hinzu, „Oder wollt ihr unbedingt da sitzen bleiben?“

„N-Nein“, sagte Seth noch reichlich verwirrt und stieg mit Stella zusammen in die Wohnung, „Was ist hier los? Bist du nicht von Raphaels Leuten gefangen genommen worden?“

„Sieht aus als würde es hier langsam ziemlich voll werden“, stellte Ryan nüchtern fest, auch wenn sein Gesicht kurz davor zu sein schien außer Form zu geraten, „Gut dass meine Freundin gerade mit ihrer Familie im Urlaub ist.“

„Vermutlich“, pflichtete Alexandra ihm bei.

Dann hörten sie, wie im Flur eine Tür geöffnet wurde und sich Schritte in Richtung Küche näherten.

„Also wirklich, was macht ihr...“ Azraél stockte und sah die Neuankömmlinge beinahe fassungslos an.

Stella und Seth hatten die Stimme natürlich erkannt und starrten ihn ebenfalls entsetzt an. Für mehrere Sekunden herrschte in der Küche absolute Totenstille. Während der Zeit wurde Ryan noch so einiges mehr klar.

„Was...“ Mehr brachte Stella nicht heraus.

„Hast du überhaupt geduscht?“, fragte Alexandra allerdings einfach ohne die angespannte Stimmung zu beachten, „Du warst ja noch schneller als ich.“

Jedoch hatte Azraél sich noch nicht wieder vollkommen im Griff, denn er sah sie nur an, während sich einzelne Tropfen von seinen Haaren in die Tiefe stürzten.

„Was.. geht hier vor?“, fragte Seth nach einer Weile stockend.

Daraufhin sah Alexandra die beiden kurz an. „Wegen ihm bin ich bei Raphaels Leuten gelandet, aber wegen ihm bin ich auch wieder draußen.. Obwohl es mir nicht gefällt, muss ich zugeben, dass er mich gerettet hat. Die Flucht verlief zwar ein bisschen chaotisch, aber es ist alles in Ordnung.“

Die beiden schienen es nicht so ganz fassen zu können.

„Aber praktisch, dass ihr alleine hier her gefunden habt“, stellte Alexandra fest, „Das erspart uns die Suche nach euch.“

Es herrschte immer noch ungläubiges Schweigen von allen Seiten.

„Mein Gott, seid ihr im Stehen eingeschlafen oder was?“, fragte sie nun genervt, „Wenn ihr nicht mehr als dumme Blicke zustande bringt, könnt ihr gleich alle miteinander wieder gehen. Und zwar ganz gehen.“

„W-W-Wie.. Heiliger! Wie sollen wir da auch mitkommen?!“, fragte Stella verwirrt, „Erst verrät uns Azraél und du wirst deswegen gefangen genommen und jetzt heißt es plötzlich, dass er dich auch wieder gerettet hat und was weiß ich nicht was! Was ist hier los? Kann uns mal jemand aufklären?!“

„Ich sagte zwar ihr sollt reden, aber die Lautstärke kann ruhig etwas weiter unten bleiben“, bemerkte Alexandra, „Und was soll ich noch erklären? Ich warte ja auch noch darauf, dass der Schwachkopf da mal etwas nähere Auskünfte von sich gibt, aber er ignoriert meine stummen Aufforderungen gekonnt.“

Daraufhin richteten sich alle Blicke auf Azraél, der sich sichtlich unwohl fühlte und versuchte keinem von ihnen direkt in die Augen zu sehen. „Ich.. bin ein Dämon.. schon die ganze Zeit über...“

„So viel wissen wir auch“, stöhnte Alexandra erbarmungslos, „War das, was du mir in Portugal über deine Familie erzählt hast, gelogen?“

Azraél sah sie mit einem schiefen Gesichtsausdruck an, der gleichzeitig ein wenig von der Trauer widerspiegelte, die sie in seinem Inneren wusste. „Sie ist wahr“, sagte er nach kurzem Zögern, „Nur war das vor knapp zweihundert Jahren.“

Das verschlug selbst Alexandra für einen kurzen Moment die Sprache, doch sie fing sich ziemlich schnell wieder. „Heißt das, du bist fast zweihundert Jahre alt?“, fragte sie leicht misstrauisch, „So ein richtiger alter Greis? Wo sind dann deine Falten und das weiße Haar?“

Nachdem Azraél sich gefangen hatte, sah er sie schon beinahe tadelnd an. „Wir Dämonen altern wesentlich langsamer als Menschen“, erklärte er leicht empört, „Bis ich graue Haare bekomme, dauert es noch eine ganze Weile.“

„Schade“, murmelte sie, „Das hätte ich ja zu gerne gesehen.“

„Nur über meine Leiche“, erwiderte er, „Also würdest du bitte aufhören mich zu behandeln als wärst du mein Vormund? Ich bin eindeutig derjenige mit der größeren Lebenserfahrung und...“

„Derjenige, dem ich gleich in den Hintern trete, wenn er weiter klugscheißt“, konterte Alexandra kühl, „Bist du auf unserer Seite?“

„Äh.. ja.. schon die ganze Zeit über“, antwortete er leicht irritiert, „Kiyoshi wusste von Anfang an, dass ich ein Dämon bin.“

„Wow.. na der kriegt was zu hören, sollte der sich nochmal bei mir blicken lassen“, brummte sie leicht verärgert, „Hast du vor irgendwann wieder zu den anderen Dämonen zurückzukehren?“

„Geplant jedenfalls nicht.“ Er runzelte die Stirn.

„Schwörst du nicht nochmal solche dummen Sachen zu machen?“

„Eh...“ Azraél wusste ganz eindeutig nicht, was er davon halten sollte. „J-Ja...“

„Dann wäre die Sache ja geklärt“, stellte Alexandra gelassen fest, „Gab es bei euch beiden irgendwelche besonderen Vorkommnisse? Stella? Seth?“

„N-Nein“, antwortete Stella stockend.

„Raul und diese anderen Blutsauger sind jedenfalls nicht nochmal aufgetaucht“, fügte Seth noch hinzu, „Und halt mal jetzt.. Die Sache ist geklärt? Azraél ist doch unser Freund?“

„So sieht es aus.“ Alexandra verzog ein wenig das Gesicht. „Auch wenn ich den Kerl nach wie vor nicht leiden kann, denke ich mal, dass ihr euren Freund weiter bei euch haben wollt. Oder liege ich da falsch?“

„Nein...“

„Also, dann hört auf so verwirrt zu sein und fühlt euch wie Zuhause“, sagte Alexandra, „Morgen gehen wir ins Hotel zurück, holen unsere Sachen und anschließend lasse ich Chain den nächsten Flug nach Italien buchen. Vielleicht werden wir ja so wenigstens Raul und seine Leute los.“

„Hey, das ist immer noch meine Wohnung“, murmelte Ryan resigniert. Er hatte sich zwar absichtlich im Hintergrund gehalten, aber irgendwie kam er sich ein bisschen übergangen vor. Obwohl, bei ihr sollte ihn das eigentlich nicht wundern, wie er nach kurzem Überlegen feststellte.

„Mich wundert, dass du über mein Einnehmen deiner Wohnung klagst, anstatt das zu fragen, was dir wahrscheinlich gerade durch den Kopf geistert“, bemerkte Alexandra nur.

„Apropos, wer ist das?“, fragte Stella mit einer hochgezogenen Augenbraue, anscheinend hatte sie sich mittlerweile auch wieder gefangen.

„Einer dieser komischen, reichen Geschäftsleute, mit denen du gelegentlich zu tun hast?“, fragte Seth stirnrunzelnd und musterte Ryan.

„Komischen, reichen Geschäftsleute?“ Ryan standen ausnahmsweise mal die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. „Du wirst mir immer suspekter, Kleine.“

„Wag es nicht mich Kleine zu nennen“, erwiderte Alexandra leicht bissig, „Und der Name meiner Eltern ist in der allgemeinen Geschäftswelt und an der Börse ziemlich bekannt, das ist alles.“

„Aha.“ Er wirkte nicht gerade begeistert. „Da scheine ich mir ja was ins Haus geholt zu haben.“

„Dein Pech.“

„Und dein Glück“, erwiderte Ryan, „Hätte Raphael mir nicht plötzlich diesen komischen Befehl gegeben, hätte ich nicht dort gestanden.“

„Tja.. Dämonenfürsten können wohl in höchst seltenen Fällen auch mal zu was gut sein.“

„Ääähm...“ Seth schien gerade etwas aufzufallen und Stella und vor allem Azraél sah man an, dass ihnen gerade ebenfalls eine Sache klar wurde. „Raphael.. wieso hat er Ihnen einen Befehl.. Sie sind ein Spieler!“

„Du hast eine ganz schön lange Leitung“, stellte Alexandra fest und stellte sich dabei absichtlich so hin, dass sie zwischen ihren Freunden und Ryan stand.

„Ein Spieler...“ Azraél sah den jungen Erwachsenen erst erschrocken und dann ziemlich düster an.

„Hey hey, beruhigt euch“, sagte Ryan leicht überrascht, „Mag sein, dass Raphael auch mich in dieses Spiel hineingezogen hat, aber ich halte mich trotzdem aus den Kämpfen raus. Ich bin nicht hinter diesem Buch her und ich tue auch eurer Freundin nichts.“

„Da habt ihr es“, sagte Alexandra schlicht, „Also schminkt euch ab, an was auch immer ihr gerade denkt. Ich vertraue diesem Typen und ihr könnt das auch.“

„Alex...“ Seth sah sie klagend an. „Du verlangst in so kurzer Zeit ganz schön viel von uns, weißt du das?“

„Klar.“ Sie erwiderte seinen Blick nur gelangweilt. „Aber vergesst nicht, dass ihr euch selber dazu entschieden habt mir auf den Wecker zu gehen. Also beklagt euch gefälligst nicht, wenn es drunter und drüber geht. Ich hab euch schließlich mehrfach gewarnt.“

„Stimmt auch wieder“, musste Stella mit einem schiefen Lächeln zugeben, „Auch wenn ich nie erwartet hätte, dass es so dermaßen chaotisch wird.“

„Was das angeht, habe ich auch nicht mit einem solchen Andrang gerechtet.“ Alexandra blickte kurz aus dem geöffneten Fenster. „Aber was soll´s? Vertragen wir uns jetzt wieder oder hat irgendwer etwas dagegen?“

Seth grinste. „Nein, so ist es viel besser!“

„Ich bin froh, wenn wir endlich wieder eine Gruppe sind“, bemerkte Stella lächelnd.

Alexandra sah Azraél an.

Dieser schüttelte den Kopf. „Oh Mann, ich hab mit so ziemlich allem gerechnet, aber nicht damit, dass ihr mir das einfach so verzeiht.“

„Wieso? Was hätten wir denn davon dir nicht zu verzeihen?“, fragte Alexandra, dann fiel ihr auf, was sie da eigentlich genau sagte, „Na ja, bis ich die Sache vergesse und nicht mehr sauer bin, muss wohl noch eine ganze Zeit vergehen, aber an mir soll´s nicht scheitern. Ich konnte dich eh nie leiden, also ist es egal.“

„Sehr freundlich“, murmelte Azraél, doch er lächelte, „Und ich hätte auch nichts dagegen wieder bei euch zu sein.“

Ryan schmunzelte. Er freute sich für die vier. Jedoch staunte er auch über die Loyalität der drei gegenüber Alexandra. Sie schienen wirklich ein besonderes Verhältnis zueinander zu haben, nicht zuletzt auch wegen dem, was sie anscheinend bereits alles hinter sich hatten. Aber es war schon erstaunlich, wie sehr die vier zusammenhielten, heutzutage war das nicht mehr häufig zu sehen. Jeder war auf den eigenen Vorteil bedacht, doch diese Bande schien noch auf eine andere Weise zu funktionieren. Auf eine Art, deren genaue Definierung einfach nicht dem gerecht wurde, was sie eigentlich war. Eine wunderbare, tiefe Freundschaft.

Kapitel 14: Vampirclan

So kam es, dass Ryan heute Abend reichlich zu kochen hatte und bei den Nachbarn um ein paar Decken bitten musste, da er nicht für so viel Besuch ausgestattet war. Allerdings verstanden er, Stella und Seth sich nach kurzer Zeit schon ziemlich gut, sodass Alexandra sich da keinen Kopf drum machen musste. Einzig Azraél warf ihr die ganze Zeit über grimmige Blicke zu, die eindeutig sagten: Wieso hast du nicht erwähnt, dass er ein Spieler ist?

Doch Alexandra blieb wie immer gelassen und beachtete ihn gar nicht, schließlich war sie ihm keinerlei Rechenschaft schuldig. Denn zwar hatte er sie gerettet, aber wegen ihm war sie auch erst geschnappt worden, daher hob sich das auf und sie war ihm nichts schuldig.

Die Nacht wurde ebenfalls lustig, zumindest aus Stellas und Seths Sicht. Ryan hatte es irgendwie geschafft noch zwei weitere Luftmatratzen aufzutreiben und die beiden ebenfalls noch in sein Schlafzimmer gequetscht, sodass die vier in einem Zimmer zusammen schlafen konnten. Am Anfang schien es ja noch relativ normal zu sein, doch dann machte Seth einen dummen Scherz und Stella fing daraufhin an zu lachen und zu lachen und hörte einfach nicht wieder auf. Kurzzeitig fiel selbst Azraél mit einem leisen Kichern in das Gelächter von Stella und Seth ein, doch im Gegenteil zu den beiden fing er sich nach knapp zwei Minuten wieder.

Während die anderen zwei noch über zehn Minuten weiter gackerten und allem Anschein nach durch die Wiedervereinigung völlig überdreht waren, versuchte Alexandra verzweifelt die Anwesenheit der drei auszublenden und zu schlafen. Nur wie erwartet funktionierte das nicht unbedingt, der Erfolg war gleich Null. Jedoch freute sie sich irgendwie auch für die anderen, weshalb sie es einfach nicht übers Herz brachte sie zum Schweigen zu bringen.

Dementsprechend war allerdings auch ihre Laune, als sie am nächsten Morgen alle zusammen in der Küche aufliefen, um zu frühstücken. Sie versuchte sich ihre Laune wenigstens nicht allzu sehr anmerken zu lassen, wobei ihr auffiel, dass Ryan wegen dem Lärm im Schlafzimmer wohl auch nicht ganz so viel geschlafen hatte.

„Schön endlich wieder zusammen zu sein“, sagte Stella fröhlich und biss in ihr Marmeladenbrötchen.

„Wir waren doch kaum einen Tag getrennt“, bemerkte Alexandra leicht resigniert und trank einen Schluck koffeinfreien Kaffee, für den sie Ryan extra noch mal zum Supermarkt um die Ecke geschickt hatte. Anders befürchtete sie den Tag nicht heil zu überstehen. Zumal sie aus irgendeinem Grund Kopfschmerzen hatte und ihr das noch zusätzlich auf die Nerven ging.

„Du verstehst es einfach noch nicht“, bemerkte Azraél gelassen und nahm ebenfalls einen Schluck Kaffee.

„Was gibt es da bitteschön zu verstehen?“, fragte Alexandra resigniert.

„Tse tse tse, genau deshalb bist du noch so ein Kind“, erwiderte der Dämon nur.

„HÄ?!“ Ihr fiel bei seinem arroganten Tonfall beinahe der Becher aus der Hand. „Was sind das denn für Töne?! Das ist ja was ganz Neues! Dir scheint ja einiges zu Kopf gestiegen zu sein!“

„Wieso?“ Azraél hob eine Augenbraue. „Ich brauche jetzt nur nicht mehr so zu tun als wäre ich erst siebzehn statt zweihundertfünf, das ist alles. Ich kann doch auch nichts dafür, dass ihr für mich alle fast wie kleine Kinder seid...“

„Azraél, mit Feuer spielt man nicht...“, versuchte Seth ihn noch zu warnen, doch auf Alexandras Blick hin schrumpfte der Junge auf seinem Stuhl in sich zusammen und biss schnell in sein Toast mit Nougatcremé. Frei nach dem Motto: Ich halte schon meine Klappe.

„Ach was“, wehrte Azraél unbeeindruckt ab, ohne überhaupt hinzusehen, „Als wenn...“

Es gab ein ziemlich hohles Geräusch, als Alexandra ihm die Bratpfanne über den Schädel zog. Stella und Seth hatten sich wohlweislich schon immer weiter ans andere Tischende verzogen, als sie gemerkt hatten, dass Alexandras Laune spürbar sank, und blieben daher verschont.

„AUA!“ Azraél rieb sich den schmerzenden Schädel und verzog das Gesicht. „Das tat weh, du verdammtes Mädchen!“

„Das hast du vom Klugscheißen“, erwiderte Alexandra lediglich und hob demonstrativ wieder die große Bratpfanne, „Und ich dachte, ihr Dämonen würdet einiges mehr aushalten. Da ist ja nicht mal der Rede wert.“

„Aaahm.. Würdest du bitte davon absehen meine Küchenutensilien zu missbrauchen“, bat Ryan, der die Szene seiner eigenen Sicherheit wegen lieber schweigend verfolgt hatte, sich nun aber langsam Sorgen um seine Besitztümer machte.

„Keine Angst, der Kopf des Idioten ist genauso weich wie die der anderen“, sagte Alexandra und setzte sich wieder hin, „Und da ich meinen Schirm dank der netten Herren Entführer nicht mehr habe, brauche ich dringend Ersatz.“

„Aber bitte such dir etwas anderes als meine Sachen.“

„Mal sehen.“

„Kommt mir das nur so vor, oder verstehen die beiden sich jetzt besser?“, fragte Stella leise, bevor sie an ihrem Glas Orangensaft nippte. Sie spielte noch auf Azraél und Alexandra an.

„Sieht ganz so aus“, antwortete Seth ebenfalls leicht verblüfft.

„Apropos.“ Alexandra fiel gerade etwas ein. „Eigentlich darf ich dich ja ohnehin noch so viel schlagen, wie ich will.“

„Seit wann das denn?“, fragte Azraél mit einer hochgezogenen Augenbraue.

„Seit ich so freundlich war auf dich zu hören und dich nicht schon während unserer Flucht aus diesem Irrgarten von einem Hochhaus grün und blau zu schlagen.“ Ihr linkes Auge zuckte leicht.

„Ach ehrlich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern“, erwiderte Azraél nach kurzem Nachdenken – obwohl er es natürlich noch genau wusste – und lehnte sich gelassen auf seinem Stuhl zurück, „Muss deine Einbildung gewesen sein.“

Also ehrlich mal, dreister kann man doch kaum sein, oder?

„Ach ja? Ich glaube, ich sollte deinem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen, du kleines Würmchen...“

„Das wird ja langsam immer besser mit den Spitznamen“, murmelte er resigniert, „Aber ich erinnere mich da an etwas anderes.. was ich wohl aber besser für mich behalten sollte...“ Ein vielsagendes Grinsen lag auf seinen Lippen.

„Wovon bitteschön sprichst...“ Alexandra fiel gerade wieder ein, wie er ihr aus heiterem Himmel heraus einen Kuss auf die Wange gehaucht hatte. Augenblicklich lief sie rot an, auch wenn das natürlich unbeabsichtigt war. „Halt die Klappe oder du bist ein toter Dämon!“

Daraufhin begann Azraél amüsiert zu kichern und Stella, Seth und Ryan sahen sich schief an, da sie natürlich nicht verstanden, um was es hierbei ging.

Wenig später machten sie sich zusammen auf den Weg zu der nahe gelegenen Werkstatt, um Ryans silbernen BMW abzuholen. Es gab ein kurzes Gerangel bei der Frage, wer wo sitzen durfte, doch nach einem kurzen Disput hatte Alexandra ihre Anhängsel dazu verdonnert sich zu dritt auf die Rücksitzbank zu quetschen, während sie selbst den Platz neben Ryan einnahm. Anschließend fuhr der junge Erwachsene sie bis kurz vor ihr Hotel und während er wegen mangelnder Parkgelegenheiten in einer Seitenstraße wartete, trieb Alexandra die drei hoch zu ihren Zimmern.

„Habt ihr auch wirklich alles?“, fragte sie, sobald alle mit ihren Koffern wieder im Flur standen, „Wir werden hier bestimmt nicht nochmal herkommen, also solltet ihr besser eure Habseligkeiten beisammen haben.“

„Alles da“, antwortete Stella mit einem leicht schiefen Lächeln.

„Wo geht es jetzt eigentlich hin?“, fragte Seth interessiert.

„Italien.“ Alexandra befand sich bereits wieder auf dem Weg nach unten, da sie nicht vor hatte länger als nötig hier zu bleiben. Es war immerhin möglich, dass Raphaels Leute hier irgendwo auf der Lauer lagen und wenn sie zu lange an einem Punkt verharrten, boten sie ein leichtes Ziel für einen zweiten Überraschungsangriff.

„Cool, da wollte ich schon lange mal Urlaub machen“, stellte Stella begeistert fest.

„Juhu, das heißt wir können schön am Strand liegen und in der Sonne brutzeln“, schloss sich Seth ihrem Enthusiasmus an.

„Das Wetter sollte zumindest besser sein als hier.“ Azraél, der von ihnen allen noch am wenigsten Zeug dabei hatte, hatte sich seinen Koffer einfach über die Schulter geschwungen und unterdrückte ein Gähnen. Scheinbar war auch sein Schlaf ein Stück zu kurz gekommen, was Alexandra ihm gönnte.

Diese gab auf die erfreuten Reaktionen ihrer zwei eher sorglosen Anhängsel allerdings nur ein Stöhnen von sich. Vielleicht konnten sie so aber wenigstens die Vampire abschütteln und alleine schon das fand sie sehr erfreulich. Eine Sorge weniger hätte einiges für sich.

Nur musste sie leider feststellen, dass wie eigentlich immer nichts nach Plan lief.

Kaum traten sie aus dem kleinen Hotel, fühlte Alexandra eine unheimliche, ihr aber leider sehr bekannte Gier und Mordlust. Und sie kannte nur eine Gruppe von Lebewesen, die ihr das Gefühl vermittelte eine lebendige Mahlzeit darzustellen.

„Raul“, sprach Stella das aus, was Alexandra gedacht hatte.

„Mit seiner Schlägertruppe“, fügte sie nur noch hinzu.

Seth und Azraél hatten natürlich ebenfalls bereits gemerkt, dass die Leute um den Eingang des Hotels herum keine Menschen waren. Zwei waren bereits hinter sie getreten und versperrten den Weg zurück in die Lobby. Diesmal waren sie sehr schlau vorgegangen, Alexandra und die anderen drei waren vollständig umzingelt.

„Wie schön, ihr habt uns nicht vergessen“, lächelte besagter Vampir und trat mit Rick nach vorne, „Aber ihr wollt uns schon verlassen? Wir wollten euch doch gerne zum Mittagessen einladen.“

Was für eine rosige Art das eigentliche Vorhaben auszudrücken.

„Zu dumm, wirklich“, erwiderte Alexandra auf ähnlich freundliche Weise, anscheinend legte der Anführer der blutdurstigen Gruppe heute Wert auf eine bessere Ausdrucksweise, „Aber leider geht unser Flug in knapp zwei Stunden und wir können es uns nicht leisten ihn zu verpassen. Vielleicht kommen wir ein anderes Mal auf die Einladung zurück.“

Wie zum Teufel kamen sie heil aus dieser heiklen Situation heraus? Im Gegensatz zum letzten Mal schienen die Vampire heute auf großen Widerstand vorbereitet zu sein und waren dementsprechend wachsam. Und da Alexandra ihr Schirm fehlte und nach Ryans Bitten auch seine Bratpfanne bei ihm in der Wohnung gelassen hatte, konnte sie sich den Gedanken, sich einfach durch die Reihen der Blutsauger zu schlagen, abschminken.

„Es ist wirklich eine Schande, aber ich kann euch nicht erlauben diesen Flug zu nehmen“, entgegnete Raul, „Wir haben extra für euch eine große Feier organisiert und es wäre zu schade, wenn ihr sie verpassen würdet.“

„Ihr seid immerhin unsere Ehrengäste“, fügte Rick mit einem hämischen Grinsen hinzu.

„Was jetzt?“, fragte Azraél leise.

Alexandra überlegte immer noch fieberhaft, doch ihr Kopf fühlte sich dumpf an, was anscheinend noch von den Kopfschmerzen kam. Ihr wollte einfach keine Idee kommen, wie sie sich aus diesem Schlamassel befreien konnten.

„Ihr braucht gar nicht erst versuchen zu fliehen“, bemerkte Raul, „Ihr seid vollständig umzingelt und wenn ihr nur eine falsche Bewegung macht, werden meine Freunde hier euch Manieren beibringen. Also seid brav und kommt mit, der Weg ist nicht weit.“

Alexandra hätte am liebsten etwas erwidert, doch das schien das Stichwort zu sein und die Vampire kamen ihnen bedrohlich nahe. Mit Raul und Rick an der Spitze bewegte sich die dreizehn Vampire starke Truppe mit ihren Gefangenen durch die Straßen, bis sie nur gut sechs Minuten später vor einer riesigen Villa standen, wo direkt nebenan noch ein Neubau errichtet wurde. Im Gegensatz zu dem prächtigen Herrenhaus wirkte der halbfertige Neubau jedoch fast schäbig.

„Wow, Stil haben sie, das muss man ihnen lassen“, stellte Seth erstaunt fest.

„Danke“, lächelte Raul über seine Schulter, woraufhin Seth anscheinend beschloss lieber seine Klappe zu halten und hinter Azraél zu bleiben. Weise Entscheidung.

Es ging erst durch die nobel eingerichteten Räume des Herrenhauses und dann aber hinunter in den Keller. Zudem liefen sie auf dem Weg mehrmals anderen Vampiren über den Weg, weiblichen wie männlichen. Es dauerte auch nur gut zwei Minuten, dann klebten zwei nur äußerst spärlich bekleidete Vampirblondienen an Raul, welcher es sich nicht nehmen ließ sie an einigen unsäglichen Stellen zu betatschen.

Seth entgleisten dabei fast die Gesichtszüge, Stella presste sich beide Hände vor die Augen – scheinbar kannte sie das noch von früher – und Azraél verzog eine halb belustigte und halb ungläubige Miene, während Alexandra nur den Kopf schüttelte. Dieser Typ war nicht nur mächtig und hinterlistig, sondern dazu auch noch pervers. Gab es denn keine Regeln, die so etwas verboten?

Raul wurde obendrein noch von einigen weiteren Vampirdamen mit verführerischen Lächeln begrüßt, Alexandra vermutete daher dieses verschwenderisch große Ego des Vampirs.

Schließlich kam die Eskorte dann in einem der hinteren Kellerräume an, wo Alexandra mit ihren Kletten unsanft hineingestoßen wurde. Unmittelbar danach wurde die Tür mit einem Krachen geschlossen und verriegelt. Somit saßen sie erstmal fest.

„Na super“, stöhnte Alexandra lediglich.

Es gab nicht ein Fenster in dem Raum, der durch zwei bis fast zur Mitte reichenden Trennwänden in einen vorderen und hinteren Bereich getrennt wurde, und dank der verschlossenen Tür auch keinen anderen Ausweg.

„Jetzt sind wir also doch geschnappt worden“, stellte Azraél erstaunlich gelassen fest.

Stella war zwar sichtlich beunruhigt – sie hatte ganz eindeutig große Angst vor dem, was sie erwartete, was verständlich war – doch sie seufzte nur.

„Kopf hoch“, versuchte Seth seine Freundin aufzumuntern, „Wir finden schon einen Weg nach draußen. Nicht Alex?“

„Wenn du deine Klappe halten würdest, könnte ich vielleicht nachdenken“, entgegnete diese missbilligend. Nur leider musste sie zugeben, dass ihr im Augenblick nichts einfallen wollte. Das Dröhnen in ihrem Kopf schien ihren gesamten Denkprozess zu stören, worüber sie selbstverständlich sehr erbaut war. Die Kopfschmerztabletten befanden sich natürlich in ihrem Koffer, den sie wie die anderen auch vor dem Hotel hatte fallen lassen, als die Vampire sie abgeführt hatten, weshalb ihr nichts anderes übrig blieb als zu versuchen so weiterzukommen. Irgendetwas musste ihr doch einfallen.

Als jedoch plötzlich ein leises Stöhnen zu hören war, erstarrten alle vier zu Salzsäulen.

„Das war nicht dein Magen, oder Seth?“, fragte Stella flüsternder Weise.

„Der gibt andere Geräusche von sich“, antwortete der Junge.

„Das kann ich bezeugen“, stimmte Azraél zu, „Aber das war eindeutig ein Stöhnen.. es scheint von hinter der Wand zu kommen.“

Misstrauisch blickten sie in die angegebene Richtung. Hinter einer der beiden Trennwände schien sich etwas oder jemand zu befinden, dessen Absichten sie nicht kannten und der mit Pech dazu da war ihnen ein paar ausgewachsene Probleme zu bereiten.

Volle zwei Minuten verharrten die vier an ihren Positionen und lauschten. Wenn sie ganz genau hinhörten, konnten sie ein kaum vernehmbares, schweres Atmen hören. Es klang richtig unheimlich. Alexandra vermutete Böses, doch zur selben Zeit kam ihr in den Sinn, an was sie dieses flache Stöhnen erinnerte. An jemanden, der nur gerade eben noch am Leben war.

Da sie nicht ewig wie die Gartenzwerge dort auf dem Boden hocken konnten, richtete sie sich schließlich auf. Nach reiflicher Überlegung war sie zu dem Schluss gekommen, dass was auch immer sich dort hinter der Wand befand, wäre es ihnen feindlich gesinnt, schon dreimal angegriffen hätte.

„Bist du verrückt?“, fragte Seth erschrocken.

„Vielleicht“, antwortete Alexandra schlicht und ging langsam auf den Durchgang zwischen den beiden Wänden zu.

Stella, Seth und Azraél beobachteten sie skeptisch und waren bereit ihr jederzeit zur Hilfe zu kommen.

Gerade als sie fast bei dem Durchgang war, war plötzlich ein rasselndes Geräusch zu hören und sie hob augenblicklich beide Arme zur Verteidigung. Aber auch nach zwanzig langen Sekunden kam nichts hervorgesprungen und so wagte sie die letzten Schritte, ehe sie vorsichtig an den Wänden vorbei spähte.

Es gab nicht viel zu sehen, der Bereich sah genauso aus wie der, in dem ihre drei Anhängsel hockten. Nur befand sich hier eine Person. Ein Mann mittleren Alters, wie Alexandra schätzte, der jedoch mit Ketten an die Wand gefesselt war. Seine kurzen Haare waren schwarz und zerzaust. Der Dreitagebart ließ darauf schließen, dass er auf jeden Fall schon länger hier unten war. Seine Augen waren geschlossen und er atmete unregelmäßig. Zudem gehörte er auch eindeutig nicht zu den Vampiren. Alexandra konnte durch die dunklen und teilweise zerrissenen Klamotten einige ernste Verletzungen an seinem ganzen Körper ausmachen und würde er zu denen gehören, würden sie ihn bestimmt nicht so unachtsam hier liegen lassen. Schon gar nicht angekettet.

„Ihr könnt euch beruhigen“, sagte sie leise und blickte zu den drein hinter sich, „Wer auch immer der Mann hier ist, in seinem Zustand wird er nicht in der Lage sein uns irgendetwas zu tun. Er könnte wohl eher selber einen Notarzt gebrauchen…“

Daraufhin kamen Stella, Seth und Azraél zu ihr und lugten um die Trennwände.

„Papa!“, rief Stella dann plötzlich, woraufhin die Jungen und Alexandra sie verdattert anstarrten.

„Papa!“, wiederholte das Mädchen und lief zu dem Gefesselten. Sie kniete sich vor ihn und starrte seine duzenden Verletzungen entsetzt an. „Das ist mein Vater.. Papa! Hörst du mich? Papa!“

Es dauerte einen Augenblick, bis Alexandra das verarbeitet hatte. Sie hatte ja mit einigem gerechnet, aber hier jetzt plötzlich Stellas Vater aufzutreiben gehörte zu den Dingen, mit denen sie nun gar nicht gerechnet hatte.

„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte sie ernst, „Du hast ihn immerhin seit über acht Jahren nicht mehr gesehen…“

„Er ist es!“, antwortete Stella entschieden, „Ich würde seinen Geruch nie vergessen oder gar verwechseln. Das ist mein Vater…“ Sie sah ihn sorgenvoll an.

Die beiden Jungen sahen einander nachdenklich an und auch Alexandra musste überlegen, was sie jetzt machen sollten. Die Flucht von hier gestaltete sich ohnehin schon kompliziert und nun würde es wohl darauf hinauslaufen, dass sie auch noch Stellas Vater irgendwie mitnehmen mussten. Wobei Alexandra es wahrscheinlich auch nicht fertig bringen würde ihn hier zu lassen, so wie der arme Mann zugerichtet war. Trotzdem trug dieser Umstand nicht gerade zur Verringerung ihrer Probleme bei.

Auf einmal riss der Vampir jedoch seine Augen auf und schoss mit einem Ruck nach vorne. Seinen Mund weit geöffnet und die langen, spitzen Eckzähne gebleckt war es nur allzu deutlich, was er von Stella wollte. Ihr Blut.

Alexandra aber war schneller. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig ihm ihre Faust von oben herab auf den Kopf zu rammen und damit zu verhindern, dass Stella als sein Mittagessen endete. Diese und auch Seth und Azraél starrten den Mann nur erschrocken an, der unter Alexandras Schlag nachgegeben hatte und den Kopf hängen ließ. Allerdings begann er nur zwei Sekunden später damit sich erneut gegen die Ketten aufzulehnen, mit denen er an die Wand gefesselt war.

Dann fing Stella sich wieder und rief noch halb verschreckt: „Papa! Ich bin´s Papa! Stella! Deine Tochter!“

Der Vampir stockte in seinem Versuch sich von den eisernen Fesseln zu befreien. Seine leicht getrübten, aber wie bei Stella schönen, hellgrünen Augen richteten sich das erste Mal bewusst auf das Mädchen vor ihm.

„St-Stella…“ Er sah sie völlig ungläubig und fassungslos zugleich an. „Du lebst…“

Der jungen Halbvampirin stiegen nun sogar Tränen in die Augen und sie vergrub ihr Gesicht in seiner Brust, wobei er wegen der Verletzungen dort zusammenzuckte und das Gesicht verzog. Jedoch sah er sie anschließend erleichtert an und hätte sie höchst wahrscheinlich in die Arme geschlossen, wären seine Hände nicht nach wie vor mit eisernen Ketten an die Wand gefesselt.

„Wow“, brachte Seth nur nach einigen Sekunden hervor, „Das ist mal ein Wiedersehen…“

Daraufhin sah der Vampir die restlichen Anwesenden augenblicklich argwöhnisch an. „Wer seid ihr?“, fragte er mit tiefer, heiserer Stimme. Sein Misstrauen war nicht zu übersehen.

Seth wich bei seinem feindseligen Blick glatt zwei Schritte zurück, sodass er Azraél in die Arme stolperte. Es sah beinahe so aus als ob er gegen eine Wand stieß, Azraél bewegte sich keinen Millimeter und sah den Jungen vor sich nur vielsagend an. Manchmal konnte Seth einem schon fast leidtun.

„Jedenfalls keine Feinde“, erwiderte Alexandra, die sich von dem finsteren Blick des Vampirs nicht ins Boxhorn jagen ließ.

Die relativ vage Antwort ließ die Augen des Mannes ein Stück schmaler werden und ein leises, aber durchaus furchteinflößendes Knurren drang aus seiner Brust.

„Sie sind meine Freunde.“ Stella schien sich langsam wieder zu fassen und setzte sich aufrecht vor ihn hin. „Du kannst ihnen vertrauen.“

So ganz schien das den Vampir noch nicht zu überzeugen, doch er hörte immerhin damit auf die anderen drei anzuknurren. Einige Sekunden lang herrschte wieder Schweigen im Raum, keiner schien recht zu wissen, was er jetzt sagen sollte.

Schließlich seufzte Alexandra. „Und damit wären wir wohl wieder beim Ausgangsproblem“, stellte sie nüchtern fest, „Wie kommen wir hier raus, bevor die Blutsauger da oben auf die Idee kommen uns allen den Gar auszumachen?“

„Gute Frage“, gestand Stella, „Ich hab keine Ahnung, aber…“ Sie blickte unsicher zu ihrem Vater.

„Mir ist schon klar, dass du ohne ihn nicht von hier verschwinden wirst“, bemerkte Alexandra, „Die Frage bleibt aber trotzdem die Gleiche. Und ihr Jungs könnt euch übrigens auch mal nützlich machen und eure Gehirne benutzen.. wenn ihr denn so etwas besitzt und nicht bloß Stroh im Schädel habt.“

„Keine Sorge, da ist durchaus noch was anderes als heiße Luft in unseren Köpfen vorhanden“, erwiderte Azraél in vielsagendem Tonfall, „Nur in einer praktisch ausweglosen Situation wird selbst dem besten Gehirn nichts einfallen, also…“

„Von wegen ausweglose Situation“, konterte Alexandra, „Ihr seid bloß zu faul eure grauen Zellen mal etwas anzustrengen.“

Seth, der sich still und heimlich von den beiden Streithähnen entfernt hatte, sah nun den kleinen, metallenen Kasten in seiner Hand verwundert an, der sich in seiner Hosentasche befunden hatte.

„Dann mach du es doch besser“, entgegnete Azraél unbeeindruckt, „Ich hab bisher auch noch keine Vorschlag von deiner Seite gehört.“

Mit meinen Kopfschmerzen könntest du noch nicht mal denken…

„Wieso soll immer nur ich meinen Kopf anstrengen?“

„Ähm…“, versuchte Seth auf sich aufmerksam zu machen.

„Wer verlangt denn, dass wir immer auf ihn hören und uns an seine Anweisungen halten?“, erwiderte Azraél provokant, „Du verbietest es uns doch praktisch selber nachzudenken.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, etwas dergleichen behauptet zu haben.“ So langsam näherte sich Alexandras Gedultsfaden dem Ende. „Außerdem habe ich lediglich die Führung übernommen, da wir bei eurem Führungstalent schon vor Tagen geschnappt worden wären.“

„Ähm, Leute“, versuchte Seth es erneut, aber erfolglos.

„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, dank deiner Führung sitzen wir jetzt hier drin.“

„Wenn du unzufrieden bist, dann bring uns doch wieder raus.“

„Ist es mein Fehler, dass wir hier gelandet sind?“

„Zum Teil ja“, antwortete Alexandra prompt, „Dir hätte ja auffallen können, dass der Vordereingang des Hotels von Raul und seinen Leuten umstellt war.“

Seth nahm seinen ganzen Mut zusammen und rief: „Leute!“

Daraufhin drehten Alexandra und Azraél beinahe perfekt synchron die Köpfe und sahen ihn genervt an. „Was?!“

Stellas Vater hatte bei der netten Diskussion lediglich eine Augenbraue hochgezogen und auch Stella blickte mit einem schiefen Lächeln in die Richtung von Seth.

Dieser hob in dem Moment die Hand mit dem kleinen Kästchen. „Ich hab gerade festgestellt, dass ich mein Dietrichset noch in der Tasche hatte.“

Etwa drei Sekunden lang herrschte Stille.

„Und das fällt dir jetzt auf?“ Alexandras linkes Auge zuckte.

„Äh.. ja…“ Seth kratzte sich verlegen an der Schläfe. „Besser spät als nie.. oder…?“

Alexandra stöhnte herzhaft und schluckte die Kommentare herunter, die ihr gerade auf der Zunge lagen. „Immerhin ist es dir überhaupt noch aufgefallen.“

 

Kapitel 15: Nichts wie weg von hier

Der Saal aus hellem Marmor war riesig. Draußen dunkelte es bereits und durch die vielen vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster konnte man die tief hängen Wolken wandern sehen. Mehrere Kronleuchter verströmten ein angenehmes Licht.

Weiter hinten auf einem samtenen, mit Goldbrokat geschmückten Sessel saß der höchste aller Dämonen in dieser Zwischendimension. Heute trug er ein blutrotes Hemd und eine pechschwarze Hose, auf die Krawatte verzichtete er. Seine langen, zu einem Zopf zusammengeflochtenen und tief dunkellilanen Haare reichten fast bis auf den Boden und seine dunkelgrauen Augen funkelten.

Raphael betrachtete das runde Weinglas in seiner Hand und dessen Inhalt. Ein wirklich köstliches Getränk, das die Menschen hervorgebracht hatten. Wohlschmeckend aber nicht zu aufdringlich.

„Mein Fürst.“ Yassir, mit seinen knapp dreihundert Jahren der jüngste Dämon, der jemals eine höhere Position im Rat bezogen hatte, verneigte sich vor ihm.

„Willkommen, mein junger Schüler“, sagte Raphael, der mit seinen über zweitausend Jahren natürlich bei Weitem älter war und auch zu den Ältesten seiner Rasse zählte, „Du bist über den Stand meines kleinen Spiels informiert, habe ich Recht?“

„Von den ehemals dreizehn Spielern sind noch Sieben übrig“, antwortete Yassir. Seine dunkelblauen Haare reichten ihm beinahe bis auf die Schultern. „Allerdings haben drei von ihnen offensichtlich kein Interesse daran weiter daran teilzunehmen. Nathalie Grönhall hat die Jagd erst vor kurzem aufgegeben, nach einem Treffen mit Alexandra Davin, Ryan Bellmond hat ja noch nie Interesse an dem Spiel gezeigt und Alexandra Davin scheint auch nach ihrem Gedächtnisverlust ihre Meinung nicht geändert zu haben.“

„Sehr gut.“ Raphael klatschte. „Und du brauchst nicht immer so förmlich zu sein. Richte dich auf, Yassir.“

„Natürlich.“ Der junge Dämon tat wie ihm geheißen.

Der Dämonenfürst betrachtete unterdessen wieder das Getränk in seiner Hand. „Da sich mittlerweile aber herauskristallisiert hat, welcher meiner Kandidaten der Träger des verlorenen Buches ist, können wir dieses Spiel beenden. Bereite alles dafür vor das Buch von Alexandra zu trennen.“

„Zu Befehl.“

„Und verabreiche unserem geschätzten Azraél noch mal eine kleine Lektion“, fügte Raphael noch mit einem düsteren Ausdruck in den Augen hinzu, „Ich halte nichts davon Verräter einfach so davonkommen zu lassen. Und ihr beide wart euch ja nie ganz einig, ich denke, es wird recht amüsant für dich werden.“

„Wie ihr Wünscht“, sagte Yassir und ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

 

Mithilfe einiger seiner Dietriche schaffte Seth es schließlich erstmal die recht altmodischen Fesseln von Stellas Vater, der im Übrigen Victor hieß, zu knacken. Zwar war der arme Vampir ziemlich mitgenommen und strackste erstmal eine Weile lang ziemlich ungelenk durch den Raum, bis er seine Glieder – vor allem seine Arme – wieder einigermaßen eingerenkt hatte. Die Verletzungen schienen ihm zuzusetzen und Alexandra vermutete, dass Victor bestimmt schon seit längerem nichts mehr gegessen hatte – weswegen er sich vermutlich auch zuvor so auf die Neuankömmlinge gestürzt hatte – doch voll aufgerichtet und mit allmählich wieder etwas wacheren Augen machte er gar keinen so schlechten Eindruck. Auch wenn er offensichtlich immer noch misstrauisch war.

Weitere fünf Minuten später schaffte Seth es dann wie durch ein Wunder auch, dass das Schloss der Tür mit einem leisen Klick aufsprang.

„Na also“, sagte Alexandra nur zufrieden, „Nichts wie raus hier.“

„Gedenkt ihr Rauls Leuten direkt in die Arme zu laufen?“, fragte Victor prompt unfreundlich, „Das…“

„Nein“, unterbrach Alexandra ihn schlicht, „Wir benutzen Sie als Köder.“

Stella sah sie daraufhin entgeistert an, Azraél und Seth wirkten auch etwas verblüfft und Victors Blick hätte in dem Augenblick wohl töten können.

„Quatsch.“ Alexandra sah die Truppe vielsagend an. „Als wüsste ich nicht, dass die Sinne von euch Vampiren zu scharf sind, um einfach so ausgetrickst zu werden.“

„Und wie sollen wir dann hier raus kommen?“, fragte Seth mit schief gelegtem Kopf.

„Lass das mal meine Sorge sein“, erwiderte Alexandra und tippte die übliche Nummer ein.

„Diese Telefonbekannte?“ Azraél runzelte die Stirn.

„Klappe.“

„Na, ist es wieder so weit?“, fragte Chain mit wie üblich guter Laune.

„Hm, man könnte eher sagen, dass es schon zu spät ist“, antwortete Alexandra und seufzte, „Durch das versteckte JPS Signal dieses Handys solltest du meine Position kennen, oder?“

„Natürlich.“

Victors finsterer Blick haftete auf dem Mädchen mit dem Handy.

„Wir werden hier raus kommen“, bemerkte Stella plötzlich an ihren Vater gerichtet, welcher sie daraufhin leicht verwirrt ansah, „Wenn Alex diesen Ton anschlägt, kann gar nichts mehr schief laufen.“

„Gut“, sagte Alexandra, „Wir brauchen ein Ablenkungsmanöver, das sogar eine Bande Vampire aus dem Konzept bringt und aus dem Haus lockt. Kannst du das?“

„Soll das eine Herausforderung sein?“ Das sichere Schmunzeln klang in ihrer Stimme mit. „Sie sollten die Antwort doch wissen. Wann soll es losgehen?“

Nun lächelte auch Alexandra finster. „Jederzeit.“

Ein gewaltiger Knall ließ die Erde heftig erzittern. Stella und Seth rangen mit ihrem Gleichgewicht und auch Victor ging bei der plötzlichen Erschütterung beinahe in die Knie. Selbst hier unter der Erde konnten sie das Aufheulen etlicher, verschiedenster Sirenen hören. Vermutlich war in der unmittelbaren Nähe irgendetwas Großes in die Luft geflogen.

Alexandra klappte das Handy zu und sah über ihre Schulter. „Jetzt oder nie.“

Ihre Anhängsel starrten sie einen Moment lang ungläubig an, ehe sie sich wieder einigermaßen fassten.

„Was wenn sich Leute…“, setzte Seth an.

„Kein Grund zur Sorge“, schnitt Alexandra ihm das Wort ab, ehe er seine Frage überhaupt ausformulieren konnte, „So wie ich Chain kenne, hat sie sich an dem leer stehenden Neubau nebenan vergriffen und da heute Samstag ist, werden sich dort auch keine Bauarbeiter befunden haben.“

Wieder herrschte verblüfftes Schweigen.

„Wenn dann jetzt alles geklärt ist“, fuhr sie genervt fort, „Sollten wir vielleicht endlich von hier verschwinden. Ich denke nicht, dass sich unsere blutdurstigen Freunde allzu lange von dem Feuerwerk beeindrucken lassen.“

Es ging von einem Raum in den Nächsten und wie Alexandra spekuliert hatte, waren sämtliche Vampire durch den plötzlichen Knall abgelenkt und alleine schon aus Neugier nach draußen gelaufen, sodass sie vergessen hatten Wachen unten zu lassen. Nun war es nicht weiter schwer bis zur Treppe zu kommen, die hoch ins Erdgeschoss führte.

„Gibt es einen Hinterausgang?“, fragte Alexandra über ihre Schulter den Erwachsenen, „Sie dürften hier doch auch normal gelebt haben.. bis zu dem kleinen Vorfall zumindest.“

Der Vampir sah sie kurzzeitig glatt entsetzt an, ehe sein Blick zu Stella wanderte.

„Hehe, ich hab ihnen erzählt, was damals passiert ist“, gestand sie leicht zerknirscht.

Das schien ihm nicht so ganz zugefallen, zumindest verzog er entsprechend das Gesicht.

„Was ist denn daran so schlimm?“, fragte Alexandra, „Habt ihr dieses komische Rassendenken? Vampire dürften sich nur in Vampire verlieben? Das erinnert mich irgendwie an die Geschichte mit dem Nazideutschland und ich werde nie verstehen, was daran so schlimm sein soll. Ist es nicht egal, ob sich ein Vampir nun in einen Vampir oder einen Menschen verliebt, solange die Gefühle echt sind?“

Der Vampir sah sie nun ernsthaft ungläubig an.

„Und vergessen Sie nicht, was Ihnen diese Beziehung Wunderbares gelassen hat“, fügte sie noch hinzu und sah dem Mann in die Augen. Jedoch vernahm sie zugleich das leise Geräusch einer sich öffnenden Tür von irgendwo anders im Haus. „Wenn Sie nicht wollen, dass Ihnen das auch noch genommen wird, dann antworten Sie mir endlich“, zischte sie ernst.

Victor schien ebenfalls bemerkt zu haben, dass sich die Gefahr nun wieder näherte und sie nicht viel Zeit hatten. Er lief an ihr vorbei und Alexandra folgte ihm sofort, mit ihren drei Anhängseln gleich hinten dran. Sie hasteten so leise wie möglich durch einen breiten Flur und bogen dann in einen wesentlich schmaleren ab. Die teure Einrichtung, die sie im Vorbeilaufen bewundern konnten, löste in Alexandra irgendwie ein melancholisches Gefühl aus. Na ja, immerhin war sie laut ihren Kenntnissen ebenfalls in einer großen Villa mit wahrscheinlich ähnlicher Einrichtung aufgewachsen. Dabei fiel ihr auf, dass dieses Gefühl nicht nur von dem Wissen darüber in ihrem Kopf herrühren konnte. Bevor sie sich aber weitere Gedanken darüber machen konnte, rief schon das nächste Problem.

Victor blieb abrupt stehen und Alexandra musste die Notbremse ziehen, um nicht in den Mann hineinzustolpern. Seth landete bei dem plötzlichen Stopp beinahe auf der Nase und Stella ruderte ebenfalls mit den Armen, aber Azraél konnte beide noch festhalten, bevor sie eine unelegante Bruchlandung hinlegten.

Eigentlich wollte Alexandra dem Vampir eine ausgefallene Beschimpfung an den Kopf werfen, doch ein Blick an ihm vorbei erübrigte die Erklärung ihres Schlamassels.

„Ich weiß nicht wie ihr es geschafft habt von dort unten auszubrechen“, bemerkte Raul, der mit Rick und fünf weiteren Leuten hinter der geöffneten Tür nach draußen in den hinteren Teil des Gartens stand, „Und ich vermute, die Explosion geht auch auf euer Konto, aber hier ist Endstation.“

„Hooo.“ Rick wollte wohl auch mal auf sich aufmerksam machen. „Victor.. es wundert mich, dass du in deinem Zustand überhaupt aufrecht gehen kannst. Nachdem du jetzt schon seit über einem Monat kein Blut mehr bekommen hast, solltest du nicht lieber zuschlagen, solange da noch vier Mahlzeiten hinter dir stehen? Oder denkst du, du kommst so völlig entkräftet gegen uns an? Ist ja lächerlich.“

Stellas Vater bleckte die Zähne und seine Hände zuckten, als wollte er sich nur zu gerne auf die Vampire vor sich stürzen. Jedoch konnte Alexandra sich denken, dass er gleichzeitig auch noch gegen seinen Hunger nach Blut ankämpfen musste. Dann schien Victor wirklich auf die sieben losgehen zu wollen, doch Alexandra hielt ihn am Oberarm zurück. Der Vampir fauchte sie daraufhin drohend an und kam ihr mit seinen Zähnen verdammt nahe, aber sie erwiderte einfach nur seinen Blick. Letztlich, als Stella sich schon dazwischen schieben wollte, drehte sich ihr Vater jedoch wieder weg und verzog nur arg angesäuert das Gesicht.

„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Seth beunruhigt.

„Ihr werdet gar nichts machen“, antwortete Raul plötzlich verheißungsvoll und kam einen Schritt näher, ehe sich ein düsteres Lächeln auf seine Lippen schlich, „Ihr könnt euch freuen, meine Damen. Die Vorbereitungen für eure Hinrichtung sind abgeschlossen, also würdet ihr mir jetzt bitte folgen. Die Show wird schon in wenigen Minuten beginnen.“

„Sie haben eine geschmacklose Ausdrucksweise und scheinen uns ja wirklich für komplett bescheuert zu halten“, konterte Alexandra und trat ihrerseits vor die anderen, wobei ihr sehr wohl klar war, dass sie keinerlei Plan hatte. Zudem verschwamm das Bild vor ihren Augen allmählich leicht und ihr Kreislauf schien ebenfalls mit leichten technischen Problemen zu kämpfen. Sie brauchte ganz schnell eine rettende Idee, bevor ihr Kopf endgültig den Geist aufgab.

„Ganz schön mutig“, erwiderte Raul und kam mit seiner Truppe noch einen Schritt näher, „Aber leider endet eure Reise hier nun endgültig. Schnappt sie euch.“

Das Letzte war an die sechs Vampire hinter ihm gerichtet, dich sich nun mit Freude auf die völlig schutzlosen Flüchtlinge stürzten. Allen voran Alexandra schien ihr Ziel zu sein, die natürlich auch ganz vorne stand und die sechs Angreifer nur erschrocken anstarrte. Warum musste ihr sonst so erfinderischer Verstand ausgerechnet jetzt unter Betriebsstörungen leiden?!

Gerade als sie damit rechnete, dass einer der Vampire sie erwischte, tauchte plötzlich jemand vor ihr auf.

„Hört auf mich zu verarschen“, sagte Azraél in drohendem Tonfall. Die rotbraunen, wenn auch mehr roten, Iris seiner Augen glühten und im nächsten Augenblick waren die sechs Blutsauger plötzlich in schwarze Flammen gehüllt.

Diese schrien erschrocken auf und fielen sofort zu Boden. Sie wälzten sich hin und her und versuchten das Feuer abzuschütteln, das ihnen gerade die Klamotten verbrannte und mit Sicherheit alles andere als kühl war. Sie krümmten sich vor Schmerz, fast wie verendende Insekten, unter Azraéls tödlichem Blick.

„Azraél!“, rief Alexandra jedoch.

Der Dämon blinzelte daraufhin und es hatte fast den Anschein, dass er aus einer Art Trance erwachte. Oder aus einem viel ernstzunehmenderen Zustand, der einzig und allein das Ausschalten seiner Feinde vorsah. Sobald seine Augen aufhörten so unheimlich zu glühen, erlosch auch das finstere Feuer. Noch schien es keine allzu ernsten Schäden hinterlassen zu haben.

Raul starrte ihn beinahe fassungslos an, ehe er seine leicht angebrannten Gefolgsleute mit gemischten Gefühlen ansah. Als könnte er nicht glauben, was mit ihnen passiert war.

Azraéls Augen weiteten sich im nächsten Augenblick. Sein Atem ging mit einem Mal stoßweise und er schwankte, das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen. Er fasste sich mit einer Hand beinahe krampfhaft an die Brust. Das war der Rückstoß, der immer dann kam, wenn ein Dämon ohne Vertrag mit einem Fürsten seine Kräfte einsetzte. Nur hatte Azraél nicht damit gerechnet, dass er so schnell und mit solch starken Schmerzen eintrat.

Als es dann gerade den Anschein hatte, dass er wirklich umkippte, griff Alexandra ihm unter den Arm. Es war eigentlich mehr ein Reflex, doch ehe ihr das richtig auffallen konnte, nutzte Victor plötzlich die Chance, die Rauls Unaufmerksamkeit ihm bot.

Mit einem Satz stand er neben dem Anführer des Clans, um den es sich bei der Ansammlung von Vampiren hier zu handeln schien. Raul gab ein überraschtes und gleichzeitig verärgertes Fauchen von sich, als Stellas Vater ihm mit seinen auf einmal dolchartig längeren Fingernägeln eine tiefe Schnittwunde in der Magengegend verpasste. Scheinbar war da jemand auf blutige Rache aus. Nur war die Idee überaus dumm.

Rauls Augen bekamen ebenfalls diesen gefährlichen roten Schimmer, der auch in Victors Augen lag, und mit gebleckten Zähnen und ausgefahrenen Klauen ging er zum Gegenangriff über. Victor konnte dem Hieb direkt in Richtung Herz nur sehr knapp ausweichen und taumelte prompt. Selbst Alexandra konnte sehen, dass seine Bewegungen deutlich langsamer waren als die des Clanführers.

„Stella! Fang gefälligst deinen Vater wieder ein!“, rief Alexandra aufgebracht, während sie Azraél Seth in die Arme stieß. Dann griff sie nach einem faustgroßen Stein, ignorierte den Umstand, dass ihre Sicht immer wieder verschwamm, und zielte.

Sobald Stella Victor zu fassen bekam und es schaffte ihn von Raul wegzuziehen, bevor dieser ihm noch mehr zusetzen konnte als er es in der kurzen Zeit bereits getan hatte, schleuderte Alexandra den Stein in die Richtung des gegnerischen Vampirs. Wie durch ein Wunder traf sie ihn sogar glatt vor die Stirn.

„Bewegt euch!“, rief sie und trat selber die Flucht in Richtung hintere Gartenpforte an.

Stella zog ihren Vater mit sich und Seth und Azraél, der sich dank des langsamen Abklingens der Schmerzen in seiner Brust wieder einigermaßen gefasst hatte, folgten ihr ebenfalls. Da die Vampirtruppe nach wie vor am Boden lag und Raul nach dem harten Treffer des Steins gegen seinen Kopf einen Moment brauchte, um sich wieder zu ordnen, bekamen sie immerhin einen leichten Vorsprung.

„Wohin sollen wir jetzt?“, fragte Stella keuchend, als sie an einer Kreuzung hielten, um sich zu orientieren.

„Jetzt könnten wir wirklich Ryan mit seinem Wagen gebrauchen“, murmelte Alexandra und fasste sich mit einer Hand an den Kopf. Es sah wirklich nicht gut aus. Während der letzten Minuten war sie endlich dahinter gekommen, was ihre Kopfschmerzen und dieses Gefühl von Schlappheit zu bedeuten hatten. Sie hatte sich eine saftige Erkältung eingefangen, wahrscheinlich gleich mit Fieber. Natürlich das, was sie jetzt am meisten gebrauchen konnte.

„Wir sollten uns aufteilen“, schlug Victor vor. Scheinbar hatte er verkraftet, dass ihm vorerst noch keine Rache vergönnt war.

Stella und Seth nickten beide nur, wobei das Mädchen ein wenig betrübt wirkte.

Auch Alexandra hatte diesen leicht betretenen Unterton in der Stimme des Vampirs gehört und wusste ihn zu deuten. „Einverstanden“, sagte sie jedoch.

Er sah sie noch einige Sekunden lang durchdringend an und sie antwortete stumm. Wenn er noch etwas zu erledigen hatte, sollte er gehen, sie würde auf Stella aufpassen. Auch wenn es sie ein wenig erstaunte, dass er ihr bei seinem anfänglichen Misstrauen nun sogar seine Tochter anvertraute.

Während der Vampir bereits in einer Seitengasse verschwand, sahen sich die restlichen vier kurz an.

„Was war das denn eben gewesen?“, fragte Alexandra nun den schwarzhaarigen Jungen.

„Die Konsequenz, wenn ich ohne Vertrag mit einem Fürsten meine dämonischen Kräfte benutzte“, antwortete Azraél nüchtern, „Deswegen habe ich meine Kräfte bisher auch noch nicht in dieser Form eingesetzt. Je mehr Macht ich benutze, umso stärker ist das Echo, das mich anschließend trifft.“

Alexandra sparte sich die Frage, warum er sie von allen Momenten dann ausgerechnet vorhin eingesetzt hatte. „Gut, wir sollten uns besser auch nochmal aufteilen. Am besten wir laufen etwa zwei Stunden quer durch die Stadt und machen dann über Handy einen Treffpunkt aus. Dann sehen wir weiter.“

„Alles klar“, sagte Seth, „Und können wir dann auch was Essen gehen? Mein Magen knurrt.“

Alexandra nickte lediglich seufzend. Sie hatte zurzeit nicht den Nerv zu irgendwelchen Kommentaren bezüglich der derzeitigen Prioritäten.

„Beeilen wir uns“, sagte Stella, die eindeutig ebenfalls gemerkt hatte, dass sie ihren Vater wohl wieder eine ganze Weile lang nicht sehen würde. Alexandra sprach ihr im Stillen ein Lob dafür aus, wie gefasst sie trotz dieses Umstandes blieb.

Damit liefen die beiden auch schon los, während Alexandra sich kurz sammelte und ihren Körper zur Ordnung rief, der eine lange Pause verlangte, die sie ihm aber noch nicht geben konnte. Erst etwa drei Sekunden später fiel ihr etwas auf.

„Moment mal.“ Sie blickte stutzig über ihre Schulter. „Ich muss mit DIR volle zwei Stunden durch die Stadt rennen?“

„Sieht ganz so aus“, erwiderte Azraél gelassen, wobei er sich nur schwer ein Lächeln über diese schon beinahe empörte Feststellung verkneifen konnte.

„Na toll“, stöhnte sie lediglich. Das würde also nicht nur eine Tortur für ihren angeschlagenen Körper werden, sondern auch für ihre Nerven. Warum traf es bloß immer sie?

Dennoch joggte sie los und schlug die entgegensetzte Richtung von Stella uns Seth ein. So konnten sie die Vampire hoffentlich trotz ihrer guten Nasen in die Irre führen und letztlich abhängen. Zumindest war das der Plan, ob es funktionierte, war ja wie schon mehrfach erlebt eine andere Sache.

So ging es quer durch die verschiedenen Viertel Londons in mal mehr und mal weniger belebte Gegenden. Da es heute zumindest trocken war und nur ein paar graue Wolken am Himmel hingen, war es auch in den weniger attraktiven Gegenden nicht vollkommen trostlos.

Nach einiger Zeit schlug Alexandra dann den Weg durch ziemlich abgelegene und schmale Gassen ein, wo sich keine Leute hin verirrten, was ihr wiederum nur recht war, denn sie war mittlerweile vollkommen fertig. Ihr Kreislauf war kurz davor komplett zusammenzubrechen und Kopfschmerzen raubten ihr beinahe den Verstand.

Jedoch sah sie nicht ein, Azraél ihre schwache Seite zu zeigen, das würde ihn nur denken lassen, dass sie ihm mittlerweile verziehen hatte, und das hatte sie garantiert nicht. So schleppte sie sich durch eine der dunkleren Gassen und versuchte nicht zu sehr darauf zu achten, dass ihr Kreislauf ihr gerade vorgaukelte, dass die Welt um etwa zwanzig Grad schief stand. Allerdings war ihr Verstand durch das Fieber anscheinend ebenfalls angeschlagen und nicht in der Lage das Wissen richtig auszuwerten.

Sie schwankte kurz, dann kippte sie einfach zur Seite. Komischerweise landete sie aber nicht auf dem Boden, wie es eigentlich der Fall sein müsste. Als sie aufblickte, erkannte sie allerdings, dass das Aufschlagen auf dem harten Steinboden eindeutig die bessere Option gewesen wäre. Azraél hielt sie am Oberarm fest und sah sie leicht verwirrt an. Dann berührte er mit seiner freien Hand ihre Stirn und war eindeutig überrascht.

„Du hast hohes Fieber“, stellte er verblüfft fest.

„Was dagegen?“ Alexandra biss sich auf die Unterlippe.

Kurz schien Azraél noch leicht überrascht zu sein, dann schüttelte er auf einmal lächelnd den Kopf. „Also wirklich“, seufzte er, „Du bist die Einzige, die ich kenne, die in diesem Zustand durch die Gassen rennt.“

„Du kannst mich mal“, murmelte Alexandra nur und riss sich von ihm los, was allerdings zur Folge hatte, dass sie wieder gefährlich schwankte. Als sie gerade erneut umzufallen drohte, erwischte Azraél sie schon wieder am Arm.

„Glaubst du wirklich, dass du torkelnd wie ein Besoffener unseren geschätzten Vampiren entkommen kannst?“, fragte der Dämon mit einer hochgezogenen Augenbraue, „Dein Kopf scheint ja ganz schön angeschlagen zu sein, wenn du so unvorsichtig bist.“

Alexandra wurde langsam wirklich sauer. „Wenn´s dir nicht passt, kannst du ja gehen! Ich hab nun wirklich keine Zeit mir deine Belehrungen anzuhören...“

„Ich weiß, ich bin der böse Bube, wegen dem du inzwischen sogar schon mal gefangen wurdest“, seufzte Azraél und lächelte schief, „Aber trotzdem solltest du vielleicht auch mal auf mich hören. Wenn wir so weiter gehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns erwischen, ziemlich hoch. Wir sind nun schon so lange kreuz und quer unterwegs, dass ich nicht glaube, dass sie uns noch folgen können. Es wäre sicherer, wenn wir uns einen Ort suchen, an dem wir uns verstecken können.“

„Und wo bitte schön?“, fragte sie entnervt. Die Erkältung strapazierte ihre Nerven bereits und Azraél war gerade auf dem besten Weg sie richtig sauer werden zu lassen. „Es gibt hier nichts als Gassen und Mietwohnungen.“

„Da hast du recht“, stimmte er ihr zu, „Aber gerade da es so viele gibt, ist es vielleicht gar nicht so unüberlegt, wenn wir erstmal hier bleiben. Gerade dein erschöpfter Körper wird es dir danken, wenn du ihn nicht noch mehr belastest. Sonst wirst du bald zusammenbrechen und...“

„Lass das mal meine Sorge sein“, sagte Alexandra beherrscht und atmete tief durch, „Ich kenne meine Grenzen und die habe ich noch nicht erreicht. Außerdem hast du mir gar nichts zu sagen...“ Ein plötzlicher Schwächeanfall ließ sie beinahe in die Knie gehen. Nur mit Mühe konnte sie sich aufrecht halten, nicht zu Letzt auch dadurch, dass Azraél sie nach wie vor am Oberarm festhielt und stützte.

„Du bist unbelehrbar, weißt du das?“, fragte er und nahm sie auf einmal in den Arm, „Wenn du deinem Körper nicht von dir aus endlich eine Pause gibst, werde ich dich wohl dazu zwingen müssen.“ Er trat einige Schritte zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Alexandra musste ihm zwangsweise folgen, da er sie fest im Arm hielt.

„Was soll der Schwachsinn?!“, fragte sie entgeistert und versuchte sich zu wehren. Es gab da jedoch zwei Probleme. Einmal war ihr Kreislauf ein einziges Wrack und verweigerte bei ruckartigen Bewegungen mit dem Kopf oder anderen Körperteilen den Dienst, zweitens hielt Azraél sie so geschickt fest, dass sie sich wahrscheinlich auch bei voller Gesundheit nicht hätte befreien können. Das lag bestimmt auch an seinen blöden dämonischen Kräften.

Azraél seufzte. „Hörst du mir eigentlich zu? Ich sagte, du sollst deinem Körper endlich die Ruhe geben, die ihm zusteht.“

„Von mir aus, aber erst, wenn wir wieder bei den anderen sind.“

„Stella und Seth können auf sich aufpassen.“ Auch wenn Azraél am liebsten schon wieder seufzen wollte, verkniff er es sich. Stattdessen stellte er Alexandra einfach einen Beinhacken, da diese freiwillig wohl nicht in die Knie gehen würde. So aber hatte sie keine andere Wahl, als sich mit ihm zusammen auf den Boden sinken zu lassen. Sie starrte ihn bloß völlig verwirrt an. Jetzt saßen sie beide auf dem Boden. Azraél lehnte an der Hauswand aus roten Backsteinen und im Arm hatte er Alexandra, die immer noch halbherzig versuchte, sich zu befreien.

„Aber was glaubst du sagen sie, wenn sie herausfinden, dass du dich wegen ihnen mit bestimmt vierzig Grad Fieber durch die Stadt geschleppt hast?“, fügte Azraél noch hinzu, „Also entspann dich erstmal und gib dir selbst etwas Ruhe. Ich bin mir sicher, dass du dich wesentlich schneller erholen wirst, wenn du es jetzt nicht übertreibst.“

„D-Du glaubst doch n-nicht, dass ich m-mich so entspannen kann?“, fragte Alexandra und wunderte sich darüber, dass ihre eigene Stimme so stotternd klang. War sie auf einmal so unsicher, dass sie ihre Stimme nicht mehr im Griff hatte? Sie konnte und wollte es nicht glauben, doch leider sprachen alle Hinweise dafür. Zudem spürte sie auch, dass sie knallrot im Gesicht war. Und sie war sich nicht sicher, wie viel von der Röte jetzt von der Erkältung stammte. Immerhin saß sie seitlich vor Azraél und dieser drückte sie gegen seine Brust, was ein komisches Gefühl in ihr weckte. Sie wollte auch gar nicht wissen, was es war. Sie wollte nur von hier weg und dieser plötzlichen Unsicherheit entfliehen.

„Schhhhhh“, machte Azraél jedoch leise und musste lächeln. Dies war einer der äußerst seltenen Momente, in denen sie nicht so herrisch und unausstehlich auftrat, sondern einfach nur ein unsicheres Mädchen war.

Alexandra gab es schließlich auf, sich zu wehren. In ihrem Zustand kam sie gegen Azraél leider Gottes nicht an. Das frustrierte sie zwar, doch zur selben Zeit spürte sie auch die Müdigkeit, die sie bisher verdrängt hatte. Langsam stieg sie in ihr auf, beruhigte sie nach und nach und ließ Alexandra schließlich sanft in einen tiefen Schlaf gleiten. Es ging so schnell, dass sie es noch nicht mal bemerkte.

„Siehst du? Und keine Angst, ich weck dich, wenn was passieren sollte“, murmelte Azraél lächelnd und strich ihr sanft über das schöne, rotbraune Haar. Wenn sie schlief, sah sie wirklich süß aus. Ganz anders als wenn sie einen mit erhabener Stimme Befehle erteilte. Allerdings hatte Azraél bereits gemerkt, dass das einfach ihre Art war. Wenn man das wusste, war es aber irgendwie auch süß.

Azraél musste lächeln, als er daran dachte, dass er diese Gedanken besser nicht laut aussprach, wenn sie wach war. Das hätte mit ziemlicher Sicherheit eine satte Ohrfeige zur Folge.

 

Zur selben Zeit hatten Stella und Seth ein kleines Problem. Stella hatte sich durch ihren mittlerweile wieder längeren Verzicht auf Blut ihrer Grenze stark genähert, sie konnte ihre vampirische Seite kaum noch unter Kontrolle halten. Und Seth war der Einzige, der in der Nähe war.

Der Junge hatte um eine Ecke gelugt, doch von den Vampiren fehlte jede Spur und er atmete erleichtert aus. Als er sich zu Stella umdrehte, stand diese jedoch plötzlich vor ihm und packte ihn an den Schultern. Seth sah sie nur verwirrt an, bis sie sich auf einmal nach vorne beugte und ihn in den Halsansatz biss. Ihre Eckzähne waren deutlich länger.

Vor Schmerz zuckte er zusammen und erstarrte. Stella trank gerade sein Blut. Für einen kurzen Moment war er entsetzt, doch dann lächelte er matt. Er legte beide Arme um Stella und zog sie an sich.

Daraufhin hielt das Mädchen auf einmal inne. Sie starrte die Stelle an Seths Halsansatz nur ungläubig an. Vor lauter Fassungslosigkeit weiteten sich ihre Augen. Dann wollte sie sich von ihm wegstoßen, doch Seth hielt sie fest.

„Um Himmels Willen! Lass mich los, sonst beiß ich dich noch gleich wieder...“, flehte Stella verzweifelt und versuchte sich vor lauter Panik aus seinen Armen zu winden, doch Seth war stärker als erwartet.

„Hey, es ist alles gut“, sagte er beruhigend. Die Wunde an seinem Hals brannte zwar wie Feuer, doch er wusste ganz genau, dass das nicht Stellas Absicht gewesen war.

„Ist es nicht“, wimmerte diese mit Tränen in den Augen, „Ich hab dich gebissen. Ich hab dich gebissen, obwohl du mein Freund bist. Das ist unverzeihlich, ich...“

„Hey, hey, hey“, sagte Seth etwas unbeholfen und tätschelte ihr leicht den Kopf, „Ich bin im Reden und Vorträge halten zwar nicht so gut wie Alex, aber du musst dir um mich keine Sorgen machen. Es geht mir gut...“

„Lügner“, sagte Stella leise. Sie konnte doch spüren, dass er Schmerzen hatte.

Seth seufzte und suchte nach den richtigen Worten. „Okay, es ist schon ein Schreck, wenn man zum ersten Mal von einem Vampir gebissen wird und angenehm ist es auch nicht, aber dafür würde ich dich doch niemals verurteilen. Du bist immerhin meine Freundin und den kleinen Blutverlust werde ich schon verkraften, also hör bitte auf zu weinen. Wenn ihr Mädchen weint, weiß ich immer nicht, was ich machen soll. Tu mir also bitte den Gefallen und hör auf. Ja?“

Stella musste irgendwie lächeln, auch wenn ihr absolut nicht danach war. „Du scheinst immer noch nicht verstanden zu haben, dass ich dich jederzeit wieder als meine Mahlzeit ansehen könnte.“ Sie hatte gedacht, dass sie das unter Kontrolle hatte, doch wie sie nun feststellte, sah die traurige Wahrheit anders aus.

„Damit kann ich leben.“

Stella war sich ziemlich sicher, dass er das nur sagte, damit sie sich beruhigte. Deshalb stellte sie sich erneut auf die Zehenspitzen und beugte sich über Seths Halsansatz, als würde sie erneut zubeißen wollen. Sie öffnete sogar ihren Mund.

Seth war ein wenig überrascht, doch er hielt sie immer noch fest. Dann legte er ihr sogar eine Hand auf den Hinterkopf und drückte sie so direkt an die Stelle, an der sie ihn zuvor schon unfreiwillig gebissen hatte. Stellas Augen weiteten sich und sie schloss überrascht wieder ihren Mund, damit sie ihn nicht versehentlich noch ein zweites Mal biss. Jedoch wurde ihr dabei auch klar, dass er es wirklich ernst meinte. Er würde sie sogar freiwillig von seinem Blut trinken lassen.

„Du bist so ein Trottel“, murmelte Stella verzweifelt und vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter.

„Ich weiß“, sagte Seth lächelnd.

Eine ganze Weile lang standen sie so da, bis Stella sich wieder gesammelt hatte und sie sich vorsichtig wieder in die Richtung eines, dem Straßenlärm nach zu urteilen, belebteren Viertels aufmachten. Sie bewegten sich im schnellen Schritt voran und versuchten wie Alexandra zu denken, doch wie beide zugeben mussten, versagten sie in dem Punkt kläglich. Was das Denken anging, war sie ihnen allen überlegen. Bis auf Azraél vielleicht, wobei die beiden ihn nicht mehr einschätzen konnten. Es war alles so verwirrend geworden.

Als eine Gruppe Menschen hatten sie sich an Alexandra geheftet und als Ansammlung verschiedenster Arten flüchteten sie nun vor so ziemlich allen nichtmenschlichen Spezies, die hinter diesem seltsamen Buch her waren. Was es damit eigentlich auf sich hatte, wussten die zwei immer noch nicht. Ihnen war nur klar, dass Alexandra sich irgendwo im Mittelpunkt des ganzen befand und dass sie sie unter keinen Umständen alleine lassen würden. Immerhin war sie auf eine etwas komische Art und Weise ihre Freundin, die sie schätzten und nicht verlieren wollten.

„Bei euch scheint ja wirklich so einiges los zu sein.“

Die beiden drehten sich erschrocken um, bereit sofort die Flucht anzutreten, als sie den silbernen BMW und dessen Fahrer erkannten.

„Ryan“, stellte Stella verdattert fest, „Wie haben Sie uns…?“

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Mal muss der Mensch auch Glück haben.“

„Aber gutes Timing“, bemerkte Seth grinsend, „Mir tun langsam eh die Füße weh.“

Ryan sah sich währenddessen kurz um. „Wo habt ihr denn die Streithähne gelassen?“

„Wir mussten uns aufteilen“, erklärte Stella kurz, „Aber wir haben Alex´ Nummer gar nicht und Azraéls Handy scheint aus zu sein.“

„Mist.“ Seth wirkte nicht sehr erbaut. „Ich dachte, wir könnten uns jetzt endlich mit ihnen treffen und was Essen gehen.“

„So ein Pech auch“, murmelte Stella betreten. Wie sollten sie die anderen beiden denn jetzt finden?

„Steigt doch erstmal ein“, schlug Ryan weit gelassener vor, „Vielleicht habe ich ja noch mal Glück und lese auch Alexandra und Azraél auf.“

Da Stella und Seth auch nichts Besseres einfiel, nickten sie nur und stiegen hinten ein. Der Erwachsene fuhr eine ganze Weile durch die Straßen Londons und obwohl es teilweise angefangen hatte zu nieseln, ließ er das Fenster neben sich offen.

Schließlich bog er dann in eine dunkle Gasse ab, die jeder normale Autofahrer mit so einem breiten Auto wohl gemieden hätte, doch er bugsierte den Wagen ohne große Schwierigkeiten über den schmalen Weg zwischen den Häusern längs. Obwohl das hier, wenn Stella und Seth sich nicht täuschten, eigentlich ein Fußweg war. Beide waren etwas verwirrt, bis sie dann große Augen machten. Mit leise quietschenden Reifen kam der BMW zum Stehen und die beiden mussten kurz überlegen, ob das da vorne nicht vielleicht eine Fatamorgana war.

„Na so was, das hätte ich der Kratzbürste jetzt nicht zugetraut“, stellte auch Ryan leicht überrascht fest.

Alle drei stiegen verhältnismäßig schnell aus und kamen auf Azraél zu, der auf dem Boden saß und sie mit einem Finger auf den Lippen schmunzelnd ansah.

„W-Was…?“ Weiter bekam Seth die Frage einfach nicht. Dass Alexandra direkt vor Azraél saß und auch noch mit geschlossenen Augen an ihm lehnte, war einfach ein Anblick, der unter normalen Umständen komplett unmöglich war, egal wie sie es drehten und wendeten.

„Sie hat Fieber“, kommentierte Azraél, „Und da der Sturkopf sich keine Pause gönnen wollte, habe ich sie zwangsweise ruhig gestellt, woraufhin sie dank der Erschöpfung ziemlich schnell eingeschlafen ist.“

„Aber das ist ein Bild.“ Ryan schüttelte lächelnd den Kopf. „Davon sollte man ein Foto machen, meint ihr nicht?“

„Eigentlich schon“, musste Stella grinsend zugeben, „Ich glaube nicht, dass wir so was so schnell nochmal zu sehen bekommen.“

„Das ist ein richtiges Wunder“, fügte Seth hinzu.

„Wenn ihr das macht, seid ihr noch vor morgenfrüh mausetot“, versprach Alexandra jedoch plötzlich mit drohender Stimme und öffnete die Augen, ihr Blick war vernichtend.

„Oh oh…“ Stella und Seth wichen lieber gleich zwei Schritte zurück, während das Lächeln auf ihren Lippen etwas außer Form geriet. Das war unerwartet.

Im nächsten Moment bekam Azraél ihre Faust so kräftig gegen das Kinn, dass sein Kopf zurückschlug und dabei gegen die Backsteinwand des Hauses hinter ihnen knallte. Das dürfte ordentliche Kopfschmerzen geben.

Als Alexandra dann schwungvoll aufstand, um schleunigst von Azraél wegzukommen, meldete sich prompt ihr Kreislauf ab und sie schwankte bedenklich, ehe sie es schaffte sich an der Wand abzustützen. „Uwa.. Wackelpudding.“ So kam ihr ihr Kopf gerade wirklich vor. Wie ein glitschiger, grüner und richtig schön wabbeliger Wackelpeter.

„Alles klar?“, fragte Ryan lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue. Mit Azraél wollte er im Augenblick jedenfalls nicht tauschen.

„Ah ja, praktisch“, murmelte Alexandra und kniff kurz die Augen zusammen, „Wir fahren erstmal zu dir zurück. Der nächste Flieger nach Italien geht erst in zwei Tagen, bis dahin werden wir wohl noch deine Wohnung als Basis benutzen.. auch wenn es mir nicht wirklich gefällt…“

Sie ließ den Kopf hängen und atmete hörbar aus. Diese verfluchte Erkältung hatte sie wirklich eiskalt erwischt.

Dann schien die Wand plötzlich einfach zu verschwinden und mit einem überraschten Laut landete sie auf dem Boden. Wobei sie beim Öffnen ihrer Augen feststellen musste, dass sich unter ihr ein schwarzes Meer befand, mit der Spiegelung eines silbern leuchtenden Vollmonds.

„Also ernsthaft mal.“ Lost stemmte die Hände in die Hüften. „Du wirst noch nicht mal mit so einer kleinen Erkältung fertig? Und du sollst ernsthaft meine Meisterin werden? Das Schicksal scheint ja wirklich was gegen mich zu haben.“

„Ich würde eher sagen, dass das Schicksal mich nicht leiden kann“, erwiderte Alexandra resigniert, „Ansonsten bliebe mir dieser ganze Kram mit dir erspart und ich könnte ein normales Leben führen.“

„Hmpf.“ Sie blickte empört zur Seite.

„Was willst du dieses Mal?“, fragte Alexandra nach einigen Sekunden der Stille.

Sie stöhnte nur und begann auf einmal von innen heraus golden zu schimmern. Alexandra fühlte ein leichtes Prickeln auf der Haut und als sie die Augen aufschlug, blickte sie der besorgten Stella ins Gesicht, die sich über sie gebeugt hatte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Seth, der direkt neben ihr stand.

Nach einem gedanklichen Ganzkörpercheck hatte Alexandra auch die Antwort auf die Frage, die sie an Lost gestellt hatte.

„Ja“, antwortete sie lediglich, „Das verlorene Buch lässt grüßen, meine Erkältung hat sich gerade in Luft aufgelöst. Können wir jetzt zu dir fahren Ryan oder sollen wir uns hier noch länger als Zielscheiben aufstellen?“

„Ganz die Alte“, stellte Azraél nur mit einem leisen Lächeln fest und rieb sich nochmal kurz das Kinn. Die Gute hatte einen ganz schönen Schlag am Leib.

Kapitel 16: die Sense eines Shinigami

So verbrachte Ryan eine weitere Nacht auf der Couch im Wohnzimmer, während Alexandra, Stella, Seth und Azraél sich zu viert und mit Luftmatratzen bewaffnet ins Schlafzimmer quetschten. Da Stella und Seth durch die ganze Aufregung ziemlich müde waren, bekam Alexandra auch etwas mehr Schlaf als in der letzten Nacht. Wobei sie in Gedanken ein Dankeschön an Lost aussprechen musste, dank der sich sämtliche Symptome einer Erkältung komplett verzogen hatten.

„Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte Stella beim Frühstück den Erwachsenen.

„Hmm…“ Komischerweise schien Ryan einen Augenblick lang nachzudenken, ehe er antwortete. „Ich arbeitete für eine Organisation.“

„Und als was?“, fragte Seth mit vollem Mund.

Alexandra hätte ihn am liebsten mal in einen Crashkurs für Tischmanieren gesteckt.

Schon wieder dauerte es einen Augenblick, ehe Ryan sagte: „Ich bin dafür zuständig Dinge und Personen wiederzufinden.“

„Ein Detektiv?“, riet Stella stirnrunzelnd.

„Kann man so sagen, wobei ich niemandem nachspioniere.“

Es kam Alexandra ein wenig verdächtig vor, dass er lediglich so vage Andeutungen machte. Andererseits spielte sie auch nicht gerade mit offenen Karten also konnte sie sich schlecht beklagen. Wobei ihr auffiel, dass auch Azraél mal wieder diesen misstrauischen Gesichtsausdruck hatte, ihm schien Ähnliches wie Alexandra durch den Kopf zu gehen.

„Was denn jetzt?“, fragte Seth irritiert.

Ryan lächelte lediglich. „Auch Erwachsene haben ihre Geheimnisse. Aber falls ihr euch wundert, warum ich den ganzen Tag zu Hause bin, ich befinde mich zurzeit im Urlaub.“

„Ah ja.“ Alexandra war bereits fertig mit ihrem Frühstück und trank einen Schluck Kaffee.

„Ich seh schon“, seufzte Ryan und blickte sie über den Rand seines Brötchens hinweg an, „Auf welcher Gefährlichkeitsstufe wurde ich denn soeben eingeordnet?“

Eine von Alexandras Augenbrauen wanderte nach oben. Er war aufmerksam, das musste sie ihm lassen.

„Stufe zwei, mindestens“, antwortete Azraél lediglich.

„Dich hat niemand gefragt“, warf Alexandra resigniert ein.

Der Junge seufzte nur leise und Ryan schmunzelte vor sich hin. Wenn Alexandra nach der Rechnung der letzten Tage ging, war sie sich ziemlich sicher, dass sie demnächst auch noch eine Überraschung von Ryans Seite zu erwarten hatte. Nur hatte sie sich inzwischen so daran gewöhnt, dass sie dem schon fast gelassen entgegen blickte. Noch chaotischer als jetzt konnte es ja kaum werden. Schließlich hatte sie immer noch keine Ahnung, was sie gegen ihre ganzen verschiedenen Verfolger unternehmen konnte.

„Das ist fies.“ Stella verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte.

„Finde ich auch“, stimmte Seth zu, „Gib uns wenigstens einen Tipp.“

„Ich hab euch schon mehr als nur einen Tipp gegeben.“

„Das war aber nicht genug.“

Und so ging es noch eine Weile weiter, doch der junge Erwachsene ließ sich einfach nicht erweichen, sodass Stella und Seth nach unzähligen Versuchen schließlich aufgaben.

Da Alexandra sichergehen wollte, dass noch keiner ihrer netten Verfolger sich hier in der unmittelbaren Nähe dieser Wohnung postiert hatte, ging sie am späten Mittag nach draußen. Natürlich in Begleitung ihrer drei Anhängsel. Entgegen ihrer Erwartungen jedoch, kam ihnen aus keiner dunklen Ecke ein Vampir entgegen gesprungen und von Raphaels menschlichen Gefolgsleuten fehlte auch jede Spur. Von den Shinigamis hatte sowieso nichts mehr gehört, worüber sie sehr froh war, und in letzter Zeit war sie auch keinem Spieler mehr begegnet. Eine noch relativ gute Bilanz, wie bei den Gedanken an die letzte Zeit feststellen musste.

Trotzdem würden sie wohl besser morgen das Flugzeug nach Italien nehmen, wodurch auch Ryan hoffentlich nicht mehr in Gefahr war. Obwohl sie den Mann mittlerweile zu schätzen gelernt hatte, er hatte einige Vorzüge und war alles andere als ein Dummkopf. Er war sogar sehr aufmerksam und verdammt tolerant, wie sie feststellte. Nicht jeder hätte es einfach so hingenommen, wenn ein seit gerade mal drei oder vier Tagen bekannter Teenager seine Wohnung in Beschlag nahm. Und er stellte nicht zu viele Fragen, auch etwas, was sie sehr an ihm schätzte.

„Können wir nicht vielleicht länger hier bleiben?“, fragte Stella nach einer Weile und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, „Ich meine, Ryan ist doch wirklich nett und wir…“

„Denk mal etwas genauer darüber nach“, unterbrach Alexandra sie, „Wir, beziehungsweise ich werde gejagt und alle, die in meiner Nähe sind, ebenfalls. Wollt ihr ihn wirklich da hinein ziehen, wenn ihr ihn so nett findet? Meiner Meinung nach wäre das ziemlich unfair ihm gegenüber.“

„Stimmt schon“, musste Stella zugeben, ehe sie Alexandra etwas verwundert ansah, „Heißt das, du magst ihn?“

Die beiden Jungen hinter ihnen horchten prompt auf.

Nun war Alexandra es, die sie mit einer hochgezogenen Augenbraue ansah. „Ich schätze lediglich seine Kompetenz und Aufmerksamkeit, mit persönlichen Gefühlen hat das rein gar nichts zu tun.“ Na ja, vielleicht ein klein wenig, aber das tat nichts zur Sache.

„Du meinst wohl die ganzen Eigenschaften, die uns fehlen?“, fragte Stella ein wenig bedrückt. Ihr war klar, dass sie keine große Hilfe war. Das einzige wirklich vampirische an ihr war der Durst nach Blut. Ihre Sinne waren nicht annähernd so scharf wie die der reinblutigen Vampire und auch ihre Kampfkraft war alles andere als herausragend. Sie wünschte sich, sie könnte mehr helfen und nicht immer nur unfähig daneben stehen.

Auch Seth fühlte sich bei dem Thema elend. Obwohl er im Grunde gar kein so schlechter Kämpfer war, war er irgendwie nicht mehr in der Lage sein altes Potenzial als Shinigami zu nutzen. Ihm fehlte seine Sense. Ohne sie fühlte er sich fast hilflos, dabei wollte auch er Alexandra helfen.

Azraél verfluchte sich selbst ebenfalls. Er war ein Dämon, er besaß Macht, konnte sie aber nicht einsetzen ohne sich damit selbst k.o. zu schlagen. Zuvor hatte er seine Macht immer verbergen müssen und jetzt, wo er sie gebrauchen konnte, war er unfähig sie zu benutzen. Nur weil Dämonen ohne Vertrag mit einem Fürsten, der die Kräfte seiner Untertanen praktisch verwaltete, nicht in der Lage waren ihre Fähigkeiten kontrolliert einzusetzen. Früher war ihm dies egal gewesen, er hatte nie daran gedacht einmal den Vertrag auflösen zu wollen, aber nun konnte er nur darüber kotzen.

Alexandra konnte den drein in dem Moment vom Gesicht ablesen, was sie dachten. Sie stöhnte, denn diese Gedanken waren längst überflüssig.

Jedoch bekam sie in dem Augenblick ein komisches Gefühl und blickte nach vorne. Sie kniff die Augen zusammen, da sie gegen das Licht der hoch stehenden Sonne blickte, doch sie konnte nichts sehen. Aber irgendetwas war da. Ein unbestimmtes Gefühl warnte sie.

„Alex?“

„Was…?“ Seth starrte ähnlich wie Alexandra nach vorne. Nur wirkte er um einiges erschrockener.

„Alex? Seth?“ Stella blickte unruhig immer wieder nach vorne und zu den beiden, die beinahe zeitgleich stehen geblieben waren und nach vorne zum Ende der Gasse starrten.

„Irgendetwas ist da“, antwortete Azraél stattdessen. Er konnte nichts sehen, aber auch er spürte die Anwesenheit mehrerer Lebewesen nur ein Stück voraus. Wobei sie ihre Präsenz gut versteckt hatten, es war als würde er nur den Hauch von etwas wahrnehmen.

„Wunderbar, Drake hat also nicht gelogen“, war plötzlich eine ihnen unbekannte Stimme zu hören.

„Das verlorene Buch ist wirklich hier“, stellte eine andere Stimme fest, der man das hämische Grinsen schon anhören konnte.

„Lyes.. und Chao…“, murmelte Seth ungläubig.

„Oh, und der gute Seth ist auch hier“, kommentierte wieder der Erste, „Ich hätte nicht gedacht, dass wir ihn wirklich nochmal zu Gesicht bekommen.“

„Zeigt euch gefälligst“, befahl Alexandra plötzlich mit ernster Stimme. Sie hasste es ihre Gegner nicht sehen zu können, bei denen es sich allem Anschein nach um Shinigamis handelte. Zumindest konnte sie davon ausgehen, da die beiden und Seth sich eindeutig kannten.

„Hooo, du solltest deine Zunge besser im Zaum halten, Kleine“, erwiderte der Zweite.

Allerdings verschwamm die Luft plötzlich und im nächsten Moment waren zwei junge Männer zu sehen, der eine mit blonden und der andere mit schwarzen Haaren. Was sie gemeinsam hatten war, dass beide je ein dickes Buch in der Hand hielten.

„Aber als letzte Ehre werden wir dir diesen Gefallen erweisen, du solltest dankbar sein“, bemerkte Nummer zwei mit den blonden Locken.

„Ich sehe es schon als reine Höflichkeit, sich seinem Gegenüber zu zeigen“, konterte Alexandra unerschrockener als sie in dem Augenblick wirklich war. Wenn sie es richtig behalten hatte, konnten aus den beiden Büchern jede Sekunde schön scharfe Sensen werden, die sie so eben mal enthaupten konnten. „Alles andere wäre ziemlich feige, wenn ihr mich fragt.“

Die beiden grinsten.

„Du hast wirklich Mut“, bemerkte der Erste, „Aber der wird dich noch teuer zu stehen kommen.. und deinen kleinen Freunden ebenfalls.“

Plötzlich bemerkten Alexandra und die anderen vier, dass sie in eine Falle getappt waren. Hinter ihnen und auch auf den Dächern der Häuser neben ihnen befanden sich noch mindestens zehn weitere Shinigamis mit Sensen bewaffnet und siegessicheren Grinsen in den Gesichtern.

„Lasst sie da raus“, forderte Alexandra.

„Nichts da“, erwiderte der Schwarzhaarige, „Ich freue mich schon besonders darauf den Jungen da zu deiner Linken aufzuschlitzen.“ Seine Augen funkelten vor Vorfreude.

„Chao“, knurrte Seth und ballte die Hände zu Fäusten.

Alexandra sah ihn aus den Augenwinkeln heraus an. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Sonst hatte er mehr die Tendenz helfen zu wollen, auch wenn er nicht viel tun konnte, wobei sie ihm häufig seine Unsicherheit angesehen hatte. Doch jetzt schien er zwar unsicher, aber ein gewisser Zorn lag in seinem Blick und der verbissene Gesichtsausdruck war ihr auch völlig fremd. Das war nicht der treudoofe und leicht tollpatschige Seth mit dem alle naslang knurrenden Magen, das war eine andere Seite von ihm, die sie zum ersten Mal erblickte.

„Vergiss mich nicht“, bemerkte der andere, dessen Name demnach wohl Lyes war, der jedoch urplötzlich hinter Alexandra stand.

Ihre Augen weiteten sich, als sie die gebogene Klinge seiner Sense an ihrem Hals spürte. Er stand unmittelbar hinter ihr, bereit ihr jederzeit einfach die Kehle aufzuschlitzen. Für einen kurzen Augenblick war sie wie gelähmt, doch urplötzlich war ein Heulen zu hören. Und nicht irgendeines, es war das Heulen eines Wolfes.

Dann erklang plötzlich ein Schrei und einer der Shinigamis stürzte von dem drei Stockwerke hohen Haus, während die anderen nicht weit von ihm einen großen Satz zur Seite machten. Zwar konnte der Shinigami sich während des Falls drehen und schaffte es auf den Füßen zu landen, doch an seinem Arm befand sich eine stark blutende Wunde.

„Was zum Teufel ist da los?“, fragte Lyes leicht verwirrt und blickte wie alle anderen nach oben zu der Stelle.

Alexandra war jedoch nicht auf den Kopf gefallen und nutzte die Chance. Erst trat sie dem Shinigami kräftig auf den Fuß, dann holte sie kurz aus und rammte ihm ihren Ellbogen zwischen die Rippen, um sich anschließend schnell unter der Sense zu ducken und mit drei Schritten schnell außer Reichweite der Waffe zu flüchten.

„Tse.“ Lyes verzog das Gesicht und sah sie wütend an.

„So einfach lasse ich mich nicht umbringen“, erwiderte Alexandra nur.

„Ach ehrlich?“

Verdammt, sie hatte den anderen vergessen. So wie sich das anhörte, war er direkt hinter ihr. Wahrscheinlich mit erhobener Sense. Alexandra konnte Stella ihren Namen rufen hören und Azraél setzte an in ihre Richtung zu kommen, doch da landeten die anderen Shinigamis vor ihnen. Sie rechnete bereits mit einem schneidenden Schmerz.

„Wage es nicht!“, rief Seth jedoch und warf sich mit aller Kraft gegen Chao, sodass der Shinigami nach vorne torkelte und über Alexandra stolperte. Dabei fiel ihm die Sense aus der Hand, die augenblicklich wieder die Form eines dicken Wälzers annahm, und rutschte ein ganzes Stück nach hinten.

„Ausnahmsweise mal gut gemacht“, lobte Alexandra nur und rappelte sich auf. Dabei bemerkte sie, dass Azraél und Stella heftig in der Patsche saßen, die anderen Shinigamis hatten sie umzingelt und waren dabei den Kreis immer enger zu schließen.

Gerade als sie, auch wenn es nicht viel bringen würde, nach vorne stürmen wollte, war erneut ein Heulen zu hören. Dieses mal um einiges lauter und furchteinflößender.

Dann war weiter oben auf einmal ein Schatten zu sehen und im nächsten Augenblick landete ein großer, pechschwarzer Hund vor Stella und Azraél, die das Tier beide nur verdattert anstarrten. Ihre Widersacher machten vor Schreck gleich einige Schritte zurück und der Hund knurrte tief. Es war ein edles Tier mit langem Fell und buschigem Schwanz, er kam Alexandra viel zu erhaben vor für einen normalen Hund.

„Was bitte tut ihr da?!“, fragte Chao wütend und kam wieder auf seine Füße, „Das ist nur ein lächerlicher Hund! Tötet ihn und kümmert euch dann um die beiden da!“

Das Knurren wurde noch bedrohlicher und im nächsten Moment hob das Tier den Kopf und ein ohrenbetäubendes Heulen hallte in den Gassen wieder.

„Ein Wolf…“, hauchte Alexandra, ehe sie bemerkte, dass sie das Tier fasziniert anstarrte.

Die Shinigamis waren eindeutig auch vorsichtig, doch sie gehorchten und gingen auf ihn und die beiden hinter ihm los.

„Und nun zu euch“, grinste Chao, „Lyes, kümmere dich um das verlorene Buch. Der Bengel und ich haben noch eine kleine Rechnung offen.“

Schon musste Alexandra dem Shinigami mit den blonden Locken ausweichen, der sich wohl gerne noch für vorhin revanchieren wollte. Er schwang seine Sense wild durch die Luft und ein ums andere Mal trennten Alexandra nur Millimeter von der scharfen Klinge. Wie schon zuvor wünschte sie sich ihren Schirm oder irgendetwas, mit dem sich verteidigen oder sogar angreifen konnte. Sie besaß jedoch nichts dergleichen, weshalb ihr nichts anderes übrig blieb als weiter auszuweichen. Dabei machte sie sich furchtbare Sorgen um Stella und Azraél. Auch die Frage, wo der Wolf her kam und was er eigentlich wollte, geisterte ihr durch den Kopf.

„Das ist also aus dem ach so guten Seth geworden“, höhnte Chao, „Ein lächerlicher, stinknormaler Mensch. Dein Anblick tut einem ja schon fast in den Augen weh.“

Bei jedem anderen hätte Seth diese Beleidigung kaum gestört, doch das aus Chaos Mund zu hören machte ihn furchtbar sauer. Er hatte es schon früher immer auf Seth abgesehen gehabt, nur weil er den Unterricht an der Akademie etwas lockerer gesehen hatte als die meisten anderen. Es fiel ihm schwer nicht auf den jungen Mann loszugehen.

Auf einmal schlich sich dann ein Unheil verkündendes Lächeln auf Chaos Lippen. „Die haben dir nur zu Recht deine Sense weggenommen“, bemerkte und streckte seine Hand nach vorne, „Sie war viel zu gut für dich.“

Seth riss entgeistert die Augen auf, als ein schmutzig gelbes Buch in Chaos Hand aufleuchtete und gleich darauf die Form einer Sense annahm. Es war nicht irgendeine Sense. Zwar hatte ihre Farbe an Reinheit verloren, doch es war seine Sense. In der Hand eines anderen. Und auch noch in Chaos Händen. Obwohl das Gesetz des Himmels besagte, dass jeder Shinigami nur eine Sense bekam, die keiner außer ihm verwenden durfte. Es war nur allzu deutlich, dass Chao das tat um Seth zu demütigen. Um ihm zu zeigen, was für ein Versager er war. So was Niederträchtiges hätte er selbst Chao nicht zugetraut.

„Und jetzt wird es mir eine Ehre sein, dich auf die andere Seite zu bringen.“ Mit einem Satz stand Chao vor dem Jungen, die die Sense immer noch ungläubig anstarrte.

Derweil staunten Stella und Azraél nicht schlecht darüber, wie der Wolf inzwischen schon sechs der dreizehn anderen Shinigamis mit starken Bisswunden an verschiedensten Stellen kampfunfähig gemacht hatte. Zwar mussten sie öfters mal ausweichen oder sich kurz selbst verteidigen, doch das Tier übernahm den Hauptteil als wäre es nichts. Er sprang mit so schnellen Sätzen in teilweise fast unmöglichen Winkeln von einem Punkt zum nächsten, dass sie ihm kaum folgen konnten.

Alexandra hingegen war zu so einigen mehr oder weniger eleganten Verrenkungen gezwungen und hatte noch immer keinen eindeutigen Schwachpunkt in Lyes Verteidigung gefunden, durch den sie ihn auch ohne Waffe ausschalten konnte. Sie erwischte sich zwischenzeitig dabei, wie sie sich Kiyoshis Hilfe wünschte, doch den Gedanken verscheuchte sie schleunigst wieder. Sie hatte keine Lust von diesem arroganten Weltenwächter abhängig zu sein. Wenn sie nicht mal sich selbst beschützen konnte, wie sollte sie es dann fertig bringen ihre Anhängsel zu verteidigen? Denn auch wenn sie alle miteinander nervige Klötze waren und andauernd irgendwelchen mehr oder weniger großen Ärger machten, wollte sie die Gesellschaft der drei nicht mehr missen. Auf eine ihr unbegreifliche Art und Weise hatten sie es geschafft sich einen Platz in ihrem Herzen zu ergattern.

Alexandra biss die Zähne zusammen, stoppte abrupt und machte stattdessen einen Satz nach vorne, auch wenn sie das mit Pech den Kopf kostete. Doch wie durch ein Wunder ging der Hieb haarscharf an ihrem Hals vorbei und sie rammte dem Shinigami mit aller Kraft ihre Faust in den Magen. Nur ein paar wenige rotbraune Haarsträhnen segelten durch die Luft, während Lyes mit einem erstickten Laut zu Boden ging. Daraufhin blickte sie zu Seth, der sich nicht weit weg von hier mit dem zweiten Anführer der Truppe rumschlug.

Es war mehr Glück als Verstand, dass Seth es gerade noch schaffte den Kopf einzuziehen und so dem beinahe tödlichen Streich der Sense zu entkommen. Jedoch hatte Chao es jetzt endgültig zu weit getrieben. Seth hatte das Ding eigentlich nicht wieder benutzen wollen, nach dem was mit Azraél und der ersten Spielerin passiert war, aber das hier war etwas anderes. Er griff kurzerhand in seine Hosentasche und richtete die silberne Pistole auf Chao, der ihn nur verächtlich ansah.

„Du willst mich also erschießen?“, fragte er mit unverhohlenem Sarkasmus in der Stimme, „Versuchs doch. Du bist tot bevor du überhaupt geschossen hast.“

Stocksauer zielte Seth auf den Shinigami und sein Zeigefinger schloss sich um den Abzug. Zu viel war einfach zu viel. Dieser Dreckssack hatte nichts anderes verdient. Doch in dem Moment, als er abdrücken wollte, packte Alexandra plötzlich den Lauf seiner Waffe und richtete ihn nach unten. Seth starrte sie nur entsetzt an.

Alexandras Blick war ernst. „Lass es“, sagte sie, „Erstens ist er es nicht wert, zweitens steht dir eine Pistole einfach nicht.“

Seth schien arg verwirrt zu sein.

Alexandra sah nun zu Chao. „Außerdem ist das da doch deine Sense, oder? Warum holst du sie dir nicht zurück? Sie gehört immerhin dir und wird dir wesentlich bessere Dienste leisten als diese Pistole.“ Damit ließ sie den Lauf von Seths Revolver los und hielt auf die verbliebene Gruppe Shinigamis zu, die sich gerade mit dem seltsamen Wolf rumschlug.

Seth sah ihr hinterher und zur selben Zeit begann Chao laut zu lachen.

„Du deine Sense zurückholen?“ Er schien sich kaum beruhigen zu können. „Als ob du dazu in der Lage wärst. Du warst vielleicht mal einer der Besten, aber von deiner Macht ist nichts mehr übrig, du bist nur noch ein Mensch. Also solltest du dir besser aus dem Kopf schlagen, was deine kleine Freundin da gesagt hat. Das Buch wird eh bald uns gehören und dann hat auch sie nichts mehr zu lachen.“

Einen Moment lang sah Seth noch zu Alexandra, dann fasste er sich mit einer Hand an die Stirn und lächelte schief. „Wie macht sie das nur?“, fragte er leise, „Ich bin wirklich ein Trottel. Alexandra hat gar nicht mal so unrecht.“

„Was auch immer du da vor dich hin brabbelst, dein Leben ist hiermit zu Ende!“, rief Chao grinsend und erhob die Sense, um auf Seth loszugehen.

Dieser sah in dem Moment jedoch auf und lächelte. „Komm zu mir zurück, Zessiro!“

Plötzlich begann die Sense in Chaos Händen zu leuchten und verformte sich. Sie nahm auf einmal die Form eines Frettchens an, das sofort mit einem Satz auf Seths Schultern sprang. Dieser strich dem Tier über das seidige, schneeweiße Fell und sah dann zu Chao. Auch das Frettchen blickte mit seinen wissenden, gelben Augen zu Chao und fauchte drohend.

Dieser schien völlig verdattert, ehe er sich wieder fing und erneut ein überhebliches Grinsen aufsetzte. „Allem Anschein nach hängt eine klägliche Sense an ihrem kläglichen Besitzer, was soll´s. Meine ist sowieso viel besser.“ Damit segelte das andere Buch vom Boden aus in seine Hand und wurde zu einer giftgrünen Sense.

„Du warst schon immer ein Fan von geschmacklosen Farben“, stellte Seth gelassen fest – er staunte selbst über diesen Wechsel seiner Emotionen – und blickte dann zu dem Frettchen auf seiner Schulter, „Na? Wollen wir nach der langen Zeit mal wieder als Team zusammenarbeiten?“

Das Frettchen gab einen zustimmenden Laut von sich und Seth sah siegessicher wieder zu Chao. Dann streckte er seinen rechten Arm aus und das Frettchen lief zu seiner Hand. Dort begann es auf einmal wieder zu leuchten und im nächsten Moment hielt Seth eine elegante Sense mit langem, weißen Schaft und ebenfalls weißer, rasiermesserscharfer Klinge in der Hand. Zudem wurde der Schaft noch einigen leuchtendgelben Eingravierungen geziert, die von einem dünnen schwarzen Rand umgeben waren. Die Sense sah irgendwie richtig edel aus.

Chao wirkte einen kurzen Moment lang überrascht, doch dann hob er seine Waffe und rannte auf Seth zu.

Alexandra pirschte sich währenddessen an einen etwas achtlosen Shinigami heran, der versuchte den Wolf in seinen blitzschnellen Bewegungen zu folgen. Sie brauchte noch nicht mal besonders vorsichtig zu sein und rammte ihm nach kurzem Überlegen einfach das Knie zwischen die Beine. Das schmerzerfüllte Jaulen, mit dem er zu Boden sackte, ließ Alexandra zufrieden feststellen, dass männliche Shinigamis an dieser Stelle ebenfalls ganz schön empfindlich waren. Das hatten irgendwie alle männlichen Arten so an sich, was sie ziemlich praktisch fand.

Als sie dann aber einen Schatten auf dem Boden entdeckte, wurde ihr klar, dass sie im falschen Moment mit den Gedanken abgeschweift war. Sie wollte ausweichen, doch der Schatten hob bereits die Sense und ihr wurde klar, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde.

Auf einmal legten sich jedoch zwei Arme um Alexandra und rissen sie glatt mit sich. Die Landung war alles andere als sanft, doch ihr Retter schien absichtlich unten gelandet zu sein und damit den härteren Teil auf sich zu nehmen.

„Etete.. der Stunt ist jedenfalls nicht zum Nachmachen geeignet“, stöhnte Azraél, „Ist alles in Ordnung?“

Alexandra, die er immer noch an sich drückte, sah nur verblüfft auf. Er war doch mindestens sechs Meter entfernt gewesen, wie hatte er es in dem Sekundenbruchteil geschafft bei ihr zu sein? Und vor allem, warum war er überhaupt so weit gegangen sich in solche Gefahr zu bringen?!

„Lass mich los!“, sagte sie nur halb aufgebracht, halb erschrocken und traf mit einem etwas unbeholfenen Schlag seinen linken Arm.

Azraél verzog daraufhin mit einem schmerzerfüllten Laut das Gesicht und Alexandra bemerkte den Riss und den dunklen Fleck in seinem Ärmel. An ihren Fingerknöcheln konnte sie Reste von Blut entdecken.

„Was…?“ Sie starrte ihn ungläubig an.

Der Dämon sammelte schnell seine Gesichtszüge wieder ein. „Ist nicht weiter tragisch, wenn du davon absiehst noch öfter draufzuhauen.“

„Tut mir leid…“, brachte sie nur etwas aus der Bahn geworfen hervor. Dann rief sie jedoch ihren Verstand zurück und fügte aufgebracht hinzu: „Idiot! Wieso zum Teufel machst du so einen Schwachsinn auch?!“

„Weil ich nicht wollte, dass er dich verletzt“, erwiderte Azraél mit einem matten Lächeln.

Auf die Antwort hin entgleisten ihr kurzzeitig beinahe die Gesichtszüge. Was sollte dieser Unsinn? Warum wollte er nicht, dass sie verletzt wurde? Das konnte ihm doch egal sein, immerhin konnte er sie genauso wenig leiden wie sie ihn.

„Alex!“, rief Stella in dem Moment.

Gerade wollte sich ein Shinigami auf die beiden am Boden Liegenden stürzen, als der schwarze Wolf auch schon wieder unerwartet auftauchte. Er biss dem Mann in den Arm, mit dem er die Sense schwang, woraufhin ihm die Waffe glatt entglitt. Dann sprang der Wolf nach vorne und mit einer Kopfnuss in die Magengegend des Shinigamis brachte er diesen sauber zu Fall.

Anschließend sah das Tier die noch leicht überraschten Alexandra und Azraél an. Und auch wenn es vollkommen weit daher geholt war und Alexandra ihren eigenen Sinnen nicht ganz traute, konnte sie direkt an der Stelle des Wolfes die Silhouette eines ihr sehr bekannten Mannes sehen, der sie mit einer hochgezogenen Augenbraue ansah.

„Los geht´s, Zessiro“, sagte Seth und ließ sich nach vorne fallen. Als es gerade so aussah, als wollte er wirklich auf dem Boden aufschlagen, schoss er plötzlich los und lief in geduckter Haltung auf Chao zu. Dieser hob seine Sense und schien Seth enthaupten zu wollen, doch kurz bevor er ihn traf, war der Junge auf einmal verschwunden. Verwirrt blieb Chao stehen, doch als er sich gerade umsehen wollte, spürte er plötzlich die gebogene Klinge von Seths Sense an seinem Hals. Augenblicklich erstarrte er.

„Pfeif deine Leute sofort zurück“, sagte Seth kalt, „Ich will Zessiro nicht mit einem Blut beschmutzen müssen.“

„Tse.“ Chao hätte Seth am liebsten auf der Stelle getötet, doch er wusste, dass er so nicht die geringste Chance hatte. Normalerweise war Seth auch früher auf der Akademie immer ein lustiger und etwas tollpatschiger Shinigami gewesen, der gerne mal verschlafen hatte und deshalb häufig zu spät gekommen war. Auch in Trainingskämpfen hatte er zu gerne gescherzt und seinen Gegner nicht für voll genommen. Er hatte häufig verloren.

Wenn er jedoch aus irgendeinem Grund ernst geworden war und angefangen hatte richtig zu kämpfen, hatte nie einer eine Chance gegen ihn gehabt. Es war selten vorgekommen, dennoch hatte Seth zu den besten unter den Schülern seines Jahrgangs gezählt, obwohl seine Noten miserabel gewesen waren. Früher hatte Chao ihn gerne niedergemacht und sich für die Ungerechtigkeit gerecht, dass Seth ohne viel zu tun einfach als einer der besten zählte. Erst heute verstand Chao, warum Seth damals schon zu den besten gehörte. Diese düstere und vernichtende Aura um den Jungen versprach unausweichliches Unheil für alle diejenigen, die sich mit ihm anlegten.

„Wir ziehen uns zurück“, sagte Chao verbissen und stampfte vor Wut einmal mit dem Fuß auf.

Tatsächlich zogen sich die anderen Shinigamis zurück, wobei die wenigen Gesunden die Verletzten stützen mussten. Der Junge nahm die Sense nun wieder von Chaos Hals weg und legte sie sich über seine Schultern.

„Richte dem hohen Rat das aus“, sagte Seth und lächelte herablassend, „Wenn sie glauben, dass sie das verlorene Buch bekommen können, sollen sie sich darauf gefasst machen enttäuscht zu werden. Denn ich, Sethir Van Silverheel, werde es mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln beschützen.“

Chao sah ihn wütend an, schien etwas erwidern zu wollen, doch dann sprang auch er nach oben auf eines der Dächer und verschwand.

Alexandra schloss aus Seths vollen Namen jedoch, dass er nicht nur irgendein Shinigami war, sondern aus einer bei den Todesgöttern wahrscheinlich hoch angesehenen Familie stammte. Und wie sie und die anderen beiden eben nebenbei ziemlich erstaunt hatten beobachten können, besaß auch dieser treudoofe Heini eine ungeahnte Kampfkraft.

Allerdings richtete sich Alexandras Aufmerksamkeit schnell wieder etwas anderem zu, denn wie die Shinigamis nun verschwunden waren, wollte auch der Wolf sich wohl zurückziehen.

„Ryan!“, rief Alexandra jedoch, obwohl sie sich noch nicht mal hundertprozentig sicher war mit ihrer Vermutung.

Stella und Seth, wie auch Azraél unter ihr, sahen sie bloß verdattert an. Der Wolf aber blieb wirklich stehen und drehte den Kopf, um sie anzusehen. Alexandra setzte sich auf und erwiderte seinen Blick. Kaum zwei Sekunden später senkte das Tier leicht den Kopf und begann von innen heraus zu glühen. Unter vier Paar ungläubiger Augen wandelte sich seine Gestalt, bis klar und deutlich die Umrisse eines etwa ein Meter achtzig großen Mannes zu sehen waren. Als das dunkle Glühen erlosch, stand dort Ryan in seinem beigen Oberhemd und der dunklen Jeans, die er schon beim Frühstück getragen hatte.

 „Wie hast du es gemerkt?“, fragte er etwas erstaunt.

Alexandra zuckte mit den Schultern. „Intuition, vermute ich.“

Ryan schmunzelte leicht, ehe eine seiner Augenbrauen nach oben wanderte. „Und was auch immer ihr zwei da macht, es sieht ein bisschen zweideutig aus.“

Ein wenig irritiert sah Alexandra nach unten und begegnete dabei Azraéls Blick, der seine Belustigung über ihre nun stark entgleisenden Gesichtszüge nicht verbergen konnte. Er selbst schien kein Problem damit zu haben, dass Alexandra direkt auf ihm saß. Im Gegenteil, er grinste nur amüsiert vor sich hin.

Alexandra lief rot an, doch anstatt ihn anzukeifen, überlegte sie sich etwas anderes und setzte ein finsteres Lächeln auf. Sie beugte sich ein kleines Stück nach vorne und fing dabei absichtlich seinen Blick auf, während sie unauffällig ihre Hand neben seinem angeschlagenen Arm in Position brachte. Dem Typen würde sie das Lachen schon austreiben. Dass Stella, Seth und Ryan dabei große Augen machten, beachtete sie gar nicht.

Nur anders als sie geplant hatte, bekamen Azraéls Augen auf einmal so einen warmen Ausdruck. Sie wusste nicht wieso, aber alleine schon wenn er sie so ansah, nistete sich ein komisches, irgendwie kribbelndes Gefühl in ihr ein und ihr Herz schlug schneller. Es war irgendwie angenehm und sie fühlte sich wohl. Nur dass ausgerechnet Azraél ihr Herz dazu brachte schneller zu schlagen, verunsicherte sie. Gerade da sie langsam zu verstehen begann, was es bedeutete.

Dann stützte der Junge sich plötzlich auf seinem gesunden Arm ab und richtete sich ein Stück auf. Es war als hätte er ihren Blick mit seinen bildschönen, rotbraunen Augen gefangen und kam ihr mit seinem Gesicht immer näher. Wenn ihr Verstand nicht gerade unerlaubt Urlaub gemacht hätte, hätte sie das wahrscheinlich gar nicht zugelassen. So aber merkte sie erst, was er vorhatte, als er sie bereits sachte auf die Stirn küsste.

Während Stella und Seth glatt rote Ohren bekamen und auch Ryan sich bei dem Anblick dieser Szene zusammenreißen musste, um nicht mit den Gedanken in eine bestimmte Richtung abzuschweifen, machte Alexandras Herz glatt einen Salto, bevor es gleich mehrere Gänge zulegte. Sie lief knallrot an, doch dann gelang es ihr ihren Verstand mittels Drohung einer drastischen Gehaltskürzung wieder aus dem Urlaub zurückzubeordern.

Geistesgegenwärtig bohrte sie ihm Zeige- und Mittelfinger direkt in die Stelle an seinem Arm, an dem der Shinigami es vorhin geschaffte hatte ihn mit seiner Sense zu verletzen. Der arme Junge gab einen schmerzerfüllten Laut von sich, der einem Fluch allerdings nicht allzu unähnlich war. Anschließend holte Alexandra noch kurzerhand aus und verpasste ihm einen deftigen Kinnschieber, sodass er glatt hinten über kippte und erstmal leise stöhnend liegen blieb.

Alexandra kam allerdings schleunigst wieder auf ihre Füße und rieb sich die Faust, die nach dem kräftigen Schlag gegen sein Kinn doch ein wenig wehtat. Der Kerl hatte leider, wie sie schon bei den Malen davor hatte feststellen müssen, ganz schön harte Knochen. Das hielt sie aber nicht davon ab zuzuschlagen, wenn er es wagte sie so aus dem Konzept zu bringen. Immerhin konnte sie ihn unter anderem auch wegen dieser Unberechenbarkeit nicht ausstehen.

„Wenn du so weiter machst, brichst du ihm demnächst noch den Kiefer“, bemerkte Ryan so ganz nebenbei. Er hatte fast Mitleid mit dem schwarzhaarigen Jungen, der dabei war seinen verletzten Arm abzutasten und anschließend überprüfte, ob noch alle Zähne da waren, wo sie hingehörten.

„Was glaubst du wohl ist Sinn und Zweck dieser Übung?“, knurrte Alexandra und verscheuchte die Röte wieder aus ihrem Gesicht. Dieser Dämon war wirklich dreister als alle ihre anderen Bekannten. Hatte man so was denn schon gesehen? Hatte es ihn gar nicht gestört, dass da noch drei Zuschauer standen? Von Alexandras Meinung über so eine überflüssige und höchst irritierende Geste gar nicht zu sprechen.

Nach einer Weile, in der Stille geherrscht hatte, nahm die Sense über Seths Schulter wieder die Gestalt eines Frettchens mit schneeweißem Fell an, was die Blicke der restlichen Anwesenden natürlich auf sich zog.

„Ach ja, Seth.“ Alexandra war ziemlich froh über die Ablenkung. „Ist es normal, dass deine Sense.. wie ein Frettchen aussieht?“

„Das würde mich auch mal interessieren“, bemerkte Stella, der gar nicht auffiel wie Alexandra elegant die Aufmerksamkeit von sich abschob.

„Äh? Achso, ihr meint Zessiro“, stellte Seth schief grinsend fest und kratzte sich am Hinterkopf, „Einige der Sensen von Shinigamis können, abgesehen von der Form des Buches, noch die Form eines Tieres annehmen.“

„Okay, nächste Frage.“ Alexandra versuchte nicht zu sehr darüber nachzudenken, dass sie allmählich immer tiefer in diese Ereignisse hineingezogen wurde und langsam mehr von dem erfuhr, was sie eigentlich gar nicht wissen wollte. „Lebt deine Sense?“

„Jap“, antwortete Seth grinsend.

Stella entgleisten fast die Gesichtszüge und Azraél, der inzwischen wieder auf den Füßen stand und sich lediglich den Arm hielt, wirkte ebenfalls verblüfft. Auch Ryan wirkte ein wenig verblüfft.

„Aha“, sagte Alexandra nur resigniert.

„Gerade das ist ja auch das schwierige an dem Job als Shinigami“, sagte Seth und blickte hoch in den Himmel, „Man arbeitet nie alleine, sondern immer zusammen mit seiner Sense. Die meisten finden das nervig, aber ich finde es eigentlich ganz schön. Man ist nie allein und wenn man sich mit seiner Sense gut versteht, wird sie so etwas wie unser nächster Freund. Sie würde einen nie im Stich lassen. Nicht? Zessiro?“

Das Frettchen namens Zessiro rieb zustimmend seinen Kopf an Seths Hals.

Alexandra schüttelte zwar den Kopf, doch sie lächelte auch leicht. „Na auf jeden Fall scheinen du und deine Sense.. dein Frettchen.. oder was auch immer ein Herz und eine Seele zu sein.“

„Ja, wir sind unzertrennlich“, sagte Seth lächelnd.

Ryan sah die Truppe eine Weile lang nachdenklich an, ehe er feststellte: „Ihr scheint ja wirklich ein ganz schön abenteuerliches Leben zu führen. Erst eine Entführung durch Vampire, nun der Angriff von Todesengeln und wenn ich das richtig mitbekommen habe, sind Raphaels Leute auch hinter euch her. Mich würde langsam ja wirklich mal interessieren, wer.. und was ihr seid.“

Die Anhängsel sahen sich leicht unsicher an und blickten letztlich zu Alexandra, die nur seufzend nickte.

„Halbvampir“, antwortete Stella mit einem schiefen Lächeln auf die letzte Frage.

„Shinigami, auch wenn man mich aus der Akademie geworfen hat“, sagte Seth.

„Dämon, ehemals unter Vertrag mit Raphael, aber jetzt ohne Fürst“, erwiderte Azraél.

„Mensch, auch wenn scheinbar das verlorene Buch in mir ist“, schloss Alexandra.

Ryans Gesicht sah gut aus, als es in der ersten Sekunde ein ganzes Stück entgleiste. Damit schien er dann doch nicht gerechnet zu haben, auch wenn er sich verhältnismäßig schnell wieder fing und lediglich den Kopf schüttelte.

„Oh Heiliger“, war sein einziger Kommentar darauf, „Und die sind wohl alle hinter dem Buch her, wie?“

„Ja“, antwortete Alexandra knapp, „Und was bist du, wenn ich fragen darf?“

Er sah sie mit einem schiefen Lächeln an. „Ein Werwolf.“

„Ich hab´s geahnt“, stöhnte sie daraufhin lediglich.

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Hörbuch

Über den Autor

SilverRose
Tjaaa.. eigentlich ich bin mehr eine Einzelgängerin und eine komlette Tagträumerin dazu xD
Aber ab und an bin ich auch gerne unter Leuten, wobei es mir etwas an Gesprächsstoff fehlt, es sei denn es geht ums Schreiben und meine Geschichten. Da kann ich tagelang drüber reden :P
Allerdings möchte ich hier auch mal zu meinen Geschichten anmerken, dass sie wirklich lange Stories sind, die sich über einen längeren Zeitraum erst richtig entwickeln und daher auch gut und gerne zwischen zwanzig bis vierzig Kapitel mit unterschiedlichen Längen varieren. Sie sind nichts für Leute, die nur gerne kurze Happen lesen, sondern mehr für die, die auch im normalen Buchladen gerne mal zu einem drei - bis vierhundert-Seiten-Wältzer greifen. Sorry, aber kurz schreiben ist nicht gerade meine Stärke. Wenn ich das versuche, werden sie am Ende nur umso länger xD
(Auch wenn ich ja mittlerweile auch wenigstens ein paar Kurzgeschichten zum Reinschnuppern in meinen Schreibstil habe :P)
Und (der Ordnung halber) die erste Interviewfrage hier oben: Welche Geschichten hast du bisher schon verfasst?
Hm, das sind mittlerweile so einige...meine abgeschlossenen sind der Reihenfolge nach:
Meine abgeschlossenen Manuskripte sind der Reihenfolge nach:
1.1) Das Geheimnis der Federn: Die Wächterinnen der Federn;
1.2) Das Geheimnis der Federn: Der Kampf gegen die Finsternis;
2) Kyra: Die Wahl zwischen Licht und Finsternis;
3) Scarlett und das Geheimnis von Avalon;
4.1) Kampf der Geister: Vertrag;
4.1) Kampf der Geister: Geschwister der Dunkelheit;
5) Das verlorene Buch;
6) Silver Rose: Das Gesetz der Killer;
7) Der Schlüssel zum Tor der Feuergeister;
8) Reinblut & Halbblut;
9) Die Wächterin von Reilong;
10) Die letzte Zauberin;
11.1) Juwelenritter: Das vergessene Jahr des Blutes;
11.2) Juwelenritter: Die sieben Höllenfürsten;

Meine noch laufenden Geschichten (auch wenn ich nicht weiß, ob und wann ich es schaffe sie zu beenden) sind:
11.3) Juwelenritter: Dämonenherz (aktiv)
12) Bund mit dem Tod (neu - auf Standby)

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