Ausgerechnet Alexandra, die nicht an fiktive Wesen wie Vampire oder Dämonen glaubt, zieht deren Aufmerksamkeit wie magisch an. Zudem gerät sie auch noch in das mörderische Spiel eines Dämonenfürsten hinein, dessen Ziel es ist das "verlorene Buch" in seine Hände zu bringen. Die Gute ist sehr begeistert, weil ihr Leben nun noch abenteuerlicher wird, als es ohnehin schon war. Es kommt zu einem Wettlauf, in dem Alexandra von so ziemlich allem verfolgt wird, was von den Menschen eigentlich als Ausgeburten der Fantasie abgetan wird. Und sie alle wollen nur eines: Das verlorene Buch. Enthält: Kapitel 9: noch mehr Feinde Kapitel 10: Falle Kapitel 11: Dämonen sind verdammt unberechenbar Kapitel 12: unerwartete Hilfe
„Kommt in die Gänge, oder wollt ihr unbedingt von Messern durchbohrt werden?“, fragte Alexandra über ihre Schulter und lief die Gasse hinunter, gefolgt von ihren drei Anhängseln.
„Sagtest du nicht, dass wir dir nicht mehr folgen sollen?“, fragte Azraél beiläufig, „Es stört uns zwar nicht, aber du widersprichst dir gerade selber.“
„Halt deine verdammte Schnauze!“, fauchte Alexandra entnervt, „Außerdem würde diese Nathalie wahrscheinlich auch auf euch Jagd machen, wenn sie euch sehen würde. Deshalb müssen wir sie erstmal abhängen, bevor ihr wieder eures Weges zieht.“
„Aha“, sagte Azraél nur. Er war sich ziemlich sicher, dass Alexandras Plan nicht so laufen würde, wie sie es sich vorstellte. Allerdings behielt er das lieber für sich.
„Wie oft müssen wir es noch sagen? Du wirst uns nicht los“, beharrte Stella und holte zu Alexandra auf. Diese hätte Stella am liebsten irgendetwas in den Mund gestopft. Manchmal schienen Sturheit und Dummheit wirklich Hand in Hand zu gehen.
Dann wollten sie um eine Ecke biegen, doch unmittelbar vor ihnen tauchte auf einmal dieser Samuel auf. Er hatte zwei lange Dolche in der Hand und wollte eindeutig auch Gebrauch von ihnen machen. Im letzten Moment hatte Alexandra ihren Schirm hochreißen und den Hieb mit einem der Messer parieren können. Allerdings hatte sie dabei vergessen, dass der Mann noch ein weiteres Messer besaß, das er ihr jetzt in den Oberschenkel rammen wollte.
Bevor er das jedoch tun konnte, warf Seth sich gegen ihn und so kam er aus dem Gleichgewicht. Den Moment nutzte Alexandra um ihm ihren Schirm über den Schädel zu ziehen. Währenddessen hatten Stella und Azraél Nathalie abgelenkt, die mit ihrem Schwert versuchte die beiden zu enthaupten. Die zwei mussten jedoch vorsichtig sein, da ihre einzigen Waffen Pistolen waren und die sich gegen ein Schwert nicht so wirkungsvoll erwiesen. Klar konnten sie Nathalie auch einfach erschießen, doch das wollten sie wiederum auch nicht. Als Stella gerade leichte Probleme bekam, schob sich Alexandra zwischen sie und Nathalie und übernahm den Kampf.
„Ich werde dich töten!“, sagte Nathalie aufgebracht.
„Kannst du deinen Wunsch nicht auch durch harte Arbeit erfüllen?“, fragte Alexandra im Gegenzug gereizt. So langsam aber sicher ging es ihr auf die Nerven, dass viele Leute immer nur nach einem einfachen Weg suchten, um ihre Ziele zu erreichen.
„Nein!“, erwiderte Nathalie und fuchtelte wild mit ihrem Schwert herum. Sie schien ziemlich wütend zu sein. „Ich hab schon alles versucht, aber nichts hat funktioniert! Und jetzt habe ich endlich eine Chance und ich werde sie nicht verstreichen lassen!“
„Dann werde ich dich enttäuschen müssen“, konterte Alexandra, die gerade durch ihre Ernsthaftigkeit immer bedrohlicher wirkte, „Ich lasse mich nicht wegen so einem absolut bescheuerten Spiel zu Freiwild machen und ich werde auch niemanden hier töten! Wenn du deinen Wunsch nicht erfüllen kannst, solltest du eben versuchen, ihm so nahe wie möglich zu kommen. Vielleicht hast du ja doch noch nicht alles versucht...“
„Nein!“, schrie Nathalie, auch wenn eine leichte Verzweiflung in ihrer Stimme mitklang.
„Doch!“, erwiderte Alexandra aufgebracht, „Es gibt immer einen Weg! Man muss nur die Ausdauer haben nach ihm zu suchen!“
Sie war inzwischen deutlich überlegen. Ihr Schirm sauste kaum sichtbar durch die Luft und Nathalie wurde zusehends zurückgedrängt. Dann stieß das Mädchen mit dem Rücken gegen die Wand und sah sich kurz um. In genau diesem Moment drehte Alexandra blitzschnell den Schirm in ihrer Hand und hackte den runden Griff des Schirms um den Griff von Nathalies Schwert. Sofort zog Alexandra kräftig und das Schwert segelte durch die Luft, ehe es klirrend auf dem Boden aufschlug. Nathalie starrte Alexandra nur erschrocken an und sank an der Wand hinab auf den Boden. Ihr Blick war von Angst erfüllt. Sie zitterte sogar leicht.
Einen Moment lang sah Alexandra sie einfach nur an, dann seufzte sie und hielt Nathalie eine Hand hin. „Steh auf“, sagte sie nur, „Ich hab doch gesagt, dass ich dich nicht töten werde.“
Nathalie starrte sie verständnislos an und auch Stella, Seth und Azraél waren sichtlich erstaunt.
„Anders als ihr habe ich mir nicht von diesem Raphael den Kopf verdrehen lassen“, sagte Alexandra ernst, „Es gibt auch einen anderen Weg, deinen Wunsch zu erfüllen, als dieses komische Buch. Es muss einen geben.. Wollen wir zusammen nach ihm suchen?“ Ein kaum erkennbares Lächeln schlich sich auf Alexandras Lippen.
Wahrscheinlich war sie verrückt, dem Mädchen die Hand zu reichen, das gerade noch versucht hatte sie zu töten. Es war schon seltsam, doch Alexandra wollte irgendwie versuchen, Nathalie zu helfen. Jedoch kam es nicht in Frage, auf die anderen Spieler Jagd zu machen. Vielleicht aber schafften sie es zusammen eine andere Möglichkeit zu finden. Auf diese Hoffnung baute Alexandra.
Nathalie sah sie immer noch ungläubig an und schien zu begreifen, dass Alexandra es ernst meinte. „W-Warum willst du mir helfen?“, fragte Nathalie allerdings unsicher, „Ich habe immerhin versucht dich zu töten.. und ich könnte es immer noch wollen...“
„Wenn ich das wüsste, wäre ich schlauer“, seufzte Alexandra und richtete sich wieder auf, „Aber wahrscheinlich kommt es daher, dass ich ebenfalls einen Wunsch habe, den man nicht einfach so erfüllt haben kann. Daher verstehe ich, wie du und auch die anderen Spieler euch fühlt.“
„Aber wieso machst du dann nicht auch bei dem Spiel mit?“, fragte Nathalie, „Wenn wir das Buch hätten, würde es uns doch unsere Wünsche erfüllen.“
„Ich bin mir aber nicht so sicher, ob es das so tun würde, wie ich es wirklich will“, sagte Alexandra nachdenklich, „Sachgegenstände oder etwas dergleichen zu besorgen ist einfach und wenn dieses Buch existiert, könnte es solche Wünsche wahrscheinlich ohne Marcel erfüllen.. aber das, was ich mir wünsche, könnte es einfach nicht auf die Weise erfüllen, wie ich es will.“
Nathalie sah sie nachdenklich an.
„Ich habe wirklich nicht die Absicht, dich zu töten“, wiederholte Alexandra, „Aber ob du mir glaubst oder nicht, ist deine Entscheidung.“
Das Mädchen schien zwar noch ein wenig unsicher, doch zur selben Zeit wirkte es immer entschiedener. „Na schön“, sagte sie, „Ich…“
In dem Moment wurde der Mann wieder wach, den Alexandra zuvor mit ihrem Schirm k.o. geschlagen hatte. Er rieb sich den wohl schmerzenden Kopf, doch als er aufblickte und Nathalie an der Wand sitzen sah, eingekesselt von den vier anderen, schoss er mit einem Satz auf Alexandra zu, die Nathalie am nächsten war.
„Stopp Samuel!“, rief Nathalie erschrocken.
Und das war keinen Moment zu früh. Das Schwert von Samuel berührte beinahe Alexandras Hals, deren Schirmspitze wiederum fast seinen Hals durchbohrte. Ungläubig sah Samuel seine Herrin an, die er geschworen hatte zu beschützen.
„Wir sind keine Gegner“, sagte Nathalie und blickte zu Alexandra, „Das hat sie mir klar gemacht.“
Samuel schien es noch immer nicht ganz glauben zu können, während Stella, Seth und Azraél sich langsam entspannten, da die Gefahr vorüber zu sein schien.
„Schön dass du es einsiehst“, seufzte Alexandra und steckte den Schirm wieder in das geheime Fach ihres dunkelblauen Mantels. Wahrscheinlich musste sie ihn von nun an immer tragen, da er das einzige Kleidungsstück war, in dem sie ihren Schirm unauffällig unterbringen konnte.
„Aber ich glaube, ich werde mit Samuel allein weiter reisen“, fügte Nathalie noch hinzu und lächelte leicht, „Ich danke dir für dein Angebot, aber ich denke, es ist besser, wenn unsere Gruppen getrennt reisen. Außerdem bin ich mir nun sicher, dass ich meinen Traum irgendwann doch erfüllen kann.“
„Wenn das deine Entscheidung ist, werde ich dich nicht daran hindern“, sagte Alexandra, „Aber wenn ihr Hilfe braucht, könnt ihr euch jederzeit melden.“
Nathalie lächelte, dann zog sie Samuel mit sich mit und bog in eine der angrenzenden Gassen ab.
„Wow.“ Das war das Einzige, was Seth dazu einfiel.
Stella und Azraél waren ebenfalls noch ziemlich erstaunt darüber, wie diese Verfolgungsjagd geendet hatte. Alexandra hingegen war zufrieden, wie sie das Problem gelöst hatte. Sie hatte es geschafft, Nathalie davon zu überzeugen, dass dieses Spiel nicht der richtige Weg war, um ihren Wunsch zu erfüllen. Damit hatte sie auch Raphael einen Strich durch die Rechnung gemacht und das freute sie innerlich.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Stella nach einer Weile.
Das brachte Alexandra wieder auf die weniger erfreulichen Gedanken, die sie plagten. Inzwischen war es allerdings schon Abend und sie hatte keine Lust, sich schon wieder mit den drein anzulegen. Das verschob sie lieber auf den nächsten Morgen.
„Wir gehen zurück zum Hotel“, antwortete Alexandra schlicht und wandte sich zum Gehen.
Stella, Seth und Azraél sahen sich kurz an, dann folgten sie Alexandra. Sie sahen allerdings recht froh aus.
Im Hotelrestaurant schlang Seth die dreifache Portion an Klößen mit gebratenen Kartoffeln und Salat herunter, Stella begoss sich mit ihrem Orangensaft und klagte anschließend über die Flecken in ihrem schönen gelben T-shirt, Azraél stieß mit einem Kellner mit voll beladenem Tablett zusammen und konnte die geladenen Speisen nur knapp vor einem Sturz bewahren und Alexandra schüttelte über ihre drei Anhängsel lediglich den Kopf.
Nach dem Essen verbrachten sie noch etwas Zeit in der Lobby. Seth hatte Azraél zu einer Rückrunde bei einem Kartenspiel herausgefordert und Stella wollte dieses Mal auch mitspielen. Alexandra sah sich in der Zeit nochmal ein bisschen im Hotel um und las eine der vielen Zeitungen, die für die Hotelgäste bereit lagen. Da Englisch immer noch ihre Muttersprache und ihr damit geläufig war, las sie mehr oder weniger interessiert einiges über die Wirtschaftskrise, den Bankrott einer ihr unbekannten großen Firma, entlaufene Tiere und das wechselhafte Wetter und seine Folgen für verschiedene Bereiche Europas.
Erst eine der hinteren Meldungen weckte Alexandras Interesse, beziehungsweise kam ihr an dem Artikel etwas höchst seltsam vor. Es ging um einen Serienmörder, der in London und Umgebung unterwegs war. Wenn Alexandra sich nicht verlas, tötete er seine Opfer auf eine Art und Weise, die sie durchaus schon gesehen hatte: Angeblich saugte er seinen Opfern das Blut aus.
„Was.. das ist doch ein Scherz?“, murmelte Alexandra und sah zu Stella, die sich gerade darüber aufregte, dass Azraél schon wieder gewonnen hatte. Das war doch unmöglich.
„Du hast geschummelt!“, schimpfte Stella, „Ich bin immerhin die beste Spielerin unserer Klasse. Du kannst eigentlich gar nicht gewinnen!“
„Wie man sieht, kann ich es doch“, erwiderte Azraél gelassen und lehnte sich in seinem Sessel zurück, „Sonst wäre das hier nicht mein siebter Sieg in Folge.“
Stella knurrte leise und schien ziemlich wütend zu sein. Dass Azraél noch nicht mal abstritt zu betrügen, zeigte doch, dass er irgendwie schummelte. Jedoch konnte sie ihm das nicht beweisen und darauf baute er wahrscheinlich. Das war doch zum Verrücktwerden!
„Sie hat recht, so oft kann man gar nicht hintereinander gewinnen!“, beharrte Seth, der auch ein wenig sauer zu sein schien.
„Anscheinend ja doch“, konterte Azraél und verschränkte lässig die Arme vor der Brust, „Ich brauche nicht zu betrügen. Außerdem wart ihr beide es früher doch, die in der Klasse immer die besten Tricks hatten.“
Stella und Seth stockten und sahen sich verstohlen an. Wann hatte er das denn gemerkt? Sie waren sich sicher gewesen, dass er nie gesehen hatte, wie sie ein paar kleine Tricks benutzt hatten.
Alexandra sah den Zeitungsartikel argwöhnisch an. Allerdings glaubte sie kaum, dass alle acht Todesfälle, die auf dieselbe Weise stattgefunden hatten, nur ein komischer Zufall waren. Irgendetwas steckte dahinter. Da sie jedoch noch keinerlei Ahnung hatte, was das sein konnte, beschloss sie, die Sache erstmal für sich zu behalten. Sie musste ihre Anhängsel nicht noch beunruhigen, sonst würde sie die drei wahrscheinlich nicht davon überzeugen können, ihr nicht mehr hinterherzukommen.
„Da ihr beide schweigt, nehme ich mal an, dass ich recht habe“, stellte Azraél fest.
„D-Das hast du nicht“, erwiderte Stella unsicher.
„Das haben wir doch gar nicht nötig!“, versuchte auch Seth von der Wahrheit abzulenken und Azraél zu täuschen.
„Ach nein?“ Dieser hob eine Augenbraue. „Ihr solltet eure besten Tricks benutzen, wenn ihr mich heute noch mal besiegen wollt.“
Die beiden sahen sich zerknirscht an. Azraél wusste also wirklich, dass sie schummelten. Komischerweise aber kamen sie trotzdem nicht gegen ihn an und das wunderte sie doch ziemlich. Allem Anschein nach war Azraél ein viel besserer Kartenspieler, als sie gedacht hatten.
Alexandra schüttelte den Kopf. So oder so würde es ganz schöne Überzeugungsarbeit werden, wenn sie die drei vor Schlimmeren als bisher bewahren und deshalb nach Hause schicken wollte. Von daher beschloss Alexandra, schon mal nach oben zu gehen und sich ins Bett zu legen. Die drei würden ja wohl mal zwei Stunden ohne sie auskommen, ohne gleich etwas auszufressen.
Ein paar Minuten lang lag Alexandra wach im Bett, sie behielt ihre orangene Bluse und die weiße Jeans einfach an, dann schlief sie ein. Sie hörte auch nicht mehr, wie Stella in das Zimmer kam und sich ebenfalls leise ins Bett legte.
Zu dem Zeitpunkt befand sie sich bereits wieder in ihrem seltsamen Traum. Unter ihr das dunkle, unendlich tiefe Meer und über ihr der unerreichbare Nachthimmel mit seinen vielen Sternen und dem silberweißen Vollmond. Es herrschte eine melancholische Stimmung, doch sie war Alexandra nicht fremd. Trotzdem war etwas anders.
Als Alexandra sich umdrehte, erkannte sie auch sofort, was es war. Ihr gegenüber stand ein älteres Mädchen, wahrscheinlich war es um die neunzehn Jahre alt, das Alexandra ihrerseits ansah. Es hatte tief dunkelbraune Haare, die ihr bis zu den Kniekehlen reichten, und golden glänzende Augen. Tragen tat es einen rot-beigen Mantel, der ihr fast bis zu den Füßen reichte. Bis zur Hüfte waren die vielen Schnallen geschlossen und der Kragen war umgeklappt, genauso wie auch der untere Teil der Ärmel, die ihr so genau bis zu den Handgelenken reichten. Außerdem trug das Mädchen noch eine pechschwarze Hose, die ihr bis knapp unter die Knie reichte. Schuhe hatte es keine und stand barfuß auf dem Wasser.
„Du sollst also meine neue Meisterin werden“, sagte es und sah Alexandra abschätzend an, „Die Figur ist viel zu knabenhaft und die Frisur ist komisch.“
Alexandra sah es mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Wie bitte?“
„Und schwerhörig scheint sie auch noch zu sein“, fügte das Mädchen missbilligend hinzu.
„Wer bist du?“, fragte Alexandra leicht verwirrt. Wer war das Mädchen und was suchte es hier in Alexandras Seele?
„Ich?“ Das Mädchen lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust, um Alexandra triumphierend anzusehen. „Ich bin Lost, das verlorene Buch.“
Alexandra starrte sie einen Augenblick lang entgeistert an, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Das verlorene Buch?“, fragte sie, nur um sicher zu gehen, dass sie sich nicht doch verhört hatte.
„Ja“, sagte Lost grinsend.
„Noch nie davon gehört.“
Lost schien wegen der Bemerkung fast aus dem Gleichgewicht zu geraten und starrte Alexandra beinahe fassungslos an.
„Jedenfalls habe ich noch nie davon gehört, dass das Buch eine menschliche Form haben soll“, fügte Alexandra hinzu und sah Lost nun ihrerseits abschätzend an.
Inzwischen hatte diese sich auch wieder gefangen. „Tse“, machte sie und hatte wieder ein überhebliches Grinsen im Gesicht, „Du scheinst keinerlei Respekt vor meiner Macht zu haben und so was soll mein Meister werden? Na ja, was soll´s? Mir bleibt sowieso keine andere Wahl.“
Alexandra sah sie stirnrunzelnd an. Redete Lost nun mit ihr oder mit sich selber?
„Und nur zu deiner Information“, sagte Lost und wurde langsam wieder ernst, „Nur du kannst mich in dieser Form sehen, weil ich in deiner Seele verankert bin. Das heißt, wenn du stirbst, werde ich in die Hände dieser Dämonen fallen, die schon seit langem hinter dir her sind. Und das wirst du schön verhindern, ich habe keine Lust einem herrschsüchtigen Dämonenfürsten dienen zu müssen.“
Langsam wurde Alexandra klar, dass Lost anscheinend tatsächlich das verlorene Buch war. Zwar hatte es eine ganz andere Form, als Alexandra erwartet hatte, doch nun wurde ihr einiges klar. Dieses mordlustige Spiel, in das sie hineingeraten war, diente nur einem einzigen Zweck: Raphael wollte alle möglichen Besitzer des Buches ausschalten, damit er an Lost heran kam. Den Spielern würde gar kein Wunsch erfüllt werden. Sie sollten sich nur gegenseitig umbringen, damit das Buch von seinem Besitzer gelöst wurde, sodass Raphael es sich unter den Nagel reißen konnte.
„Na immerhin scheinst du schnell zu begreifen“, stellte Lost fest und sah auf das Wasser unter Alexandra, „Aber du scheinst noch nicht so weit zu sein, meine Kraft verwenden zu können. Daher rate ich dir nur, dass du besser am Leben bleibst und schnell herausfindest, was dir noch fehlt.“
Alexandra runzelte die Stirn. „Was willst du nun von mir?“
„Mach einfach so weiter wie bisher“, knurrte Lost genervt und ihr linkes Auge schien zu zucken, „Außerdem wirst du besser schnell wach, sonst bist du das nächste Opfer dieser mörderischen Bande.“
Kurz war Alexandra verwirrt, doch dann riss sie die Augen auf und starrte die Decke in ihrem Hotelzimmer an. Im nächsten Moment rollte sie sich zur Seite, und das war keine Sekunde zu früh. Ein junger Mann landete auf ihrem Bett und starrte sie an. Seine Augen waren blutrot und seine Eckzähne waren die eines Vampirs, wie Alexandra noch leicht erschrocken feststellte. Ihr Verstand meldete sich nun allerdings ebenfalls zurück und sie erkannte, dass sie einen Vampir vor sich hatte, der ihr scheinbar nach dem Leben trachtete. Zumindest sah es ganz so aus, da er eindeutig geplant hatte, sich auf sie zu stürzen, während sie schlief.
In dem Moment wurde auch Stella wach und rieb sich kurz die Augen, bis sie ihren nächtlichen Gast entdeckte. Augenblicklich wirkte sie fast zu Tode erschrocken und starrte ihn fassungslos an.
„Was willst du?“, fragte Alexandra und sah sich nach ihrem Mantel um. Er lag auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Bettes. So ein Pech auch.
Der Vampir grinste. „Dein Blut und das heilige Buch“, antwortete er und bleckte seine spitzen Zähne.
„Das verlorene Buch meinst du wohl“, korrigierte Alexandra ihn und verzog ein wenig das Gesicht. Wie es aussah, waren nicht nur ein Dämonenfürst und ein Shinigami hinter dem Buch her, sondern jetzt auch noch ein Vampir. Besser konnte es doch eigentlich gar nicht werden, oder?
„Bei uns wird es das heilige Buch genannt“, erwiderte der Vampir grinsend. Dann bückte er sich und setzte zum Sprung an.
Alexandra blieben nur Millisekunden zum Nachdenken. Dann rettete sie sich im letzten Moment zur Seite und rannte auf ihren Mantel zu. Sie wusste, dass der Vampir direkt hinter ihr war, doch ohne eine Waffe kam sie gegen ihn nicht an. Als sie seinen warmen Atem schon förmlich im Nacken spürte, erwischte sie ihren Mantel und hechtete zur Seite. Das Zusammentreffen ihrer linken Schulter mit der Kommode war zwar etwas schmerzhaft, aber immerhin hatte sie endlich ihren Schirm.
Der Vampir bleckte auch schon wieder seine Zähne und sah sie gierig an. Es war nicht gerade angenehm so angestarrt zu werden, doch darüber konnte Alexandra sich gerade keine Gedanken machen. Immerhin stand ihr Leben mal wieder auf dem Spiel, wie in letzter Zeit des Öfteren. Was ging ihr das doch auf die Nerven! Jedoch gewöhnte sie sich schon fast daran und das fand sie nicht sehr witzig. Im Gegenteil, das war doch eigentlich ziemlich besorgniserregend, oder?
In der nächsten Sekunde sprang der Vampir erneut auf sie zu und Alexandra konnte ihm nur knapp einen kräftigen Schlag mit dem Schirm verpassen, der ihn sogar zu Boden gehen ließ. Jedoch rappelte er sich beinahe sofort wieder auf, als hätte er den Schlag noch nicht mal richtig gespürt. Sofort ging er wieder auf Alexandra los, die ihn nur mit Mühe von sich fern halten konnte.
Dann lag plötzlich irgendetwas im Weg und Alexandra stolperte. Sie landete hart auf dem Rücken und der Vampir wollte sich natürlich sofort auf sie stürzen, so eine Gelegenheit gab es schließlich nicht so schnell wieder.
„Hör auf, Rick!“, rief Stella jedoch erschrocken und sprang endlich von ihrem Bett auf.
Der Vampir namens Rick blickte leicht überrascht auf. Scheinbar hatte er die nach wie vor ziemlich fassungslos wirkende Stella noch gar nicht bemerkt. Allerdings wandelte sich sein Gesichtsausdruck schnell und er sah sie verächtlich an.
„Wenn das mal nicht unser schmutziges Halbblut ist“, sagte er grinsend und richtete sich wieder auf, „Es ist schon eine ganze Weile her, seit du dich bei uns hast blicken lassen.“
„Ich wurde fortgejagt, falls du es vergessen hast“, erwiderte Stella unsicher.
„Stimmt ja, deine räudige Mutter wurde ja getötet und dein Vater wird noch immer von uns gefangen gehalten, er lässt dich übrigens schön grüßen, nur du fehlst uns noch“, sagte Rick höhnisch und kam langsam auf die eindeutig verängstigte Stella zu.
Allerdings hatte er Alexandra vollkommen vergessen, die in der Zwischenzeit wieder auf die Beine gekommen war. Sie holte in dem Moment kurzerhand aus und schlug Rick den Schirm so hart gegen den Schädel, dass er zur Seite in Richtung geöffnete Balkontür flog und gegen die Scheibe krachte.
„Mich solltest du lieber nicht unterschätzen, denn mir ist es gleich, ob du ein Vampir oder sonst was bist. Ich verarbeite euch alle zu Kleinholz, wenn ihr mir auf die Nerven geht“, sagte Alexandra gelassen, aber auch ernst. Ihr war durchaus aufgefallen, dass der Vampir vor ihnen nicht unbedingt der Schwächste war. Er schien nur noch nicht sehr erfahren zu sein und das war ihr einziger Vorteil, den sie unbedingt nutzen musste.
„Du scheinst ja eine ganz schön mutige Freundin gefunden zu haben, Halbblut“, murmelte Rick und rieb sich den schmerzenden Schädel.
Stella sah verunsichert zu Alexandra und versuchte ihr irgendwie mit Blicken mitzuteilen, dass sie sich auf keinen Fall mit Rick anlegen sollte. Denn da war noch jemand, gegen den sie keine Chance hatten.
„Hör endlich auf mit den Spielchen, Rick“, sagte plötzlich ein zweiter Vampir, der auf dem Balkon landete und durch die offene Balkontür in die Wohnung blickte. Da der Vollmond gerade fast genau hinter ihm stand, sah er noch gespenstischer aus, als er es mit seinen stechend orangenen Augen und den langen Eckzähnen ohnehin schon tat. „Es wird langweilig und außerdem haben wir einen Auftrag.“
„Schon gut“, sagte Rick und kam wieder auf die Füße, „Aber wie du siehst, können wir wohl endlich unser dreckiges Halbblut nach Hause holen, um ihr ihre gerechte Strafe zu erteilen.“
Alexandra sah aus den Augenwinkeln, dass Stella zitterte. Es war eindeutig, dass sie vollkommen verängstigt war. Zudem schien sie die beiden Vampire auch noch zu kennen. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass selbst Alexandra, die sich mit solchen Sachen gar nicht auskannte, merkte, dass sie Vampire höchsten Ranges vor Augen hatten.
„R-Raul“, stotterte Stella und wich einige Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen den Schrank stieß.
„Na immerhin scheinst du noch zu erkennen, dass wir Söhne der höchsten Mitglieder aus dem Clan sind“, stellte der zweite Vampir Raul lächelnd fest. Er schien Stellas Angst förmlich zu genießen. Als sein Blick allerdings auf Alexandra fiel, wirkte er schon beinahe enttäuscht. „Und wie kommt es eigentlich, dass du nicht vor Angst zitterst? Du solltest ebenfalls in der Lage sein, unsere Macht zu spüren.“
„Ich halte nichts von Pessimismus im Voraus“, erwiderte Alexandra schlicht und trat langsam vor Stella. Das Gesagte konnten die beiden Vampire deuten wie sie wollten, Alexandra überlegte sowieso gerade fieberhaft, wie sie heil aus dieser Situation kamen. Nebenbei fiel ihr auf, dass sie gerade wahrscheinlich die Mörder der acht blutleeren Leichen vor Augen hatte, von denen in der Zeitung berichtet worden war. Viel mehr Sorgen bereitete ihr aber der Umstand, dass sie gegen diesen Rick zwar eine geringe Chance hatte, doch so wie sie Raul einschätzte, war es für sie unmöglich ihn zu besiegen. Und zu allem Überfluss schien Stella von ihrer Furcht vollkommen überwältigt zu sein, was einen Überraschungsangriff mit anschließender Flucht unmöglich machte. Ihr musste ganz schnell etwas einfallen oder sie beide würden einen grausigen Tod mit blutleeren Adern sterben.
„Ein geschmackloser Tod.“
Der Wechsel in ihren Traum vollzog sich so plötzlich, dass Alexandra im ersten Moment taumelte und sich verwirrt umsah. Da sie gerade erst vor ein paar Minuten hier gewesen war, war dieser Wechsel vollkommen unerwartet. Dann blickte sie allerdings über ihre Schulter und sah Kiyoshi resigniert an.
„Warn mich das nächste Mal wenigstens, wenn du wieder so plötzlich auftauchst“, sagte sie lediglich.
„Soll ich anklopfen?“, fragte Kiyoshi und es sah fast so aus, als würde er eine Augenbraue hochziehen.
„Nein“, murmelte Alexandra, „Das würde mich nur noch konfuser ma...“
Auf einmal zog der Dimensionswächter sie sachte an sich. Seine Hand ruhte auf ihrer Stirn und drückte ihren Kopf sanft an seine Brust. Im nächsten Moment breitete er seine schneeweißen Flügel aus, die augenblicklich zu leuchten begannen. Alexandra schloss nur ihre Augen und versuchte sich zu entspannen. Wiedermal musste sie leider zugeben, dass sie der Situation nicht mehr gewachsen war. Es war richtig frustrierend.
Raul und Rick wollten sich gerade auf die beiden Mädchen stürzen und Stella hätte im nächsten Moment wahrscheinlich laut geschrien, wenn nicht just in dem Augenblick alle drei Alexandra, die kurz geschwankt hatte, verwirrt angesehen hätten. Auf einmal hatten sich ihre Haare nämlich weiß gefärbt und angefangen zu schweben, als hätten sie plötzlich ein Eigenleben. Als die beiden Vampire und Stella gerade den ersten Schreck verkraftet hatten, schwebten auf einmal weiße Energieströme in der Luft. Dann öffnete Alexandra ihre nun eisblauen Katzenaugen und sah die beiden Vampire vor sich drohend an.
„Äh.. was ist denn mit ihr?“, fragte Rick verwirrt, der sich offensichtlich keinen Reim auf das machen konnte, was da gerade vor seinen Augen geschah.
„Ich bin mir nicht ganz sicher...“, sagte Raul und sah Alexandra abschätzend an, die nun noch selbstbewusster und sicherer wirkte, als zuvor schon. Es war als stünde sie über allem und jedem und von ihr ging ein Gefühl der ungeheuren Macht aus. Der rapide Wechsel war schon beinahe verstörend.
„K-Kiyoshi...“ Stella war genauso überrascht wie die beiden anderen Vampire, mit dem Unterschied, dass sie wusste, was vor sich ging. Jedoch wurde ihr in dem Moment klar, dass sie vollkommen versagt hatte. Sie war es doch, die auf Alexandra aufpassen sollte, und nicht andersherum, wie es bisher eigentlich immer gelaufen war. Sie, Seth und Azraél hatten das mittlerweile schon beinahe vollkommen vergessen, was wohl daran lag, dass Alexandra keine Person war, die schutzbedürftig wirkte. Im Gegenteil, sie schien immerzu einen kühlen Kopf zu bewahren und alles im Griff zu haben. Daher hatten sie und auch Seth und Azraél fast vergessen, weshalb sie sich eigentlich Alexandra angeschlossen hatten. Sie sollten auf sie achten und vor den Leuten beschützen, die sie umbringen wollten. Und darin hatten sie kläglich versagt. Langsam begriff Stella auch, warum Alexandra sich so darüber aufgeregt hatte, dass sie und die beiden Jungen sich in die Kämpfe eingemischt hatten. Letztlich hatte immer Alexandra alles regeln und ihre Haut retten müssen.
„Hatte ich euch drein nicht eigentlich mal einen Auftrag gegeben?“, fragte Kiyoshi prompt und sah Stella über seine Schulter hinweg an.
Fast wie aufs Stichwort wurde in dem Moment die Tür ins Zimmer aufgerissen und Seth und Azraél sahen die Anwesenden verdattert an. Das Bild war ja auch nicht unbedingt normal: Stella stand mit verängstigtem Gesichtsausdruck vor dem Schrank, Alexandra stand mit weißen Haaren, also von Kiyoshi kontrolliert, vor Stella und war anscheinend gerade dabei die Vampire vor der Balkontür in die Mangel zu nehmen, denn die weißen Energieströme kamen den beiden langsam immer näher.
Seth und Azraél waren einen Moment lang unfähig etwas zu sagen, doch als Alexandras Blick mit Kiyoshis kalten Augen auf sie fiel, wussten beide sofort, dass sie irgendetwas ziemlich vergeigt hatten. Und so wie Stella aussah, hatte sie das auch bereits zu spüren bekommen.
„Ihr seid wie immer reichlich spät“, stellte Kiyoshi fest und blickte wieder zu den beiden Vampiren vor der Balkontür, „Und ihr verschwindet besser.“ Er brauchte gar nicht mehr zu sagen, seine Stimme hatte einen solch drohenden Klang, dass selbst Azraél fast weiche Knie bekam und an den beiden Vampiren würde das gewiss auch nicht einfach so vorbeigehen.
Tatsächlich schienen die beiden die drohende Gefahr zu spüren. Zumindest wirkten sie nicht mehr annähernd so selbstsicher und bewegten sich langsam nach draußen.
„Wir werden wiederkommen und uns das heilige Buch und das verdorbene Halbblut holen“, sagte Raul und wandte sich zum Gehen, „Wir finden euch überall, also braucht ihr gar nicht erst zu fliehen. Du solltest es wissen, Stella.“
Damit verschwanden er und Rick über den Balkon in die Nacht. Stella sank daraufhin zu Boden und zitterte immer noch am ganzen Körper.
Einen kurzen Moment lang sah Kiyoshi sie an, dann schloss er die Augen und im nächsten Moment färbten sich Alexandras Haare wieder rotbraun. Sie schien zur Seite zu kippen, doch dann fing Alexandra sich und blinzelte verwirrt, ehe sie das Gesicht grimmig verzog. Schon wieder hatte es Kiyoshi gekonnt hinbekommen, dass sie ihn nicht in die Mangel nehmen konnte. Aber irgendwann würde sie ihn schon zum Reden bringen, das schwor sie innerlich.
„Alles in Ordnung bei euch?“, fragte Seth besorgt und ging neben Stella in die Knie.
„Ja, es war knapp, aber wir leben noch“, stellte Alexandra fest, „Mir geht es gut, aber Stella scheint unter Schock zu stehen.“
„Es geht schon“, sagte diese leise und rieb sich die Oberarme. Sie zitterte jedoch immer noch leicht und selbst ihre Stimme klang zittrig und vollkommen verängstigt.
„Was wollten diese zwei Vampire eigentlich hier?“, fragte Seth nun verwirrt. Zwar konnte er ohne seine Sense Auren nicht mehr sehen, doch trotzdem war er sich ziemlich sicher, dass die beiden Männer nicht menschlich gewesen waren. Und da es eindeutig keine Shinigamis waren, konnten es nur noch Vampire sein, denn Dämonen hätten sich gegenüber Kiyoshi ganz anders benommen.
„Sie wollten das verlorene Buch“, antwortete Alexandra schlicht und blickte dann zu Stella, „Und wie es aussieht, sind sie nun auch hinter ihr her.. Wobei du uns den Grund dafür gerne noch nennen kannst, Stella. Du müsstest es doch wissen.“
Das Mädchen nickte nur, doch es dauerte einen Augenblick, bis sie antwortete. „Dafür dass mein Vater sich in eine menschliche Frau verliebt und sogar ein Kind von ihr bekommen hat, wurde sein Name auf alle Zeit von den höchsten Mitgliedern des Clans für verdorben erklärt. Eigentlich sollte mein Vater der Führer des Clans werden, aber das war danach natürlich nicht mehr möglich. Im Gegenteil, meine Mutter wurde getötet, mein Vater wurde von den anderen gefangen genommen und er wird wahrscheinlich noch heute gefoltert.. Ich war damals sieben und konnte irgendwie flüchten. Eine Weile lang hab ich auf der Straße gelebt, bis man mich adoptiert hat. Später bin ich aber abgehauen, als ich gemerkt habe, dass Raul und seine Leute mich suchen. Danach bin ich weit weg von meiner Adoptivfamilie in eine kleine Wohnung gezogen und zur Schule gegangen. Da hab ich dann Seth und später auch Azraél kennengelernt. Und dann bist du bei uns aufgetaucht.“ Sie stoppte und sah zu Boden. Noch immer war sie ein einziges Nervenbündel. „Raul hat die Suche nach mir schon vor einiger Zeit aufgegeben, weshalb ich in Frieden leben konnte.. aber jetzt...“ Stella schluchzte und schlang die Arme um ihren Körper. „Jetzt ist er plötzlich wieder da! Keiner kann ihm und seinen Leuten entkommen! Es nützt alles nichts, wir werden alle getötet! Nichts kann uns jetzt noch rette...“
Alexandra hatte kurzerhand ausgeholt und Stella eine Ohrfeige verpasst. „Beruhig dich endlich“, sagte sie entschieden, „Niemand wird hier getötet, wenn ich es nicht will. Auch du wirst nicht umgebracht, also komm endlich wieder runter.“
Stella sah sie ungläubig an.
„Außerdem ist es dir doch schon mal gelungen ihm zu entkommen“, fügte Alexandra hinzu und seufzte, „Uns fällt schon was ein, also hör auf Panik zu schieben, bevor überhaupt etwas wirklich Schlimmes passiert ist.“
„Alex hat recht“, bemerkte Seth und sah Stella grinsend an, „Außerdem sind Azraél und ich ja auch noch da. Irgendwie werden wir das schon schaffen.“
„Wo wart ihr eigentlich vorhin?“, fragte Alexandra, „Ausnahmsweise wärt ihr vielleicht sogar mal nützlich gewesen, aber wie es aussieht, habt ihr die Hälfte des Ärgers verpennt.“
„Das ist nicht meine Schuld, du brauchst mich gar nicht so anzusehen“, erwiderte Azraél und auch er klang resigniert, „Seth wollte einfach nicht wach werden.“
Dieser grinste schief und wirkte ein wenig zerknirscht.
Alexandra schüttelte lediglich den Kopf. „Was soll´s, jetzt ist es sowieso erstmal vorbei.“
„Zum Glück“, murmelte Stella leise.
„Aber Stella, können sich deine alten Freunde auch im Tageslicht bewegen oder ist es wie in Büchern, wo sie bei Kontakt mit Sonnenlicht einfach verbrennen?“, fragte Alexandra.
Stellas etwas schiefer Gesichtsausdruck sprach für sich. „In Flammen aufgehen tun sie jedenfalls nicht. Zwar bekommt ihnen das Sonnenlicht über einen längeren Zeitraum hinweg nicht, aber eine halbe bis volle Stunde halten sie es ohne Schäden im Sonnenlicht aus.“
„Wäre ja auch zu schön gewesen“, stöhnte Alexandra und schüttelte den Kopf, „Na ja egal, wir schlafen erstmal bis morgen und sehen dann weiter. Ich hoffe nicht, dass wir heute Nacht nochmal Besuch bekommen.“
So kehrten die beiden Jungen in ihre Zimmer zurück und Alexandra und Stella legten sich wieder in ihre Betten. Letztere hatte sich durch Alexandras Worte auch einigermaßen beruhigt, sodass sie relativ schnell einschlief. Alexandra hingegen schlief weniger schnell ein, da sie darüber nachdachte, was sie wegen ihrer neuen Verfolger machen konnten. Nach etwa einer Dreiviertelstunde übermannte der Schlaf sie dann aber ebenfalls.
Kiyoshi stand wie immer regungslos auf dem kühlen Wasser unter dem schwarzen Nachthimmel, dessen bleicher Vollmond und silbern glitzernde Sterne seine stillen Beobachter waren. Er hatte das Gespräch der vier noch bis zum Ende verfolgt und wollte sich gerade zurückziehen, als er auf einmal ein Geräusch hörte. Es war das sanfte Klingen eines Wassertropfens, der auf ein weites Meer fiel und sich mit ihm vereinigte. Ein Laut, der in dieser Seele gar nicht möglich war.
Langsam drehte Kiyoshi sich um und erblickte eine junge Frau von etwa neunzehn Jahren. Ihre langen, tief dunkelbraunen Haare ruhten auf ihrem Rücken und ihre goldenen Augen waren auf Kiyoshi gerichtet. Ihr langer Mantel war rot-beige, bis zur Taille von den Schnallen verschlossen und reichte ihr beinahe bis zu den Füßen. Darunter trug sie noch eine dreiviertellange schwarze Hose. Auch der Umstand, dass sie keine Schuhe trug, konnte ihre würdevolle und elegante Ausstrahlung nicht mindern. Ganz im Gegenteil, sie wirkte unglaublich machtvoll.
„Ich danke dir, dass du meiner Meisterin geholfen hast“, sagte die junge Frau und neigte leicht den Kopf, ehe sie ihn plötzlich mit stechenden Augen ansah, „Aber ich werde deine Anwesenheit hier nicht länger dulden, verlasse diese Seele und komm nicht noch einmal hier her. Sonst werde ich ungemütlich.“
Kiyoshi sah sie einige Sekunden lang schweigend an. „Wer bist du? Und das hier ist nicht deine Seele, was dir kein Recht gibt, mir Befehle zu erteilen.“
„Wer ich bin tut nichts zur Sache“, erwiderte die junge Frau und obwohl Kiyoshi seine Macht nun auch nicht mehr vollständig verbarg, schien sie keineswegs beunruhigt zu sein. Sie schien es noch nicht mal zu bemerken. „Und ich habe hier durchaus einiges zu sagen, also solltest du meinen Rat besser befolgen.“
Einen Augenblick lang lieferten sich die beiden einen stillen Augenkampf. Beide gaben immer mehr ihrer unermesslichen Macht preis, doch auf diesem Weg kamen sie zu keinem Ergebnis. Schließlich traten beide im selben Moment einen Schritt zurück.
„Ich ziehe mich vorläufig zurück“, sagte Kiyoshi ernst, „Aber ich werde weiterhin über sie wachen.“
Damit war er verschwunden und Lost verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Was bildete sich dieser Dimensionswächter eigentlich ein? Vielleicht war er der Oberste seiner Art und seine Macht unschätzbar, doch auch er schien es auf irgendeine Weise auf sie, das verlorene Buch, abgesehen zu haben. Und die ganze Zeit unter Beobachtung zu stehen fand Lost alles andere als prickelnd, da musste sie ihrer Meisterin zustimmen.
Als Alexandra am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie zunächst ein komisches Gefühl im Kopf und auch leichte Schmerzen, doch beim Frühstück im Hotelrestaurant verging beides zum Glück wieder. So konnte sie sich mit Stella, Seth und auch Azraél darüber beraten, was sie jetzt machen sollten. Denn die drei nach Hause zu schicken kam nun nicht mehr in Frage. Nicht da Stella auch eines der Ziele der beiden Vampire war.
„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Seth mit vollem Mund.
„Dir sollte wirklich noch mal jemand etwas über Tischmanieren beibringen“, murmelte Alexandra resigniert, ehe sie wieder ernst wurde, „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber da dieser Raul ja schon gesagt hat, dass sie uns überall finden werden, auch wenn ich das ehrlich gesagt bezweifle, halte ich es für das Klügste, wenn wir einfach hier bleiben. Ob sie uns nun hier oder wo anders angreifen ist ja ziemlich gleich.“
„Dass du bei der Aussicht so ruhig bleiben kannst, finde ich fast ein bisschen unheimlich“, bemerkte Azraél, der mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl saß und schon seit ein paar Minuten mit dem Essen fertig war. Einzig sein Kakaobecher war noch halbvoll.
„Dich hat keiner nach deiner Meinung gefragt“, konterte Alexandra schlicht und strafte ihn durch Nichtachtung.
„Wahrscheinlich hast du recht, aber wohl ist mir dabei trotzdem nicht“, sagte Stella bedrückt. Sie schien ihre Angst vom Vortag zwar weitestgehend überwunden zu haben, doch ein wenig unsicher war sie noch immer.
„Das ist keinem von uns, aber viele Auswahlmöglichkeiten haben wir auch nicht“, bemerkte Alexandra und blieb sachlich, „Am besten wir vermeiden Orte, wo man nicht auch über mehrere Wege verschwinden kann. Wir sollten besser auch wenn´s geht die ganze Zeit über zusammen bleiben. Ihr beide seid hiervon zwar eher weniger betroffen, aber Stella und ich scheinen ja gefundene Zielscheiben zu sein.“
„Gerade du scheinst ja ziemlich beliebt bei allen möglichen Lebewesen zu sein“, stellte Seth mit einer hochgezogenen Augenbraue fest, „Vermuten die alle, dass du dieses komische Buch oder was auch immer hast, um das sich das Spiel dreht, oder warum wirst du alle naslang gejagt?“
Alexandra zog lediglich eine Grimasse. „In jedem Fall haben sie es jetzt nicht nur auf mich, sondern auch auf Stella abgesehen. Wie ihr seht passiert das denjenigen, die mit mir zu tun haben, eigentlich immer. Ihr tätet also gut daran so bald wie möglich wieder nach Deutschland zurückzukehren.“
„Hast du es immer noch nicht verstanden?“, fragte Seth stirnrunzelnd, „Wir werden nicht gehen.“
„Vielleicht solltest du auch mal ein bisschen auf Stella Rücksicht nehmen“, erwiderte Alexandra ernst, „Es ist nämlich ein ganz anderes Gefühl, wenn man selbst gejagt wird, als wenn man nur so jemanden begleitet. Und ich bin die letzten Jahre auch alleine klargekommen, also braucht ihr euch um mich keine Gedanken zu machen...“
„Wir werden mit dir kommen“, sagte Stella auf einmal entschlossen.
„Du weißt schon, dass noch ganz andere kommen und auf uns Jagd machen werden“, warf Alexandra ein, „Und die könnten auch hinter euch her sein, so wie die beiden Vampire von heute Nacht.“
„Na und?“, sagte Stella trotzig, „Ich hatte jetzt die ganze Nacht und den Morgen über Zeit nachzudenken. Und ich habe zwar Angst, schließlich kenne ich die beiden von früher und da waren sie schon nicht ohne, aber ich werde trotzdem nicht nach Deutschland zurückgehen. Selbst wenn sie mich nicht verfolgen würden, wenn ich dich nicht begleitet hätte, werde ich das hier nicht bereuen. Es macht mir nämlich auch Spaß mit dir durch die Welt zu reisen.“
„Du hast doch ein Rad ab.“ Alexandra schüttelte ungläubig den Kopf.
„Na? Kapierst du langsam, dass du uns nicht mehr loswirst?“, fragte Azraél und lächelte leicht.
„Ich kann immer noch nicht fassen, dass ihr so dumm seid“, erwiderte Alexandra und suchte nach Argumenten, die die drei vielleicht doch noch umstimmen könnten, aber es hatte ganz den Anschein, dass ihre Anhängsel sich nicht mehr abschütteln ließen, egal was sie versuchte. Wahrscheinlich würden sie auch bei ihr bleiben, wenn sie ihnen den unausweichlichen Tod prophezeien würde. Das konnte doch echt nicht wahr sein! Noch nie hatte sie so viel Dummheit auf einem Haufen gesehen! Die würden sich damit nochmal ihr eigenes Grab schaufeln! Alexandra lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schüttelte erneut den Kopf.
„Da nützt auch alles Kopfschütteln nichts“, bemerkte Seth grinsend, „Wir werden auf dich aufpassen, da kannst du nichts gegen machen.“
„Wer passt hier bitte schön auf wen auf?“, fragte Alexandra resigniert, „Und damit eines klar ist: Wenn ihr wirklich so blöd seid mir weiter zu folgen, werdet ihr auf mich hören. Schließlich muss ich hier die Verantwortung übernehmen und außerdem bin ich immer noch das Hauptziel der ganzen Gruppen, die es da auf das Buch abgesehen haben. Und ich hab die meiste Erfahrung mit solchen Jagden, also werdet ihr euch gefälligst an meine Anweisungen halten. Verstanden?“
„So lange sie nicht zu absurd sind, okay“, sagte Stella lächelnd, „Und ich verspreche dir, dass ich beim nächsten Treffen mit Raul und Rick nicht nur verängstigt da stehen werde. Du wusstest, dass sie zu stark sind, hast aber trotzdem versucht mich zu beschützen.. Ich werde die Schuld zurückzahlen, verlass dich drauf.“
„Das mit der Schuld ist mir ziemlich gleich, aber wehe du versuchst was Riskantes.“ Alexandra verschränkte die Arme vor der Brust, „Glaub mir, ich weiß, wie ich jemandem die Hölle heiß machen kann, also versuch gar nicht erst mich dazu zu bringen.“
„Alles klar.“ Stellas Lächeln war ein klein wenig schief.
„Und das Selbe gilt übrigens auch für euch beide“, fügte Alexandra noch hinzu und sah die Jungen warnend an.
„Schon gut“, sagte Seth schnell und Azraél nickte lediglich seufzend.
Wenig später waren alle vier der Meinung, dass es zu langweilig war, die ganze Zeit über im Hotel zu bleiben und zu warten. Deswegen holten sie nach dem Frühstück ihre Jacken und gingen nach draußen. Auch wenn es leicht nieselte, wollten Stella und Seth unbedingt mal den Big Ben von nahem sehen, von daher führte ihr erster Weg sie in die Richtung der großen Uhr. Alexandra kannte sich zum Glück ganz gut aus, sodass sie nicht erst noch nach dem Weg fragen mussten. Bei dem leichten Regen war Alexandra allerdings froh über ihren dunkelbraunen Mantel und auch die anderen drei waren froh, dass sie sich doch noch Jacken geholt hatten, wobei Azraél ebenfalls einen langen Mantel trug, wenn auch einen Schwarzen.
Alles schien ruhig zu sein. Der Regen plätscherte leise und ein paar wenige Passanten gingen zügig ihres Weges. Nichts Ungewöhnliches. Und dennoch wurde Alexandra schon nach kurzer Zeit das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurden. Erst war es nur leicht, dann nahm das Gefühl immer mehr zu und als sie gerade ein Stück an der Themse entlang gingen, blieb Alexandra schließlich stehen.
„Langsam reicht´s mir“, sagte sie und sah sich um, „Ich kann ihre Mordlust ja förmlich spüren.“
Stella wirkte schon seit einer Weile beunruhigt und auch den beiden Jungen war bereits aufgefallen, dass sie einige Verfolger hatten. Daher war die Nachricht nicht weiter überraschend.
„Also habt ihr uns bereits bemerkt“, sagte Raul lächelnd, der in dem Moment mit Rick aus einer schmalen Gasse auf der anderen Straßenseite kam, „Was für eine Ehre.“
„Eure Blutgier ist ja auch kaum nicht zu bemerken“, stellte Alexandra fest, wobei ihr bereits aufgefallen war, dass Raul und Rick nicht die einzigen waren, die auf der Lauer gelegen hatten. Noch bestimmt drei weitere Vampire hielten sich hier am Fluss auf. Es war schon ein wenig beängstigend, doch Alexandra wusste, dass sie bei Raul keine Angst oder Schwäche zeigen durfte. Das würde ihn nur reizen.
„Wenn ihr euch freiwillig ergebt, müssen wir euch keine Schmerzen bereiten“, sagte Raul grinsend, „Ihr Jungen könnt ruhig gehen, unser Interesse gilt nur euch beiden.“ Dabei sah er Stella und Alexandra mit solch einem furchteinflößenden Blick an, dass sich selbst auf Alexandras Armen eine Gänsehaut bildete. In ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken und versuchten verzweifelt sie dazu zu bewegen schleunigst von hier zu verschwinden, doch Alexandra hatte bereits Übung darin die Warnsignale ihres Körpers zu übergehen.
„Dummerweise nur haben wir kein Interesse daran euch zu begleiten“, erwiderte sie schlicht.
„Und wir werden unsere Freunde nicht im Stich lassen“, sagte Seth ernst.
Alexandra hätte ihm für den Spruch am liebsten eine reingehauen. Hier brauchten sie keine großen Sprüche sondern schleunigst einen Plan. Und Seth schien es zu bevorzugen ihre Gegner auch noch zu provozieren, Alexandra war mal wieder begeistert. Da hätte er die Vampire auch gleich offiziell dazu einladen können sie anzugreifen. Das Ergebnis wäre das Gleiche gewesen.
„Was könntet ihr schon ausrichten?“, fragte Rick grinsend und kam einen Schritt näher, „Ihr seid keine Gegner für uns und das wisst ihr auch.“
Alexandra blickte in den Himmel und deutete dann mit dem Finger nach oben. „Ein Ufo“, sagte sie mit treudoofer Stimme.
Die beiden Vampire blickten überrascht nach oben und Alexandra drehte sich blitzschnell um. Auch Stella, Seth und Azraél hatten zum Glück kapiert, was das sollte, und liefen so schnell sie ihre Beine trugen los. Das reichlich simple Ablenkungsmanöver hatte ihnen immerhin ein paar wenige Sekunden Vorsprung gegeben, doch leider war Alexandra auch klar, dass das nicht ausreichen würde, um die beiden Vampire abzuhängen. Ihr musste schnellstens etwas einfallen, bevor Raul, Rick oder einer der anderen Vampire sie noch erwischte. Dann blickte Alexandra auf den breiten Fluss neben ihnen und entdeckte ein Stück weiter vorne eine Brücke. Sie gab ihren drei Anhängseln ein kurzes Zeichen und sie liefen auf die Brücke zu.
Leider nur tauchte in dem Moment weiter vorne ein Vampir auf und stellte sich direkt vor die Brücke, um ihnen den Weg zu versperren. Da sie sowieso keinen anderen Ausweg hatten beschleunigte Alexandra ihr Tempo und holte ihren Schirm aus dem geheimen Fach ihres Mantels. Sie ließ ihn um ihr Handgelenk kreisen und lief direkt auf den etwas überraschten Vampir zu. Dieser hatte wohl nicht damit gerechnet, dass Alexandra ihn so frontal attackieren würde. Zudem schien auch er noch nicht sehr viel Kampferfahrung zu haben oder er unterschätzte Alexandra maßlos, denn seine Verteidigung war einfach nur grottenschlecht. Rick schien von hinten noch etwas zu rufen, doch da hatte Alexandra dem Vampir schon ihren Schirm gegen den Kopf geknallt. Er flog ein ganzes Stück zur Seite und blieb stöhnend auf der regennassen Straße liegen.
Alexandra und die anderen drei rannten unterdessen über die Brücke und waren froh, dass bei dem Wetter nicht viele Leute draußen waren. Allerdings war das vielleicht auch nicht so gut, doch Alexandra sparte sich den Gedankengang und blickte über ihre Schulter. Noch immer waren vier Vampire hinter ihnen und Alexandra war sich nicht sicher, ob nicht noch ein paar mehr irgendwo auf der Lauer lagen.
„Wohin jetzt?“, fragte Stella. Auch sie hatte gesehen, dass ihre Verfolger langsam aber sicher aufholten.
„Nach links“, sagte Alexandra kurzerhand und rannte quer über die Straße.
Stella, Seth und Azraél folgten ihr schnell. Sie wussten nicht, was Alexandra vorhatte, doch es wurde mittlerweile eng. Nur noch vielleicht zehn Meter trennten die Vampire von ihrer Beute.
Azraél blickte ebenfalls über seine Schulter und seine Augen wurden schmal, doch auf einmal bekam er einen heftigen mentalen Hieb und taumelte. Alexandra bremste abrupt ab und drehte sich um, während Stella und Seth weiterliefen.
„Idiot!“, rief sie nur aufgebracht, packte Azraél am Arm und zog ihn weiter, bevor die Vampire endgültig aufgeholt hatten. Einen Moment lang wirkte der Junge etwas benommen, doch dann schien er sich wieder gefangen zu haben und lief richtig.
„Was war das denn?“, fragte Alexandra über ihre Schulter, während sie sich daran machte Stella und Seth einzuholen, die dieses Mal so schlau gewesen waren weiter zu laufen und dabei nur ein wenig langsamer zu werden.
„Mein Kreislauf, nichts weiter Schlimmes“, sagte Azraél nur. Er klang allerdings fast ein wenig erschrocken und noch leicht benommen. Sein Gesichtsausdruck war so ernst wie noch nie.
Alexandra fragte gar nicht weiter, sondern nahm stattdessen wieder die Position an der Spitze ein und führte ihre drei Anhängsel durch einige schmale Straßen, die Vampire nur gut fünf bis sechs Meter hinter ihnen. Die ganze Zeit über sah Alexandra sich nach einem Versteck oder irgendetwas um, wo sie die Vampire endlich loswurden. Immerhin konnten sie nicht ewig so durch die Straßen hetzen. Jedoch war nichts zu sehen, was auch nur ansatzweise als ein solcher Platz hätte dienen können. Das Einzige, was sich von den ganzen normalen Häusern und Läden unterschied, war eine große Kirche ein Stück weiter die Straße runter. Alexandra beschloss, dass sie es versuchen mussten.
„Bleibt hinter mir“, rief sie über ihre Schulter und legte noch einen Zahn zu. Allerdings rutschte sie dabei versehentlich aus und wäre beinahe auf der Nase gelandet, doch sie konnte sich noch fangen und rannte weiter. Deswegen hasste sie regennasse Wege. Man rutschte immer so leicht aus.
Dann waren sie vor der großen Eingangstür der Kirche angekommen. Alexandra hielt sich nicht lange mit irgendwelchen Überlegungen auf – da heute Montagmittag war, glaubte sie nicht, dass es eine Veranstaltung oder einen Gottesdienst gab. Demnach gab es hoffentlich kein allzu großes Chaos, wenn sie hereinplatzten. Denn genau das taten sie, da Alexandra sich das Anklopfen sparte und einfach kräftig gegen die nicht unbedingt kleine Tür trat, die daraufhin aufschwang und ihnen Einlass gewährte.
Stella, Seth und Azraél waren sichtlich überrascht, schließlich war eine Kirche immer noch das Haus Gottes. Das schien Alexandra jedoch herzlich wenig zu interessieren, denn sie schob die drei im Eiltempo in die Kirche und knallte die Tür hinter ihnen wieder zu. Nach kurzem Umsehen schnappte sie sich einen dreiarmigen Kerzenständer und blockierte mit ihm die Tür.
„Das sollte uns etwas Zeit verschaffen“, sagte Alexandra und hielt Ausschau nach dem schnellsten Weg zur Hintertür, „Beeilt euch, ich bezweifle, dass das unsere Verfolger lange aufhalten wird.“
„Aber wieso ausgerechnet eine Kirche?“, fragte Seth, „Was wenn wir deswegen in der Hölle landen?!“
„Pech gehabt, ich bin nicht gläubig“, sagte Alexandra nur, „Außerdem ist es mir ziemlich egal, wo ich nach meinem Tod lande, aber ich hatte auch nicht vor, das so bald herauszufinden, also kommt in die Gänge.“
In dem Moment hörten sie, wie sich jemand gegen die Tür warf. Es gab einen Knall, doch die Tür hielt zum Glück stand.
„Beeilt euch!“, rief Alexandra und die anderen drei liefen endlich zwischen den Bänken hindurch nach hinten zum Altar. Alexandra war direkt hinter ihnen und sah sich nach einem Weg aus dieser Halle um. Leider hatte sie, zumindest soweit sie sich erinnerte, noch nie eine Kirche betreten und hatte so natürlich keine Ahnung, wo hier der nächste Ausgang war. Zudem war auch bereits zwei Mal das erneute Krachen zu hören gewesen und so wie es aussah, würde die Tür nicht mehr lange standhalten. Dann war ein lauteres Krachen zu hören und die Tür fiel splitternd zu Boden. Vor ihr standen vier Vampire, die eindeutig ihre helle Freude daran hatten Alexandra und die anderen drei zu jagen.
„Mist, sie können Kirchen also betreten“, murmelte Alexandra nervös. Jetzt saßen sie wirklich in der Patsche.
„Dachtest du etwa, dass sie das nicht können?“, fragte Stella stirnrunzelnd, auch wenn sie ebenfalls ziemlich beunruhigt war, „Wo hast du dein Wissen bitteschön her? Das ist doch alles Humbug!“
„Tut mir ja leid, aber bis vor noch nicht mal zwei Wochen hatte ich nur mit Menschen zu kämpfen und nicht mit Dämonen, Vampiren und was weiß ich nicht noch alles“, konterte Alexandra und überlegte angestrengt, was sie jetzt machen sollten.
„Schnappt sie euch!“, rief Raul grinsend und kam selber auf sie zugeschossen.
Alexandra wollte gerade etwas rufen, von dem sie selber nicht wusste, was es war, da hörte sie auf einmal ein Geräusch. Drei Gestalten sprangen an ihr und ihren Anhängseln vorbei, geradewegs auf die vier Vampire zu. Alle drei trugen kurze weiße Capes, auf denen ein scheinbar eisernes, silbernes Wappen zu sehen war. Die hohen Kragen der Capes waren umgeschlagen und unter ihnen trugen die drei noch eine dunkellilane Robe, die oben allerdings etwas heller als unten zu sein schien. Außerdem waren die einmal umgeklappten Ärmel an den umgeklappten Stellen ebenfalls weiß und von einem gelben Streifen geziert. Unter der Robe schienen die drei Männer schwarze Hosen zu tragen, jedenfalls soweit Alexandra es in dem kurzen Augenblick, in dem sie neben ihr waren, erkennen konnte. Die drei landeten beinahe unmittelbar vor den Vampiren, die überrascht inne hielten und die Neuankömmlinge skeptisch musterten.
„Na na, es ist nicht schön auf heiligem Grund Blut vergießen zu wollen“, sagte einer der drei jungen Männer freundlich lächelnd. Er hatte flachsfarbenes, glattes Haar, das ihm bis fast auf die Schultern reichte.
„Tse, ein paar durchgeknallte Geistliche haben mir gerade noch gefehlt“, schnaubte Raul und verzog das Gesicht, „Erledigt sie.“
„Ihr seid wohl nicht gekommen, um zu beichten?“, stellte ein anderer der jungen Männer seufzend fest. Seine kurzen dunkelbraunen Haare hatten einen leichten Rotstich und auf der Nase hatte er eine sportliche Brille mit silbernem Gestell.
Zur Antwort kamen ihm die Vampire mit gebleckten Zähnen entgegen und wollten sich allem Anschein nach einen kleinen Snack gönnen.
„Wenn das so ist, werden wir euch mit Freuden den Weg nach draußen zeigen“, sagte der dritte junge Bischof grinsend. Seine knallblonden Haare standen wirr ab und er erhob plötzlich eine Lanze mit dunkellilanem Schaft und silberweißer Klinge. Mit der breiten Seite der Klinge schlug er einfach zu und spendierte Rick einen Freiflug nach draußen, direkt durch die kaputte Tür.
„Nicht gut, Bischof Mikhael, Ihr sollt doch nicht immer gewalttätig werden“, sagte der junge Mann mit den dunkelbraunen Haaren und der Brille lächelnd. Der Vampir, der es auf ihn abgesehen hatte, nagte an einem Buch, das der Mann ihm einfach in den Mund gestopft hatte und in dem seine Zähne anscheinend stecken geblieben waren. Er wirkte alles andere als begeistert, doch das dicke Buch mit dem Ledereinband ließ sich auch nicht einfach durchbeißen oder zerreißen und seine Hände konnte er auch nicht benutzen, da diese von irgendetwas zusammengeschnürt wurden.
„Tse, und was betreibt ihr beide da bitteschön?“, fragte der junge Mann, der anscheinend Bischof war und Mikhael hieß. Dabei sah er den anderen Mann mit den flachsfarbenen Haaren an, der freundlich lächelnd vor dem Vampir stand, der in dünne Fäden gewickelt war, die jedoch nicht reißen konnten. So stand der Vampir unbeweglich vor seinem Ziel, ohne es jemals erreichen zu können.
„Wir erinnern unsere blutsaugenden Freunde daran, dass dies immer noch eine Kirche ist, in der nicht gejagt wird“, antwortete der Mann mit den flachsfarbenen Haaren. So wie es aussah waren er und der andere junge Mann ebenfalls Bischöfe.
Allerdings hatte Alexandra noch nie von Bischöfen gehört, die so etwas konnten, was die drei da gerade gemacht hatten. Sie war immer noch reichlich überrascht. Jedoch lief ihr im nächsten Moment ein eiserner Schauer über den Rücken. Sie spürte einen warmen Atem direkt an ihrem Hals.
„Das kommt davon, wenn man unachtsam ist“, sagte Raul grinsend und bleckte seine spitzen Vampirzähne.
Stella schrie erschrocken auf und auch Seth und Azraél starrten sie entgeistert an.
„Meine Meinung“, sagte Alexandra jedoch und rammte Raul das spitze Ende ihres Schirms in die Seite, „Nur anders als manch andere rechne ich mit so etwas.“
Sie drehte sich um und sah Raul an, der vor Schmerz sogar in die Knie gegangen war und sich die Seite hielt. Alexandra konnte es zwar nicht mit Sicherheit sagen, doch so wie sich das angefühlt hatte, hatte sie mit dem Schirm glatt eine seiner Rippen getroffen und es würde sie nicht wundern, wenn diese nun etwas angesplittert war. Er sah sie verbissen an. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet, so viel stand fest.
„Hut ab, junge Dame“, sagte der Bischof mit der Brille auf einmal, „Ihre Reflexe sind gut.“
„Gut genug um am Leben zu bleiben“, bemerkte Alexandra lediglich und ihre Augen wurden schmal.
„Sieh uns nicht so an, als würden wir zu denen da gehören“, sagte Bischof Mikhael mit einer hochgezogenen Augenbraue und deutete mit seiner Lanze auf einen der Vampire, „Wir haben euch gerettet, also sei gefälligst etwas dankbar.“
„Ja, ihr habt uns gerettet, das steht außer Frage“, musste Alexandra gestehen, „Aber wir haben nicht um eure Hilfe gebeten und außerdem erscheint es mir etwas seltsam, dass Geistliche wissen, wie man mit Vampiren umgeht. Wer oder was seid ihr?“
„Oje, jetzt haben wir ihr Misstrauen geweckt“, seufzte der Bischof mit den flachsfarbenen Haaren.
„Es stimmt, wir sind nicht NUR Bischöfe“, sagte der andere Bischof mit der Brille, „Aber auch ihr scheint mir eine etwas seltsame Gruppe zu sein.“
Alexandras Augen wurden noch ein Stück schmaler, doch dann richtete sie ihren Schirm mit der Spitze auf Raul, der gerade anscheinend hatte aufstehen wollen. „Glaub ja nicht, dass ich dich vergesse“, sagte sie drohend, „Ich bin nur gerade am Überlegen, was ich am besten mit euch mache.“
„Wenn du erlaubst, schaffe ich unsere uneingeladenen Gäste erstmal nach draußen“, erbot sich der Bischof mit den flachsfarbenen Haaren, „Mein Name ist Fatih.“
Alexandra überlegte einen kurzen Augenblick, doch dann seufzte sie. „Zwar weiß ich noch nicht, was wir beim nächsten Treffen gegen die Bande unternehmen sollen, aber wenn sie hier bleiben, bekomm ich noch eine Gänsehaut. Ich nehme dein Angebot an, Fatih.“
Dieser lächelte freundlich, dann machte er eine ausholende Bewegung mit seiner Hand, er trug weiße Handschuhe, und Alexandra sah im Licht der hohen Fenster an den Seiten auf einmal etwas glitzern. Hauchdünne Fäden. Damit war ihr auch klar, wie er zwei der Vampire handlungsunfähig gemacht hatte. Nun wurde auch Raul in einige dünne Fäden gewickelt und hochgehoben, zusammen mit dem anderen beiden Vampiren, von denen einer immer noch das Buch zwischen den Zähnen hatte, das der Bischof mit den dunkelbraunen Haaren ihm einfach in den Mund gestopft hatte, bevor er zubeißen konnte. Alle drei Vampire wurden, wie Rick zuvor, einfach aus der kaputten Tür geschleudert.
„Oje, die Tür wurde doch gerade erst repariert“, seufzte der Bischof mit der Brille und holte einen Stab hervor. Er sah zwar von außen aus wie ein hölzerner Gehstock aus, doch Alexandra war sich ziemlich sicher, dass der Schein trog. Der Bischof hob den Stab ein Stück an und rammte ihn dann mit etwas Kraft auf den Boden. Kurz schien die Stelle unter der Spitze des Stabes blau zu schimmern, dann begann die Tür auf einmal bläulich zu leuchten und im nächsten Moment setzte sie sich von selbst wieder an die richtige Stelle. Sie schien plötzlich wieder heil zu sein, als ob nichts geschehen wäre.
Alexandra hatte nur eine Augenbraue hochgezogen, während Stella und Seth hoch erstaunt wirkten und Azraél scheinbar am Überlegen war, was er davon halten sollte.
„Also ihr drei“, sagte Bischof Mikhael nun und sah sie mit einer hochgezogen Augenbraue an, „Wie habt ihr es denn geschafft gleich eine ganze Bande Vampire auf eure Fährte zu bringen?“
„Das ist gar nicht zu schwer, wenn man die richtigen Mittel hat“, stellte Alexandra trocken fest, „Aber das geht euch nichts an.“
„Was auch immer es ist, die Kirche wird euch Schutz gewähren, so lange ihr wollt“, sagte der Bischof mit der Brille nun, bevor Mikhael etwas erwidern konnte, „Und mein Name ist im Übrigen Seal.“
„Vielen Dank, aber ich denke, wir gehen besser weiter“, sagte Alexandra.
„Und wohin?“, fragte Azraél, während er in seiner Manteltasche etwas in sein Handy eingab, „Die greifen uns doch an, sobald wie hier wieder raus sind.“
„Möglich“, sagte Alexandra nur und überlegte. Sie hatte keine Lust länger als unbedingt nötig in dieser Kirche zu bleiben, doch leider schienen sie kaum eine andere Wahl zu haben. Und das kotzte sie gerade an. „Eine Weile werden wir wohl hier bleiben müssen, eine halbe Stunde mindestens, bis die hoffentlich fürs erste aufgeben.“
„Fühlt euch wie zu Hause“, sagte Fatih freundlich lächelnd.
Alexandra warf ihm einen unfreundlichen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf ihre Überlegungen, wie sie aus dieser blöden Lage rauskamen.
„Möchtet ihr vielleicht etwas Kräutertee?“, fragte Seal.
„Nein“, lautete Alexandras Antwort.
„Ja“, antworteten die anderen drei zeitgleich. Dann sahen sie Alexandra stirnrunzelnd an, die nichts dazu sagte sondern nachdenklich ins Leere blickte.
„Wartet einen Augenblick, wir sind gleich wieder zurück“, sagte Fatih und verließ mit den anderen beiden Bischöfen das Kirchenschiff.
Daraufhin fragte Stella leicht verwirrt: „Magst du die Bischöfe nicht?“ Die Frage war an Alexandra gerichtet, die noch nicht mal zugehört hatte.
Azraél sah sich unterdessen in der Kirche um und auch Seth staunte über die vielen Reihen von Bänken aus dunklem Holz. Der Altar thronte majestätisch am Ende des Ganges zwischen den Bänken und auch die vielen bunten Fenster waren äußerst eindrucksvoll. Es war eine schöne Kirche, schöner jedenfalls als man an diesen Tagen von draußen vermuten würde.
Wenig später brachten Fatih und Seal vier Tassen mit Kräutertee und reichten sie an die Gruppe. Zwar hatte Alexandra gar keinen verlangt und sie schenkte Fatih auch keine Beachtung, als er die Tasse neben ihr auf die hölzerne Bank stellte, doch der Bischof schien trotzdem nicht beleidigt zu sein.
„Ich hab mich draußen ein wenig umgesehen“, sagte Mikhael, der einige Minuten später aus einer Seitentür kam und sich noch nicht mal darum bemühte leise zu sprechen, obwohl man bei der Stille sowieso jeden kleinsten Laut hören konnte, „Eure spitzzahnigen Freunde scheinen das Weite gesucht zu haben, jedenfalls habe ich keinen von denen mehr gesehen.“
„Wenigstens eine gute Nachricht“, murmelte Alexandra und lehnte sich zurück. Wenn ihr doch nur eine Idee kommen würde, wie sie diese verdammten Vampire endgültig loswurden. Da sie die Geschichte mit dem Knoblauch und dem Holzpfahl wahrscheinlich auch vergessen konnte, fielen ihr nicht mehr viele Möglichkeiten ein. Und so wie es jetzt aussah, würden die nächsten Tage genauso ein Chaos werden wie der Heutige und die Letzten. Das waren ja wirklich bezaubernde Aussichten, sie stöhnte herzhaft und stand dann auf.
„Alles in Ordnung?“, fragte Fatih, der sich gerade noch mit Stella und Seth unterhalten hatte, die beide scheinbar ziemlich viel Interesse an seiner Technik mit den Fäden gefunden hatten. Währenddessen schien Seal mit irgendetwas am Altar beschäftigt zu sein und Azraél stand etwas abseits und blickte auf das Display seines Handys.
„Nicht anders als die letzten Tage auch“, erwiderte Alexandra schlicht, „Aber ich denke, wir machen uns wieder auf den Weg. Da die zwei da noch unbedingt den Big Ben sehen wollen, sollten wir das besser vorm Abend erledigen.“
„Das ist ratsam.“ Fatih lächelte freundlich.
„Ja“, stimmte auch Seal zu, der von einem dicken aufgeschlagenen Buch aufblickte. Kurz fiel Alexandra auf, dass seine dunklen Augen irgendwie einen seltsamen Ausdruck hatten – fast so als würde er etwas wissen – dann hatten sie wieder den für ihn normalen Ausdruck.
„Ihr wollt schon gehen?“, fragte Mikhael mit einer hochgezogenen Augenbraue, „Ihr könntet euch doch wenigstens noch den Gottesdienst heute Abend anhören.“
„Nein danke“, erwiderte Alexandra, „Ich hab nichts mit Gott am Hut, der hilft mir bei meinen Angelegenheiten schließlich auch nicht. Den Mist darf ich selber regeln, also lasst mich mit dem Herrn bloß in Ruhe.“
„Tse, wie unhöflich“, murmelte Mikhael nur.
„Kommt ihr dann mal?“ Sie sah Stella und Seth vielsagend an. „Und du da hinten kannst auch mal wieder zu uns zurückkehren, wo auch immer du mit deinen Gedanken warst.“
Azraél klappte sein Handy zusammen und kam mit einem leisen Seufzen zu ihnen herüber. Irgendetwas gefiel Alexandra an seinem Gesichtsausdruck nicht, aber sie wusste nicht genau, was es war. Er wirkte irgendwie zu ernst, doch darum kümmerte sie sich nicht.
„Dann wünschen wir euch eine gute Reise“, sagte Fatih, „Hoffentlich kommen bald ruhigere Zeiten für euch.“
„Das sehe ich noch nicht“, flüsterte Alexandra nur, hob aber die Hand und marschierte auf den Ausgang zu. Ihre drei Anhängsel folgten ihr brav und sie spürte die Blicke der Bischöfe auf sich, bis sie aus der Tür getreten waren und wieder draußen standen.
Mikhael schien sich zum Glück nicht geirrt zu haben, von den Vampiren fehlte jede Spur. Bedeckt war der Himmel zwar immer noch von tief hängenden Regenwolken, doch wenigstens war es mal trocken. Auf ihrem Weg durch die Straßen begegneten sie trotzdem nur wenigen Menschen. Alexandra war das allerdings nur Recht, eine Sache weniger, auf die sie achten musste. Sie führte die Gruppe auf dem Weg zum Big Ben auch durch den schönen Regent´s Park. Wie immer waren die Büsche und Bäume saftig grün, auch wenn das in dem dämmrigen Licht natürlich nicht so gut zur Geltung kam. Alexandra mochte den Anblick, er gab einem das Gefühl von Ruhe und Gelassenheit.
Jedoch beschlich sie im nächsten Moment ein ganz anderes, ungutes Gefühl und sie blieb wie angewurzelt stehen.
„Alex?“ Seth sah sie verwirrt an, doch dann bekam auch er ein komisches Gefühl und Stella spitzte ebenfalls die Ohren. Natürlich spürten auch sie, dass etwas nicht stimmte.
„Keine Bewegung!“ Von einer zur nächsten Sekunde waren sie von über zehn Männern in schwarzen Anzügen und mit Sonnenbrillen auf den Nasen umzingelt. Nur Sekunden später fuhren auch noch mehrere Wagen vor und machten die Falle komplett, die ihnen da anscheinend gestellt worden war. Und Alexandra hatte es zu spät bemerkt, jetzt saßen sie fest.
„Nehmt schön brav die Hände hoch!“, befahl einer der Männer und machte mit der Pistole in seiner Hand eine demonstrative Bewegung.
„Tse, ihr könnt mich mal...“, murmelte Alexandra verbissen und suchte nach einem Ausweg, doch es sah schlecht aus. Die Männer schienen sich das wirklich genau überlegt zu haben, alle Wege waren abgeschnitten und die ganzen Schusswaffen schienen keine Spielzeuge zu sein.
„Äh.. sollten wir nicht besser auf sie hören?“, fragte Seth flüsternder Weise, auch wenn er die Arme schon rein aus Reflex heraus bereits gehoben hatte, genau wie Stella.
Alexandra biss sich auf die Unterlippe und ließ ihre Augen noch einmal durch die Reihen der uniformierten Männer schweifen. Letztlich aber gab sie ein Knurren von sich und hob die Hände über den Kopf. Bei der deutlichen Überzahl kam sie auch mit ihrem Schirm nicht weiter, selbst wenn die Männer keine Pistolen gehabt hätten, hätte sie hier im Kampf wohl kaum eine Chance gehabt.
„Vielen Dank für die Nachricht, Meister Azraél“, sagte dann plötzlich einer der Männer, die ihre Waffe auf Alexandra und die anderen richteten, „Dank Ihnen konnten wir endlich zuschlagen und das verlorene Buch sichern.“
Alexandra, Stella und Seth starrten Azraél an als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. Fassungslosigkeit und Verwirrung spiegelten sich in ihren Blicken wider. Selbst Alexandra konnte nicht verhindern, dass ihre Gesichtszüge entgleisten und ihre Fassungslosigkeit für einen Moment deutlich zu sehen war.
„Herrje, so ein Aufstand“, seufzte Azraél und trat mehrere Schritte zur Seite. Dabei schloss er seine Augen und atmete tief durch.
Währenddessen weiteten sich Alexandras Augen. Auf einmal schrillten die Alarmglocken in ihrem Kopf und eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Sie spürte die dunkle, negative Energie und konnte sie um Azraél herum beinahe schon sehen, so hoch konzentriert war sie. War dies das, was Alexandra schon seit geraumer Zeit fast befürchtet hatte? Dieses undefinierbare Gefühl, das sie vor etwas gewarnt hatte?
Als Azraél sich mit einer Hand durch die pechschwarzen Haare fuhr und dabei die Augen wieder öffnete, waren diese von einem kräftigen Blutrot. „Dabei hab ich euch doch gesagt, dass ihr nicht so einen Aufwand betreiben sondern Alexandra nur schnell gefangen nehmen sollt.“
Stella und Seth waren genauso entgeistert wie Alexandra, denn sie konnten ebenfalls das spüren, was Alexandra sogar einen Schauer über den Rücken jagte. Azraél, ihr aller Freund, war ein Dämon. Und wie es schien auch noch einer mit sehr hohem Rang.
Es war wirklich nicht gerade sehr angenehm mit auf den Rücken gefesselten Händen in einem Auto zu sitzen und wegen der zu wünschen übrig lassenden Fahrweise der lieben Herren Entführer durch das halbe Auto zu kugeln, nur um deswegen von den anderen Männern durch unsanfte Stöße wieder auf ihren Sitz befördert zu werden. Alexandra hätte vor allem dem Fahrer gerne mal etwas über die Verkehrsregeln erzählt, aber dummerweise hatte man ihr abgesehen von den Hand- und Fußfesseln auch noch einen schönen Knebel verpasst. Sie war wirklich sehr begeistert.
„Endlich konnten wir diese Göre einfangen“, sagte der Fahrer erleichtert, „Die hat uns jetzt schon seit Jahren Schwierigkeiten gemacht, langsam wurde es wirklich mal Zeit, dass wir sie zu fassen bekommen.“
„Aber da sieht man mal wieder den Unterschied zwischen uns Menschen und den Dämonen“, bemerkte der Beifahrer, der scheinbar noch etwas jünger war als die anderen beiden Männer in diesem Auto, „Ohne Meister Azraéls Hilfe hätten wir sie heute nicht zufassen bekommen.“
„Das kommt nur, weil keiner von uns auf die Idee gekommen ist sich einfach als ihr Kamerad auszugeben“, warf der Mann neben Alexandra ein, der ihr auch schon die ganze Zeit über eine Pistole an den Kopf hielt, damit sie nicht auf die Idee kam abzuhauen – wobei das zurzeit sowieso unmöglich war, so wie man sie verschnürt hatte. Als wäre sie ein Paket. Bei dem Vergleich knurrte sie leise.
„Schnauze!“, sagte der Herr neben ihr prompt und drückte ihr die Pistole kurz an die Schläfe.
Alexandras goldgelbe Augen wurden bedrohlich schmal und sie gab erneut ein Knurren von sich. Doch anders als man von außen annehmen mochte, hatte sie mehr Angst, als sie vor sich selber zugeben wollte. Ihre einzige Beruhigung war, dass wenigstens Stella und Seth nichts passiert war und die Männer sie nach kurzem hin und her hatten gehen lassen. Nicht zu Letzt auch, weil Azraél ihnen versichert hatte, dass die beiden so schwach waren, dass sie keinerlei Bedrohung darstellten.
Das brachte sie allerdings auf weniger schöne Gedanken. Wieso war Azraél auf Seiten ihrer Entführer? Und überhaupt, wie kam es, dass sie nicht schon viel früher gemerkt hatte, dass er eigentlich ein Dämon und damit praktisch ihr schlimmster Feind war? Immerhin wollte allen voran dieser Dämonenfürst Raphael das verlorene Buch haben, das sich allem Anschein nach in ihr befand.
Der Mann verpasste ihr auf die Verweigerung seines Befehls hin einen Schlag gegen den Kopf, der sie hart gegen das Fenster schlagen ließ. Alexandra verzog das Gesicht. Wo sie gerade schon dabei war, fiel ihr auf, dass sie gerade gut die Hilfe ihres uneingeladenen Gastes gebrauchen konnte. Wo steckte Kiyoshi, wenn man ihn mal brauchte? Im Moment hätte sie ihm sogar breitwillig die Kontrolle über ihren Körper überlassen. Sie wollte nicht dorthin, wo die Männer sie hinschleppten. Sie wollte nicht diesem Raphael oder einem seiner Dämonen gegenübertreten müssen. Unweigerlich wanderten ihre Gedanken erneut zu Azraél und sie fragte sich, warum die Erkenntnis, dass er ihr Feind war, sie so sehr beschäftigte. Schließlich konnte sie ihn nicht leiden und eine große Hilfe war er auch nie gewesen. Er war ihr mit seinen dummen Sprüchen immerzu nur auf den Geist gegangen.
Die Verwirrung über ihre eigenen Gefühle ärgerte sie und brachte sie dazu wütend auf dem Knebel rumzukauen. Durchbeißen können würde sie ihn wahrscheinlich nicht, aber wenigstens konnte sie so versuchen sich abzuregen. Denn im Augenblick hätte sie nichts lieber getan als diesem Verräter eine satte Ohrfeige zu verpassen. Dieser Gedanke war äußerst verlockend, aber bevor sie dazu vielleicht mal eine Gelegenheit bekam, musste sie sich unbedingt etwas einfallen lassen. Irgendwie musste sie versuchen zu verschwinden, bevor die Kerle versuchten an dieses verdammte Buch zu kommen. Denn da der Besitzer anscheinend sterben musste, vermutete sie nicht, dass die Männer sehr zimperlich mit ihr umgehen würden.
So kam es, dass die Kolonne von fünf schwarzen PKWs einige Zeit später auf ein großes Gelände mit einigen Lagerhallen und Bürogebäuden fuhr. Vor einem der größeren Bauten hielten sie und Alexandra wurde von zwei Männern grob aus dem Auto gezerrt. Da anscheinend keiner Lust hatte sie zu tragen, wurden ihr immerhin die Fußfesseln wieder abgenommen.
Allerdings stellte sie auf dem Weg in die höheren Stockwerke des bestimmt fünfzehn Stock hohen Gebäudes fest, dass dieses erstens viel größer war als es von außen schien, und zweitens, dass der Grundriss sich in jedem Stockwerk zu verändern schien. Besser gesagt sah keine einzige Etage so aus wie die Andere. Teilweise wechselten sich sogar europäische, amerikanische und asiatische Einrichtungsstile ab und Alexandra gab es nach Kurzem auf zu versuchen, sich den Weg einzuprägen. Es gab zwar auch Fahrstühle, doch diese fuhren wenn überhaupt immer nur drei Stockwerke hoch und runter und dann musste man schon den Nächsten Lift suchen. Einen Notausgang konnte sie auch nirgendwo entdecken. Mit einer Flucht aus diesem Gebäude sah es ziemlich schlecht aus. Hier konnte man sich eigentlich nur verlaufen, wenn man den Weg nicht kannte, so wie Alexandra. Und wenn sie richtig gezählt hatte, hatte man sie auch noch ausgerechnet in das zweitoberste Stockwerk gebracht.
Dieses Hochhaus schien bald sicherer zu sein als ein Gefängnis, wenn man es nicht gerade schaffte sich wie Hänsel und Gretel eine Spur aus Brotkrümeln und Steinen zu legen, an der man sich orientieren konnte. Alexandra wollte gerne mal wissen, wie die Leute, die hier arbeiteten, sich orientierten. Wahrscheinlich merkte man sich den Weg irgendwann von selbst, aber dafür bedurfte es Zeit und ob Alexandra so viel davon hatte, war fraglich. Es war sogar mehr als unwahrscheinlich.
„So, setz dich da hin.“ Einer der Männer drückte Alexandra auf einen einfachen Holzstuhl, das einzige Möbelstück in diesem sonst leeren Raum. Ihre Hände wurden nun hinter der Lehne erneut verschnürt und ihre Beine wurden je an eines der vorderen Stuhlbeine gebunden. So war garantiert, dass sie sich nicht befreien konnte, sehr schlau gedacht, wie sie leider zugeben musste.
„Bis entschieden ist, wann das verlorene Buch aus dir herausgeholt wird, wirst du schön hier bleiben“, sagte der Mann ohne großes Mitgefühl, „Meister Azraél hat sich bereits mit Fürst Raphael in Verbindung gesetzt, also wirst du sicher bald erfahren, wann du sterben wirst.“
Wie freundlich dachte Alexandra nur und verdrehte die Augen.
„Du solltest dich geehrt fühlen, nicht vielen Menschen schenkt Fürst Raphael so viel Aufmerksamkeit“, bemerkte der Kerl und verließ das Zimmer. Es war deutlich zu hören, wie der Schlüssel im Schloss zweimal umgedreht und dann herausgezogen wurde.
Du würdest ganz anders denken, wenn es um dein Leben gehen würde gab Alexandra ihre Meinung wenigstens in Gedanken kund, da es noch keiner für nötig befunden hatte ihr diesen widerlich schmeckenden Knebel abzunehmen. Dann sah sie sich um und begann fieberhaft zu überlegen, wie sie hier am schnellsten raus kam. Zuerst mal musste sie aber die Stricke um ihre Handgelenke und Beine loswerden, vorher hatte alles andere sowieso keinen Sinn. Also, gab es hier irgendetwas, mit dem man das bewerkstelligen konnte?
Der Raum erinnerte sie fast an eine Holzfällerhütte. Grobe Bretter auf dem Boden und an den Wänden, so wie es aussah einfach mit Hammer und Nagel an den Rohbau geschlagen. Das musste normalerweise wohl ein Lager- oder Abstellraum sein, der wegen ihrer Gefangennahme kurzfristig zum Gefängnis umfunktioniert worden war. Vielleicht kam ihr das aber zugute. Die Bretter sahen zum Teil recht morsch aus. Dann entdeckte sie an der Wand einige hölzerne Bretter, die nicht nur etwas abstanden, sondern auch noch zum Teil abgesplittert zu sein schienen. Also ideal für Alexandras vorhaben. An den rauen, teilweise schon fast spitz aussehenden Enden der Bretter konnte sie mit etwas Glück die Fesseln an ihren Händen so weit durchscheuern, dass sie das Seil zerreißen konnte. Dann war es einfach ihre Fußfesseln zu lösen und anschließend musste sie dann nur noch einen Weg finden aus diesem Zimmer zu verschwinden.
Allerdings kam ihr kaum zwei Sekunden später die wenig erfreuliche Feststellung in den Sinn, dass sie ja auch irgendwie erstmal zu den losen Brettern an der Wand hin musste. Das waren von der Mitte des Raumes aus, wo sie sich befand, gute fünf Meter. Normalerweise also kein Problem, aber wie sollte sie so an den Stuhl gefesselt dorthin gelangen. Sie stöhnte herzhaft, was sie zum Glück auch mit dem Knebel in der Schnauze tun konnte. Ihr blieb nur eine Wahl, und die war äußerst langwierig und würde zu einer wahren Geduldsprobe werden, davon abgesehen, dass ihr Sitzfleisch ihr diese Aktion wahrscheinlich noch lange nachtragen würde.
So begann sie damit sich immer wieder so gut es eben möglich war vom Stuhl abzustoßen, um das Teil dann unausweichlich hinter sich herzuziehen und vielleicht einen Zentimeter weiter links wieder zu landen. Da ihre Füße auch so an die Stuhlbeine gefesselt waren, dass sie kaum den Boden berühren konnte, geschweige denn sich irgendwie mit dem Stuhl weiterschieben konnte, blieben ihr nur diese kleinen Hopser, bei denen sie sich mit Glück mal einen Zentimeter von der Stelle bewegte. Das würde ein langer Nachmittag werden und sie hoffte nicht, dass dieser Raphael sie schon am selben Abend umbringen lassen wollte.
Zwischenzeitlich kribbelte ihre Haut an der Stelle, an der sie dieses verfluchte Armband trug, auch noch und sie konnte sich natürlich nicht kratzen. Das machte sie noch wütender und sie hätte nur zu gerne kräftig Rumpelstilzchen gespielt, wenn sie nicht an diesen bescheuerten Stuhl gefesselt wäre. Aber auch wenn es für sie fast so aussah als hätte sie sich nicht einen Millimeter von er Stelle gerührt, kam sie ganz langsam immer näher zu ihrem Ziel.
Als ihr Hintern kurz davor war ihr die Freundschaft zu kündigen, fehlten nur noch knapp eineinhalb Meter zu besagter Stelle an der Wand, wo einige abgesplitterte Bretter hoffentlich dafür sorgten, dass sie sich noch rechtzeitig wieder befreien konnte.
Plötzlich jedoch hörte sie, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt und zweimal herumgedreht wurde. Alexandra blickte erschrocken zur Tür. Mit einem leisen Quietschen schwang diese auf und etwas irritiert bemerkte sie, dass jemand anderes als einer der uniformierten Männer dort stand.
„Dich scheint man ja wirklich sauber verschnürt zu haben“, stellte Azraél fest und hob eine Augenbraue, „Und sollte der Stuhl nicht eigentlich ein ganzes Stück weiter in der Mitte stehen?“
Alexandra verzog das Gesicht und hätte am liebsten etwas erwidert, doch der Knebel hinderte sie an einem gehörigen Schwall Schimpfwörter und Flüche, der ihr auf der Zunge lag. Stattdessen nahm sie ihn direkt ins Visier – es war wirklich zu schade, dass man niemanden durch bloße Blicke erdolchen konnte – als er den Raum betrat und auf sie zukam.
„Oje, dieser Blick sagt alles“, murmelte er, als er direkt vor Alexandra stehen blieb und sie nachdenklich ansah. So wie es aussah, hatte er hier auch andere Klamotten bekommen. Nun trug er ein schwarzes Oberhemd, eine blütenweiße Hose und dunkle Lederschuhe, wodurch er insgesamt viel erwachsener aussah. Mehr wie Anfang zwanzig als siebzehn. Seine Augen hatten allerdings noch diese beängstigende, blutrote Farbe und seine ganze Haltung schien sich verändert zu haben. Er wirkte viel erhabener, doch durch seine dunkle, dämonische Aura auch viel bedrohlicher, obwohl es fast den Anschein hatte, dass er seine Macht noch irgendwie vor ihr verbarg.
Alexandra knurrte leise, da sie zurzeit kaum ein anderes Geräusch zustande brachte, das in der Lage war auszudrücken, was sie von seinem Erscheinen hier hielt. Gleichzeitig überlegte sie aber fieberhaft, was sie tun sollte. Mit ziemlicher Sicherheit war er hier, um sie abzuholen und dann dorthin zu bringen, wo man sie umlegen wollte, um an dieses dreimal verfluchte Buch zu kommen. Und wo zum Teufel nochmal steckte bloß Kiyoshi, wenn sie ihn brauchte?!
„Das sieht dir ähnlich“, sagte Azraél und lächelte leicht, „Mit deinem Knurren machst du den besten Wachhunden Konkurrenz.“
War der Typ hier, um ein Pläuschchen zu halten? Sie verdrehte entnervt die Augen und fragte sich nebenbei, ob er es wohl genoss sie so hilflos zu sehen. Für solch kranke Kerle war dieser Anblick normalerweise doch so ungefähr das Schönste, was sie sich vorstellen konnten. Alexandra hätte ehrlich nicht gedacht, dass Azraél auch zu dieser Sorte gehörte. Er war ihr zwar immer auf die Nerven gegangen, aber er hatte auch etwas Würdevolles an sich gehabt, das so gar nicht nach Verrückter mit durchgedrehtem Verstand ausgesehen hatte.
„Manchmal würde ich zu gerne wissen, was in dir vorgeht“, bemerkte Azraél auf einmal und seufzte, „Aber ich glaube, wir sehen erstmal zu, dass wir dich hier ungesehen wieder raus schaffen, bevor wir weiter plaudern.“
Alexandra konnte nicht verhindern, dass man ihr ihre Verwirrung deutlich ansah. Entweder sie hatte etwas mit den Ohren oder Dämonen waren verdammt unberechenbar. Doch auch wenn sie es kaum glauben konnte, trat Azraél im nächsten Moment hinter sie und sie bemerkte, wie er erst ihre Fußfesseln löste und anschließend ihre Hände losband. Zum Schluss machte er noch den Knebel ab und Alexandra saß frei auf dem Stuhl.
„Besser wir beeilen uns“, sagte er dann und ging wieder an dem Stuhl vorbei, „Bald ist die Wachablösung und...“
Alexandra hatte nicht vergessen, was ihr im Auto durch den Kopf gegangen war. Und sie war jetzt immer noch so wütend, dass sie problemlos ein ganzes Haus mit bloßen Händen hätte abreißen können. Jedoch bereitete es ihr viel mehr Vergnügen ihrem Ärger Luft zu machen, indem sie Azraél so kräftig eine scheuerte, dass er durch den halben Raum flog und anschließend hart auf dem Boden aufschlug.
„Autsch...“ Er stützte sich auf einem Ellenbogen ab, während er mit seiner anderen Hand vorsichtig seine Wange abtastete. So wie er dort auf dem Boden lag, sollte man nicht meinen, dass er eigentlich sehr viel mächtiger sein dürfte als Alexandra.
Diese schob gerade demonstrativ die Ärmel ihrer orange-weiß gestreiften Bluse hoch und richtete kurz ihre dunkelbraune Jeans, bevor sie wieder auf ihn zukam. Diesem Verräter würde sie noch zeigen, was sie von seinem Verhalten hielt. Der sollte sich warm anziehen, denn ihre Laune konnte kaum noch tiefer sinken.
Doch als sie zu einer erneuten Ohrfeige ansetzte, hielt er plötzlich ihre Hand fest und sah ihr in die Augen. „Du kannst mich so viel schlagen wie du willst, aber bitte vertag das auf später, bis wir hier weg sind“, sagte Azraél mit einem matten Lächeln auf den Lippen.
Sie sah ihn nur leicht verdutzt an. Dafür dass er noch nicht mal versucht hatte ihrem ersten Schlag zu entgehen, hatte er beim Zweiten erstaunlich schnell reagiert. Dann stand er plötzlich mit erstaunlicher Leichtigkeit wieder auf den Füßen und zog sie mit sich aus dem Zimmer. Kurz verriegelte er noch wieder die Tür, wahrscheinlich damit wenigstens nicht sofort bemerkt wurde, dass sie nicht mehr da war, danach hastete er weiter und zog Alexandra einfach hinter sich her. Diese versuchte ihr Handgelenk aus seinem Griff zu befreien, doch seine Hand schien viel eher ein Schraubstock zu sein, auch wenn er ihr nicht wehtat.
„Was soll das?!“, fragte sie schließlich aufgebracht, als ihre wortlosen Befreiungsversuche sich nicht auszahlten, „Was hast du vor?!“
„Schhhh, wenn wir draußen sind, antworte ich von mir aus all deinen Fragen, aber erstmal müssen wir ungesehen so weit kommen“, erwiderte Azraél nur und sah sich immer wieder um, während er sie zielstrebig durch die Flure zerrte und dabei mit erstaunlicher Genauigkeit von Treppe zu Treppe gelangte. Gut drei Stockwerke weiter unten waren jedoch mehrere Leute zu hören und er drängte sie schnell in eine Ecke, damit sie nicht gesehen wurden. Dort fand Alexandra aber endlich Gelegenheit für ihren, wie sie fand, durchaus berechtigten Einwand und einiges Weitere.
Sie kniff ihn kräftig in die Hand, sodass sein Griff kurz locker ließ und sie ihr Handgelenk endlich befreien konnte, um ihn dann sofort finster anzusehen.
„Was auch immer du planst, ein weiteres Mal lass ich mich von dir nicht aufs Kreuz legen, du kleiner Wurm!“, schnauzte sie wütend und knackte mit den Fingerknöcheln, „Mit dir hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen...!“
Eigentlich hatte er um die Ecke gelugt und nach den gerade den Flur entlang kommenden Männern für die Wachablösung geschaut, doch die laute, wütende Drohung brachte Azraél dazu sich blitzschnell umzudrehen und mit einem Satz vor Alexandra zu stehen. Er drückte sie an die Wand und presste ihr eine Hand auf den Mund, während er hastig lauschte, ob die Wachen etwas gehört hatten. Da das nicht der Fall zu sein schien, sah er nun wieder Alexandra ernst an, die ihn ihrem Blick nach zu urteilen am liebsten erdolchen wollte.
„Hör zu, du widerspenstiges Etwas“, sagte er leise, aber mit Nachdruck, „Wie du vielleicht schon gemerkt hast, ist dieses Haus hier ein einziges Labyrinth und ich bin der Einzige, dieses Gebäude wie seine Westentasche kennt und weiß, wo wir mit Glück ungesehen rauskommen. Also hör endlich auf hier so einen Aufstand zu veranstalten und vertrau mir nur dieses eine Mal!“
Alexandra wusste sehr wohl, dass er Recht hatte. Nur konnte sie es nicht ausstehen, wenn man ihr eine Hand auf den Mund presste. Also biss sie ihn kurzerhand einfach kräftig, woraufhin Azraél einen etwas überraschten Laut von sich gab.
„Sie hat mich gebissen“, stellte er mit einem verblüfften Blick auf seine Hand fest, wo man sogar noch die Abdrücke von ihren Zähnen sehen konnte, „Und überhaupt, seit wann nennst du mich bitteschön einen Wurm?“ Er klang schon beinahe empört.
„Tse, das kann dir doch egal sein“, erwiderte Alexandra und verzog ein klein wenig das Gesicht. Schmecken tat seine Hand nicht gerade.
Azraél stöhnte resigniert und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht dein Feind.“
Als sie ihn leicht überrascht ansah, packte er wieder ihr Handgelenk und zog sie weiter. Am liebsten wollte Alexandra erneut protestieren, doch mit seinen Worten vorhin hatte er leider recht. Ohne ihn kam sie hier mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht heil raus, auch wenn sie keine Ahnung hatte, warum er ihr half. Oder war er wirklich nicht ihr Feind? Ihr fiel auf, dass er ihre Hand so fest hielt, als ob er befürchten würde, dass sie erneut versuchen könnte sich loszureißen. Es sah wirklich so aus als versuchte er ihr zu helfen. Und das obwohl sie ihn geschlagen, gebissen, beleidigt und bedroht hatte. Zudem wusste er wahrscheinlich, dass sie immer noch wütend war und auf sein Angebot, dass sie ihn draußen so viel schlagen konnte wie sie wollte, mit Sicherheit zurückkommen würde.
Sie überlegte kurz, doch dann gab sie sich einen Ruck. Sie packte sein Handgelenk und erwiderte damit den Griff und holte fast bis auf seine Höhe auf, sodass er sie nicht mehr wie einen Sack hinter sich her ziehen musste.
Azraél blickte überrascht über seine Schulter.
„Nur bis wir hier draußen sind“, sagte Alexandra trotzig, „Und du wirst dich gefälligst erklären.“
Einen Moment lang sah er sie einfach nur verblüfft an, dann nickte er lächelnd. Dabei schien es ihr fast so, als würden seine Augen trotz ihrer Farbe eine gewisse Wärme ausstrahlen, und auch sein Lächeln schien auf seltsame Weise charmant und selbstgefällig zugleich zu sein. Irgendwie stand ihm dieser Gesichtsausdruck aber. Als Alexandra sich bei diesem Gedanken ertappte, verpasste sie sich innerlich eine Ohrfeige. Das waren nun die völlig verkehrten Einfälle, scheinbar war ihr Hirn ein wenig angeschlagen.
Azraél hatte irgendwie eine verlockende Idee. Auch wenn er ihren Zorn auf sich damit wahrscheinlich noch verschlimmerte, konnte er einfach nicht widerstehen.
Im nächsten Augenblick zog er sie auf einmal zu sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Alexandra war so vollkommen verdattert, dass sie glatt sprachlos war. Dann drückte sie sich schleunigst von ihm weg und starrte ihn entgeistert an, wobei sie nicht ganz verhindern konnte, dass ihr ein wenig Blut in die Wangen schoss. Auf Azraéls Lippen lag ein schelmisches Lächeln und ein paar Sekunden lang sahen die beiden sich so in die Augen.
Dann packte er wieder ihr Handgelenk und zog sie weiter. Alexandra lag so einiges auf der Zunge, wobei das meiste davon Verwünschungen und unschöne Beschimpfungen waren, aber sie verkniff es sich ihrem Ärger Luft zu machen. Dämonen waren wirklich verflixt unberechenbar. Was auch immer er mit dieser Aktion erreichen wollte, es brachte ihm in jedem Fall eine gehörige Tracht Prügel ein, wenn sie hier draußen waren. Bis dahin folgte sie ihm jedoch widerwillig durch die Flure und staunte ein ganz klein wenig darüber, wie zielsicher er von einer Treppe zur nächsten fand und sie so bald schon wieder im zweiten Stock waren.
„Schhhh“, machte Azraél leise und sah sie warnend an, „Ab hier haben sie ziemlich viele Wachen aufgestellt, also sei leise.“
Sie war drauf und dran etwas zu erwidern.
„Bitte“, fügte er jedoch hinzu, woraufhin sie den Kommentar herunterschluckte, „Und bleib direkt hinter mir, sollten wir doch entdeckt werden, müssen sie dich ja nicht unbedingt sehen.“
„Das ist das erste und das letzte Mal, dass ich auf dich höre“, murmelte Alexandra genervt, leistete aber Folge und blieb direkt hinter ihm.
Tatsächlich waren in den unteren Stockwerken weit mehr Leute zu sehen und teilweise konnten sie sich nur sehr knapp aus den Blickfeldern der Männer retten. Zu gerne hätte Alexandra gefragt, was das hier eigentlich war. Vielleicht das Hauptquartier von Raphaels Gefolgsleuten? Und wie es eigentlich kam, dass Menschen einem Dämonenfürst dienten, doch leider musste sie ja still bleiben.
Schließlich aber hatten sie es bis ins Erdgeschoss geschafft. Gott sei Dank schienen sich hier gerade nicht sehr viele Leute aufzuhalten, Glück musste der Mensch haben. Dann hatten sie endlich die Tür nach draußen erreicht, durch die man Alexandra vor knapp zwei Stunden erst hineingeschleppt hatte. Doch just in dem Moment, in dem Azraél die Klinke heruntergedrückt hatte und Alexandra nach draußen schieben wollte, ging plötzlich ein ohrenbetäubender Alarm los. Es war als würde das ganze Haus unter der Sirene erbeben.
„Mist!“, stieß Azraél aus, der es sofort eilig hatte, „Sie müssen gemerkt haben, dass du nicht mehr oben im Zimmer bist. Beeilung!“
„Das musst du mir nicht sagen“, erwiderte Alexandra nur unwirsch und rannte los. Gut dass sie eine hervorragende Sprinterin war, denn bis zum Tor war es ganz schön weit und ein langsameres Tempo erhöhte die Gefahr geschnappt zu werden.
Allerdings hörte sie nur Sekunden später das Aufheulen mehrerer Motoren und fünf khakifarbene Jeeps jagten aus der Garage gleich neben dem Gebäude. Auf jedem der Fahrzeuge befanden sich mindestens drei Männer in den scheinbar üblichen Anzügen und es war unschwer zu erkennen, dass sie alle bewaffnet waren.
„Lasst sie nicht entkommen!“, schallte auch prompt der Ruf eines Mannes durch die Luft, „Tötet sie von mir aus auch, aber lasst das Mädchen nicht entkommen!“
„Super“, stöhnte Alexandra nur und blickte zu Azraél, „Kannst du denen nicht einfach den Befehl geben wieder abzurücken?“
„Würde ich ja gerne.“ Azraél klang auch nicht sehr begeistert. „Nur leider hat der liebe Fürst gerade gemerkt, warum ich den Auftrag dich zu fangen nur unter der Bedingung ausgeführt habe, dass ich danach nicht mehr vertraglich an ihn gebunden bin.“
Alexandra runzelte die Stirn.
Azraél lächelte nur verschmitzt. „Wenn wir die da hinten abgehängt haben, erkläre ich es dir vielleicht.“
„Das wirst du nicht nur vielleicht sondern mit Sicherheit“, konterte sie, „Da es ganz den Anschein hat, dass du mir auch weiterhin auf die Nerven gehen willst, wirst du gefälligst die ganze Wahrheit ausspucken.“
„Wie wäre es mit einem Bitte, Eure Hoheit?“
„Das hättest du wohl gerne“, erwiderte Alexandra bissig.
Bevor Azraél etwas erwidern konnte, waren plötzlich Schüsse zu hören. Einige davon gingen nur knapp an Alexandra vorbei und diese hatte bereits gemerkt, dass die Jeeps langsam bedrohlich nahe kamen. Außerdem hatten sie inzwischen zwar fast den bestimmt drei Meter hohen Stacheldrahtzaun erreicht, doch dummerweise war das Tor geschlossen und einen anderen Weg nach draußen konnte sie auf die Schnelle nicht entdecken.
„Das ist jetzt ungünstig“, murmelte sie und überlegte gehetzt, wie sie hier raus kommen sollten.
„Ich darf doch kurz.“
Noch bevor Alexandra Einwand erheben konnte, nahm Azraél sie einfach mit einer raschen Bewegung auf den Arm. Vor lauter Überraschung entrang sich ihrer Kehle ein leiser Laut und sie starrte ihn verdattert an, denn trotz dessen er sie jetzt auf dem Arm hatte, rannte er immer noch mit der selben Geschwindigkeit auf das Tor zu.
„Du solltest dich lieber festhalten“, bemerkte er, bevor er einen Satz zur Seite machte, als plötzlich das Rattern eines Maschinengewehrs zu hören war.
Alexandra knurrte wütend, denn diese Behandlungsweise mochte sie absolut nicht, nur leider hatte sie gerade keine andere Wahl. Nur äußerst widerwillig legte sie einen Arm um seinen Nacken und blickte dabei über seine Schulter. Wenn kein Wunder geschah, hatten die Jeeps sie gleich eingeholt, wie sie mit Schrecken feststellte.
Im nächsten Moment jedoch sah sie auf einmal, wie der Boden sich immer weiter entfernte. Und kaum blickte sie wieder nach vorne, stellte sie verblüfft fest, dass Azraél einfach mit einem Satz über den Zaun sprang. Als wären das nicht drei sondern nur ein halber Meter.
„Ein paar Vorteile muss es ja haben ein Dämon zu sein“, kommentierte Azraél ihren Gesichtsausdruck und schmunzelte.
Sie sah ihn daraufhin aus zusammengekniffenen Augen an und drohte ihm stumm mit ihrer freien Faust. Als Azraél dann auch noch anfing leise zu kichern, drückte sie ihm ihre Faust demonstrativ gegen das Kinn.
„Das hat noch ein schmerzhaftes Nachspiel“, versprach sie.
„Oje...“ Er lächelte jedoch.
Nach dem ziemlich hohen und weiten Sprung landete Azraél wieder auf dem Asphalt und ließ Alexandra runter. Er schien gerade etwas sagen zu wollen und Alexandra wollte da auch gerne mal einiges klarstellen, doch in dem Moment waren plötzlich erneut Schüsse zu hören und Azraél drückte sie runter auf den Boden.
„Die müssen wir irgendwie loswerden“, stellte er nüchtern fest, „Und danach sollten wir besser nach Stella und Seth suchen. Die beiden alleine in einer fremden Stadt.. das bereitet mir wirklich Sorgen.“
„Wessen Schuld ist das denn bitteschön?“, erwiderte Alexandra nur kalt. Bloß weil er ihr geholfen hatte, würde sie ihm bestimmt nicht schneller verzeihen.
Azraél sah sie an und einen Augenblick lang hatte sie plötzlich das Gefühl von eisiger Kälte gepackt zu sein. Fast wie in einem Gefrierfach. Das Schlimme war jedoch nicht die Kälte, sondern die Trauer und der Selbsthass, die sie dabei empfand.
„Glaubst du etwa, mir ist das leicht gefallen?“, fragte er auf einmal tonlos.
Einen Moment lang war Alexandra wirklich erschrocken. Waren das, was sie da eben gespürt hatte, seine Gefühle? Es war nur für einen kurzen Moment gewesen, aber diese Empfindungen hätten sie an den Rand der Verzweiflung gebracht, wenn sie sie länger hätte ertragen müssen.
„Ich habe das getan, um endlich wirklich euer Freund werden zu können, ohne ständig befürchten zu müssen, dass Raphael etwas Unmögliches von mir verlangt. Tut mir leid, dass ich dich dafür in Gefahr gebracht habe“, sagte Azraél und in seiner Stimme war ein Bruchteil des Selbsthasses zu hören, der ihn praktisch von innen heraus aufzufressen schien.
Er schien diese Gefühle sonst zu unterdrücken, genau wie diese dämonische Aura, doch sie hatte es anscheinend geschafft ihn mit ihren unfreundlichen Randbemerkungen an das zu erinnern, was er sich ohnehin schon nicht verzeihen konnte. Alexandra hatte das Gefühl, dass sie eben tiefer in seine Seele hineingeblickt hatte, als er es wahrscheinlich eigentlich zulassen wollte. Woher sie das alles mit Gewissheit wusste, konnte sie zwar nicht sagen, aber sie zweifelte die Richtigkeit ihrer Eindrücke nicht an. Azraél war wie ein einsames, allein gelassenes Katzenjunges, das sich nach einem warmen Zuhause und einer Hand sehnte, die für es sorgte. Eines, das jegliche Hoffnung auf Rettung aufgegeben hatte.
Unbewusst streckte Alexandra eine Hand nach diesem Jungen aus, wollte für ihn da sein und seine Verzweiflung lindern. Sie strich ihm über das seidige, pechschwarze Haar, das im Sonnenlicht immer so frech glänzte. Aus irgendeinem Grund wollte sie sein Leiden beenden und ihm helfen wieder auf die Beine zu kommen. Woher dieser Gedanke kam, wusste sie nicht, und es erschien ihr irgendwie seltsam, aber auf eine komische Art und Weise mochte sie es mit ihren Fingern durch sein seidiges, leicht zerzaustes Haar zu fahren. Es fühlte sich fast vertraut an.
„Alex...“ Azraél wirkte reichlich überrascht angesichts dieser für sie absolut untypischen Geste. Auf seinen Wangen war sogar eine ganz leichte Röte zu erahnen.
Alexandra merkte in dem Moment auch, was sie da gerade eigentlich tat. Sie zog schleunigst ihre Hand zurück und kam auf die Füße, gerade da ihr auffiel, dass die Jeeps gerade durch das nun geöffnete Tor ein Stück weiter die Straße hoch bogen und natürlich genau auf sie zuhielten.
„Wir teilen uns besser auf“, sagte sie nur und sprintete schon los.
Natürlich fuhren vier der fünf Jeeps hinter ihr her, wieso sollte es auch anders sein? Jetzt rannte sie schon seit mehreren Minuten durch die Straßen von London und schlug dabei möglichst Wege ein, auf denen die breiten Geländefahrzeuge ihr nicht folgen konnten, doch durch ihre Anzahl war es viel zu leicht Alexandra den Weg abzuschneiden. So langsam wusste sie auch nicht mehr, wohin sie laufen sollte. Es schien schier unmöglich zu sein die Leute von Raphael abzuhängen, gerade da auch ihre Kondition bei diesem hohen Tempo ein Limit hatte.
Schließlich blieb sie in einer ziemlich schmalen Gasse stehen. Ihr Atem ging schneller als jemals zuvor und sie bekam kaum noch Luft. Gute Sprinterin hin oder her, gegen vier Autos kam selbst der schnellste Läufer nicht an. Im Moment hätte sie auch zu gerne ihren Mantel mit dem Schirm gehabt, doch die Sachen hatten ihr die Leute bei ihrer kurzzeitigen Gefangennahme abgenommen. Sie hatte nichts, mit dem sie sich verteidigen konnte, sollten die Leute auf die Idee kommen zu Fuß in diese Gasse zu laufen.
„Verdammt“, keuchte sie und überlegte, was sie tun sollte. Die Chancen standen leider nicht gerade sehr gut für sie. Am besten sie suchte sich ein Versteck, in dem sie für ein paar Stunden ausharren konnte. Zumindest bis es dunkel und damit einfacher war sich ungesehen durch die Straßen zu bewegen.
Dann hörte sie plötzlich ein leises Geräusch. Bevor sie jedoch reagieren konnte, war bereits ein Schuss zu hören und ein stechender Schmerz entbrannte in ihrem linken Oberarm. Alexandra schrie auf, biss aber sofort wieder die Zähne zusammen und rannte nach rechts. Sie spürte wie etwas Warmes ihren Arm herunter lief und konnte sich an drei Fingern ausrechnen, was das war. Doch ehe sie sich darum kümmern konnte, musste sie hier weg. Und zwar so schnell wie möglich.
Zwei Gassen weiter, um die zwanzig Meter hinter sich hörte sie die Schritte von mindestens vier Leuten, entdeckte sie eine Feuerleiter. Ohne zu zögern sprang sie die Stufen hinauf und hoffte inständig, dass die Männer sie hier oben nicht entdecken würden.
Aber noch ehe sie ganz oben war, hörte sie schon wieder Schüsse und zog schnell den Kopf ein. Natürlich war ihr das Pech gerade dann hold, wenn sie es absolut nicht gebrauchen konnte. Während zwei Männer unten an der Treppe stehen blieben und versuchten sie zu treffen, kamen die anderen beiden rasch die Stufen herauf. Einen Moment lang überlegte Alexandra, ob sie aufgeben sollte.
Doch kaum kam der Gedanke auf, legte ihr Stolz sofort Protest ein und erinnerte sie daran, dass sie es ganz und gar nicht leiden konnte zu verlieren oder sich geschlagen zu geben. Das wäre ja noch schöner. Sie war nicht all die Jahre immer wieder umgezogen, um jetzt wegen diesem bekloppten verlorenen Buch zu sterben.
Als die Männer unten gerade ihre Magazine nachladen mussten, nutzte sie die Chance und hechtete weiter nach oben. Gerade noch rechtzeitig gelangte sie auf das Dach, bevor wieder eine Salve von Schüssen zu hören war, die zum Glück aber daneben ging. Alexandra sank oben allerdings auf die Knie und hielt sich den höllisch schmerzenden Arm. Zu allem Überfluss war ihr wegen dem ziemlich starken Blutverlust und der Rennerei auch noch schwindlig und außerdem konnte sie langsam wirklich nicht mehr. Sie war vollkommen erschöpft und fast am Ende ihrer Kräfte.
Doch als sie die näher kommenden Schritte und die Rufe ihrer Verfolger hörte, raffte sie sich noch einmal auf. Kurz schwankte sie, dann lief sie so schnell es möglich war auf den Rand des Dachs zu. Wenn sie sich nicht täuschte, war das Haus nebenan nur ein Stockwerk niedriger als dieses und damit sollte der Sprung nicht allzu gefährlich werden. Zumindest solange ihr Kreislauf sich nicht völlig verabschiedete.
„Bleib stehen!“, rief plötzlich einer der Männer, die das Dach nun erreicht hatten.
Alexandra dachte jedoch noch nicht mal daran. Es waren immerhin nur noch wenige Schritte, auch wenn ihr Kopf ihr vorgaukelte, dass die Welt um einige Grad schief stand. Verfluchter Gleichgewichtssinn, reiß dich gefälligst zusammen!
Gerade als sie mit Schrecken feststellte, dass sie sich getäuscht hatte – das Gebäude vor ihr war mindestens drei Stockwerke kleiner als dieses – waren weitere Schüsse zu hören. Ihre Seite schien gestreift worden zu sein und in ihrem rechten Unterschenkel kam ebenfalls ein heftiger Schmerz auf, sodass ihr Bein nachgab und sie nach vorne kippte. Mit diesem abrupten Sturz sagte ihr Kreislauf auch endgültig Adieu und bevor sie das Bewusstsein verlor, glaubte sie noch eine Bewegung auf dem Dach unter sich wahrzunehmen. Dann wurde es schwarz um sie herum.
Ein dumpfer Schmerz klang in ihrem Oberarm und ihrer Wade. Ihre Seite fühlte sich auch nicht allzu prickelnd an. Allerdings bedeutete das, dass sie noch nicht tot war. Ein recht beruhigender Gedanke, besonders als Alexandra in den Sinn kam, was zu Letzt passiert war. Blieb nur die Frage, was geschehen war, nachdem sie ohnmächtig geworden war. Und wo war sie eigentlich? Wenn sie sich nicht täuschte, lag sie gerade in einem Bett. Aber das schien ihr irgendwie zu absurd. Raphaels Leute würden sie doch gewiss nicht in einem Bett schlafen lassen, wenn sie doch das Buch wollten und jetzt die beste Gelegenheit hatten um an es heranzukommen.
In dem Moment zwickte es arg unangenehm in ihrem linken Arm und sie stöhnte leise. Wer machte sich da ohne ihre Erlaubnis an der Schusswunde zu schaffen?
„Tut mir leid, der Schmerz müsste gleich nachlassen“, sagte eine ihr unbekannte, männliche Stimme.
So langsam reichte es Alexandra und auch wenn sie gerne noch etwas gedöst hätte, wollte sie doch allmählich mal wissen, wo sie gelandet war. Kurz verschwamm alles vor ihren Augen, doch dann klärte sich nach und nach das Bild von einem schlicht eingerichteten Schlafzimmer mit weißen Wänden und dunklen Möbeln. Es war ein recht großer Raum mit einem wuchtigen Schrank, einer Vitrine, zwei Fenstern mit Gardinen davor und dem Bett, auf dem sie lag. Alles nicht weiter beunruhigend auf den ersten Blick, doch dann entdeckte sie den jungen Mann, der direkt neben dem Bett auf einem Stuhl saß und noch einen rot verfärbten Verband in der Hand hatte. Auch wenn sie sich nicht sicher sein konnte, dass er ein Feind war, schien es die letzte Situation betrachtet doch viel wahrscheinlicher zu sein, dass er zu Raphaels Leuten gehörte.
Mit einem Ruck schoss sie hoch und landete neben dem Bett. Eigentlich wollte sie erstmal einigen Abstand zwischen sich und den Mann bringen, doch kaum war sie gelandet, schoss ein beachtlicher Schmerz in ihr rechtes Bein und bevor sie überhaupt wusste wie ihr geschah, saß sie schon auf dem Boden. Ihre Wade hatte ganz eindeutig etwas gegen diese rüde Behandlungsweise, ihre Seite protestierte ebenfalls und ihr linker Arm erhob natürlich auch noch Einspruch. Alexandra krümmte sich fast vor Schmerz und einzig ihrer Selbstbeherrschung verdankte sie es, dass sie es schaffte unter dieser Qual nicht aufzuschluchzen. Viel mehr fluchte sie leise.
„Hey, in deinem Zustand solltest du solche Aktionen unterlassen, Miss“, sagte der Mann und machte Anstalten zu ihr herüber zu kommen.
„Bleiben Sie da, wo Sie sind!“, zischte sie jedoch und verzog gleichzeitig aber das Gesicht. Trotzdem sah sie sich diesen Mann lieber genauer an. Er trug einen einfachen Pullover aus grauer Wolle und eine dunkle Jeans. Seine Haare waren hellbraun, fast blond, und seine Augen hatten einen eher ungewöhnlichen, hellgrünen Farbton. Eigentlich wirkte er gar nicht mal so unfreundlich, doch man konnte nie vorsichtig genug sein. Schon gar nicht, wenn man sich in Alexandras Position befand.
Zwar blieb der junge Mann stehen, doch er seufzte und sah sie zweifelnd an. „Du bist viel zu geschwächt um es mit mir aufzunehmen, also hör auf mit diesem Theater und leg dich wieder hin, sonst wirst du nie wieder fit“, sagte er dann in beinahe schon befehlendem Ton und machte wieder einen Schritt auf Alexandra zu.
„Wenn Sie es wagen mich anzufassen, werden Sie ihr blaues Wunder erleben“, drohte diese, auch wenn sie wahrlich nicht in der Lage für solche Sprüche war.
„Meine Güte, Mädchen“, stöhnte er daraufhin, „Ich versuche dir irgendwie zu helfen und du tust so als könnte ich dich jeden Moment so zurichten, wie die Männer, die da draußen rumlaufen.“
Alexandras Augen wurden schmal. „Warum haben Sie mich gerettet?“ Zwar war sie sich nicht hundertprozentig sicher, aber er schien doch nichts mit den Männern zu tun zu haben, die sie verfolgten. Natürlich nur warf das wieder ganz andere Fragen auf, wie immer.
Er hob eine Augenbraue und ging dann plötzlich in die Hocke, sodass er mit ihr auf einer Höhe war. „Können wir uns vielleicht darauf einigen, dass du dich wieder ins Bett legst, ich die anderen zwei Verbände wechsle und danach auf deine Fragen antworte?“
„Von mir aus“, sagte sie nach kurzem Überlegen, „Aber Sie werden mir gefälligst als erstes antworten.“
„Du bist ganz schön stur, weißt du das, Mädchen?“, fragte er leicht resigniert.
„Ich kann es mir nur nicht leisten Fehler in meinen Einschätzungen zu machen“, erwiderte Alexandra und ihr linkes Auge zuckte ganz leicht. Die Schmerzen in ihrem Bein brachten sie bald noch um den Verstand.
„Ich muss eigentlich auch vorsichtig sein, weißt du? Aber was soll ich machen? Du bist mir schließlich direkt in die Arme gefallen, da konnte ich dich ja schlecht einfach dort lassen.“
Sie verzog das Gesicht, nicht zu Letzt auch wegen den immer stärker werdenden Schmerzen in ihrem Bein und ihrer Seite. Was sollte sie jetzt tun?
„Ich werde dir nichts tun, also entspann dich.“
„Ich trau Ihnen nicht, also wie soll ich mich da bitteschön in Ihrer Nähe entspannen?“, fragte Alexandra misstrauisch.
„Hmmm...“ Er schien nachzudenken. „In Ordnung, mein Name ist Ryan. Jetzt bin ich kein Fremder mehr, also würdest du dich jetzt bitte wieder hinlegen?“
„Haben Sie einen Schaden?“, fragte Alexandra nur ungläubig und kurzzeitig entgleisten ihr fast die Gesichtszüge. Was war das denn für ein Typ? Der hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Nur weil Sie mir ihren Namen gesagt haben, sind wir noch lange keine Bekannten. Also würden Sie es bitte unterlassen mir auf den Wecker zu gehen und mir zeigen, wo die Tür ist?“
„Wie schafft es ein derart wortgewandtes Mädchen eigentlich, sich von diesen Leuten so zurichten zu lassen?“, fragte Ryan auf einmal, wobei er aus irgendeinem Grund amüsiert klang.
Alexandras Augen wurden schmal. „Das geht Sie einen feuchten Dreck an.“
„Ho ho, du scheinst ja wirklich nicht gerade die Freundlichkeit in Person zu sein“, seufzte Ryan und kratzte sich am Hinterkopf, „Aber was machen wir jetzt mit dir?“
„Mich einfach gehen lassen und die Sache vergessen ist wohl keine Option?“, fragte Alexandra.
Ryan schob die Gardine kurz beiseite und warf einen Blick nach draußen. „Da ich trotz allem ein Gentleman bin, kann ich das nicht erlauben, da du diesen Männern ansonsten gleich wieder in die Arme laufen würdest.“
„Davor habe ich keine Angst“, erwiderte Alexandra, „Also lassen Sie mich endlich gehen. Oder muss ich Sie auch auf die Liste meiner Feinde setzen?“
„Na soweit wirst du nicht gehen müssen“, stellte Ryan lächelnd fest, „Ich lass dich ja gehen, aber erst wenn die Herren da draußen die Suche aufgegeben haben.“
„Dann werde ich hier nicht vor morgen früh rauskommen“, murmelte Alexandra und sah sich unauffällig um. Vielleicht fand sie eine Möglichkeit von hier zu verschwinden, ohne diesen Ryan gleich zu verletzen. Und ohne sich selber in noch größere Schwierigkeiten zu bringen.
„Bist du dir da so sicher?“, fragte Ryan mit einer hochgezogenen Augenbraue, „Dann scheinst du sie ja zu kennen.“
„Meine Angelegenheiten gehen Sie nichts an“, wiederholte Alexandra und ihre Stimme bekam langsam einen leicht drohenden Unterton. Gleichzeitig versuchte sie verzweifelt die Schmerzen auszublenden, aber das war mittlerweile verdammt schwer geworden.
„Ich hatte auch nicht vor mich einzumischen“, bemerkte Ryan und lächelte freundlich. Dann hielt er ihr die Hand hin. „Ich versuche lediglich einem etwas schüchternen Mädchen zu helfen, auch wenn es das anscheinend nicht will.“
Wer war hier schüchtern? „Dann sollten Sie das auch besser beachten“, kommentierte Alexandra und sah ihn misstrauisch an.
„Du hast schöne Augen“, stellte er jedoch plötzlich fest und schmunzelte, „Nur bis sich deine Wunden wenigstens ein wenig erholt haben, in Ordnung?“
Alexandra knurrte leicht verärgert. Dennoch reichte sie ihm ihre rechte Hand und ließ sich vom Boden auf helfen. Was soll´s? Er schien eigentlich gar kein so schlechter Kerl zu sein und heimlich abhauen konnte sie später immer noch.
Als sie jedoch gerade stand und ihr rechtes Bein entlastete, fiel ihr Blick auf ihrer beider Hände. Ein Armband, das haargenau so aussah wie ihres, zierte sein rechtes Handgelenk. Es war eindeutig Raphaels Armband, das sie zuvor nur nicht gesehen hatte, weil der Ärmel seines Pullovers darüber gewesen war. Sie blickte auf und sah, dass er in dem Moment auch ihr Armband gesehen hatte. Dann kreuzten sich ihre Blicke und einen Moment lang herrschte Schweigen.
„Langsam verstehe ich, warum Raphael so plötzlich wollte, dass ich dorthin komme“, stellte Ryan leicht verblüfft fest.
Alexandras Augen weiteten sich ein Stück, dann wollte sie sofort wieder zurückspringen, doch er hielt ihre Hand fest.
„Loslassen!“, schrie sie erschrocken.
„Hey hey, ich tu dir nichts!“ Ryan versuchte sie festzuhalten, doch Alexandra wand sich, wenn auch unter Schmerzen, nach allen Regeln der Kunst. Sie schaffte es sich loszureißen, aber dabei trat sie versehentlich mit ihrem rechten Fuß auf. Fast bekam Alexandra das Gefühl, dass ihr Bein gebrochen und nicht bloß von einem Schuss getroffen worden war. Mit einem qualvollen Laut sackte sie in sich zusammen und krümmte sich auf dem Boden. Ihr stiegen langsam die Tränen in die Augen und sie verfluchte sich für diesen bescheuerten Versuch.
„Du bist ganz schön anstrengend“, seufzte Ryan und nahm sie plötzlich auf den Arm. Er trug sie nur drei Schritte weit, dann legte er sie wieder auf das Bett und schien sich ihre Wade anzusehen. Alexandra hatte schon gemerkt, dass er ihre Jeans einfach so weit aufgeschnitten hatte, bis er die Stelle sehen konnte. Die schöne Hose!
Das war aber auch so ziemlich das Letzte, was ihr durch den Kopf ging, bevor sie wieder das Bewusstsein verlor.
„Hey! Wach auf, du hast langsam wirklich genug geschlafen. Wenn du bald wieder auf die Beine willst, solltest du auch mal etwas essen.“
Alexandra verzog das Gesicht, bevor sie sich auf die andere Seite drehte. Jedoch tat das ziemlich weh und sie drehte sich lieber auf die andere.
„Willst du etwas Bestimmtes? Sonst mach ich einfach das, worauf ich Appetit habe.“
Sie stöhnte nur entnervt. „Machen Sie doch, was Sie wollen.“
„Du bist ganz schön unfreundlich“, stellte Ryan fest.
Alexandra öffnete die Augen und sah ihn vielsagend an. „Wenn Sie gezwungen werden wegen ein paar Kratzern bei einem Fremden zu bleiben, wären Sie auch nicht sonderlich begeistert“, bemerkte sie trocken.
„Dafür wie du dich vor einigen Stunden aufgeführt hast, bist du jetzt aber erstaunlich ruhig.“
„Ist das eine Frage, ein Kommentar oder eine Feststellung?“
„Schon gut“, seufzte Ryan und schüttelte den Kopf, „Nach deinem Namen brauche ich wohl gar nicht erst zu fragen, also nochmal meine andere Frage: Möchtest du etwas Bestimmtes essen?“
„Wieso helfen Sie mir, obwohl wir beide Spieler sind?“
„Also so kommen wir nicht weiter.“
„Und sind Sie eigentlich ein Perverser?“
Ryan schien beinahe schon empört zu sein. „Was soll denn die Frage?“
Alexandra deutete schlicht auf ihre Seite. „Jemanden, der einem anderen unerlaubt unter die Wäsche guckt, würde ich durchaus als pervers bezeichnen.“
„Also hör mal“, erwiderte er ungläubig, „Ich hab dich vor diesen Typen gerettet, deine Wunden versorgt und du beleidigst mich? Machst du das immer so?“
„Ja.“
Ryans Gesichtszüge entgleisten ein kleines Stück und ähnelten einer schiefen Grimasse. „Du bist echt unglaublich.“
„Von mir aus.“
„Was hältst du von Spagetti Bolognese?“
„Gebratenes Schweinefleisch in Soße mit Salat als Beilage wären mir lieber.“
Ein wenig überrascht sah Ryan das Mädchen in seinem Bett an, das die Augen jedoch geschlossen hatte. Dann lächelte er. „Na wenigstens scheinst du Geschmack zu haben.“
Wenig später aßen sie zusammen in der geräumigen Küche. Ryan hatte Alexandra dabei geholfen vom Schlafzimmer aus durch den kurzen Flur in die Küche zu humpeln, wo es tatsächlich das gewünschte Gericht gab.
„Für einen Mann kochst du erstaunlich gut“, stellte sie leicht erstaunt fest, nachdem sie ein wenig skeptisch die ersten Bissen gegessen hatte.
„Männer können auch kochen“, bemerkte er.
„In seltenen Fällen, vielleicht“, räumte sie ein.
Einen Moment lang überlegte Ryan, dann legte er das Besteck neben seinen Teller und sah Alexandra nachdenklich an. „Du wolltest wissen, weshalb ich dir helfe, obwohl wir beide Spieler sind.“
„Korrekt.“ Alexandra hatte Hunger, schließlich hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr in den Magen bekommen, daher aß sie einfach weiter.
„Ich habe nie nicht viel von diesem Spiel gehalten“, sagte er ernst, „Am Anfang habe ich es für ein Hirngespinst gehalten, auch wenn ich natürlich bald feststellen musste, dass es wirklich existiert. Aber ich halte trotzdem nicht viel davon, egal was dieses komische Buch vielleicht alles zustande bringen kann. Selbst wenn es Wünsche erfüllen kann, ist es nichts, was in Menschenhände gehört. Zu groß wäre die Versuchung einfach durch einen Wunsch an Macht zu kommen.“
„Stimmt.“ Alexandra schluckte einen Bissen herunter. „Wenn das Buch denn für uns Menschen gewesen wäre.“
Ryan hob eine Augenbraue. „Wenn?“
„Raphael will das Buch selber haben“, antwortete Alexandra nüchtern, „Auch wenn er sich einen ziemlich geschmacklosen Weg ausgesucht hat, an es heranzukommen.“
„Das klingt so als wüsstest du mehr als wir anderen.“
„Möglicherweise, aber mehr sag ich nicht.“ Ihr war aufgefallen, dass sie sich verplappert hatte, und das ärgerte sie.
Er musterte sie einen Moment lang kritisch, bevor er weiter aß. „Also noch ein Grund mehr sich aus diesem Spiel rauszuhalten.“
„Das kann man durchaus so sehen.“
„Wohnst du eigentlich hier in der Gegend?“
„Nein.“
„Wo wohnst du dann?“
„Zurzeit nirgendwo wirklich.“
Ryan hob nur fragend die Augenbrauen.
Alexandra sah ihn eine Weile lang argwöhnisch an, ehe sie sich mit ihrer Einschätzung einigermaßen sicher war. Er schien wirklich nicht der Typ zu sein, der nach Raphaels Pfeife tanzte, daher konnte sie ihm wohl wenigstens etwas sagen. „Ich reise mit meinen drei Anhängseln derzeitig quer durch Europa, da.. es da ein paar mehr Leute gibt, die hinter mir her sind.“
„Anhängsel?“ Er runzelte die Stirn. „Du meinst wohl deine Freunde.“
„Ich habe sie erst vor kurzem kennengelernt und auch nicht darum gebeten mir zu folgen“, erwiderte Alexandra nur, auch wenn sie zur Seite sah.
Ryan schmunzelte so als hätte er sie durchschaut, bevor sein Gesichtsausdruck wieder ernst wurde. „Und warum sind einige Leute hinter dir her?“
„Das geht Sie nichts an.“
„Hey, da du bei mir bist, besteht für mich ja auch eine gewisse Gefahr, also habe ich ein Recht darauf den Grund zu erfahren.“
„Es steht Ihnen jederzeit frei mich vor die Tür zu setzen.“
Ryan stöhnte verzweifelt und rang kurzzeitig mit den Händen. „Also wirklich, seit wann seid ihr Mädchen so verdammt launisch und unfreundlich geworden?“
„Was war denn an meiner letzten Feststellung bitteschön unfreundlich?“
Er sah sie lediglich vielsagend an.
Irgendwie fand Alexandra Gefallen daran ihn zu ärgern, er erinnerte sie fast ein wenig an Azraél. Dabei fragte sie sich natürlich, wo der Typ gerade steckte. Und was war eigentlich mit Stella und Seth? Sie bezweifelte, dass die beiden genügend Geld hatten, um sich ein Hotelzimmer zu mieten und es war bereits Abend.
„Ich gehe mal davon aus, dass du deine Freunde bei der letzten Verfolgungsjagd verloren hast“, sagte Ryan auf einmal, „Wenn du willst, kann ich dir bei der Suche helfen. Übermorgen kommt mein Wagen aus der Werkstadt und dann können wir sie suchen, wenn du willst.“
„Nur zur Sicherheit, können Sie Gedanken lesen?“, fragte Alexandra misstrauisch. Das war wirklich so als hätte er ihren Gedankengang mitgehört.
„Wie kommst du darauf?“
„Schon gut.“
„Du bist wirklich ein komisches Mädchen.“
„Alexandra.“
„Hä?“
„Ich heiße nicht Mädchen, sondern Alexandra.“ Damit stand sie auf und machte sich vorsichtig auf den Weg zurück ins Schlafzimmer. Ihr Essen hatte sie in der Zwischenzeit eben verdrückt.
Einen kurzen Moment lang schien er überrascht zu sein, dann fragte er verblüfft: „Kannst du schon wieder alleine laufen?“
„Nach was sieht es denn aus?“
„Meine Güte musst du heilendes Fleisch haben“, murmelte Ryan bloß ungläubig und aß seine Portion weiter.
Alexandra setzte sich im Schlafzimmer auf das Bett und holte ihr Handy heraus. Sie selbst wunderte sich auch ein wenig darüber, wie schnell sich ihre Verletzungen wieder erholten. Immerhin waren gerademal einige Stunden vergangen. Allerdings hatte sie auch eine starke Vermutung, woran das liegen konnte. Das Buch. Es musste an Lost liegen, was anderes kam nicht in Frage.
„Chain?“
„Gibt es wieder Schwierigkeiten?“
„Der schlimmste Teil ist schon vorbei“, antwortete Alexandra und seufzte, „Aber könntest du dich für mich mal auf die Suche nach Stella und Seth machen? Ich bin etwas angeschlagen und.. na ja, könnte mich frühestens ab übermorgen daran machen die beiden zu suchen.“
„Das dürfte zwar ein wenig schwer werden, aber ich werde mein Möglichstes tun.“
„Danke“, sagte Alexandra und blickte aus dem Fenster, „Ich mach mir wirklich Sorgen um die zwei. Azraél wird auch alleine klar kommen, aber bei den beiden bin ich mir da nicht ganz so sicher.“ So wie sie die Frau kannte, hatte diese sich längst über Alexandras Begleiter schlau gemacht, Ähnliches hatte sie schon früher geschafft, ohne dass Alexandra es ihr lang und breit erklärt hatte.
„Natürlich, ich melde mich, wenn es etwas Neues gibt.“
Alexandra klappte das Handy zu und ließ sich auf den Rücken fallen. Zu ihrer Verwunderung machte auch ihre Seite kaum noch Schwierigkeiten und ihr Arm schien sich ebenfalls schon viel weiter erholt zu haben, als es normalerweise der Fall sein sollte. Ausnahmsweise war sie allerdings ziemlich froh darüber, im Moment konnte sie es wirklich gebrauchen.
Als Ryan nur Minuten später das Schlafzimmer betrat, war sie bereits eingeschlafen. Zwar fragte er sich, wie sie in dieser Position überhaupt schlafen konnte, doch er schmunzelte. Dann legte er sie kurz richtig hin, sah sich kurz die Stellen unter den Verbänden an und ging anschließend zurück in die Küche, um noch das Geschirr abzuspülen.
Ein leises, zunächst nicht zu definierendes Geräusch weckte Ryan aus seinem leichten Schlaf auf einer Matratze neben dem Bett, in dem Alexandra zurzeit schlief. Zuerst glaubte er sich getäuscht zu haben, doch dann war ein nicht zu verkennendes Klicken zu hören. Jemand hatte von außen das Fenster geöffnet. Zwar bestand da noch der Einwand, dass es an dieser Seite des Hauses nichts gab, an dem man hier in den vierten Stock hochklettern konnte, doch das Geräusch war eindeutig gewesen. Vorsichtig schloss Ryan seine Hand um den Griff des langen Messers unter seinem Kopfkissen. Wer auch immer sich um diese Uhrzeit unbefugt Zutritt zu dieser Wohnung verschaffte, konnte nichts Gutes im Sinn haben.
Dann strich ein frischer Windhauch durch das Zimmer und mit einem Satz stand Ryan auf seinen Füßen und sah den jungen Mann an, der gerade durch das Fenster in seine Wohnung stieg.
„Was willst du?“, fragte Ryan leise, aber mit durchaus drohender Stimme.
„Das Mädchen“, antwortete der andere, der aber etwas jünger zu sein schien als Ryan selbst.
Dessen Augen wurden nun schmal. „Also gehörst du auch zu den Leuten, die hinter ihr her sind“, stellte er tonlos fest.
„Rück sie raus“, erwiderte der Kerl mit drohender Stimme und machte trotz des Messers einen Schritt auf Ryan zu.
„Was sonst?“ Ryan stellte sich sicher hin und hob demonstrativ das Messer.
„Glaub nicht, dass du damit eine Chance gegen mich hast.“
Ryan bekam ein arg ungutes Gefühl. Er konnte es nicht ganz zuordnen, doch auf seiner gesamten Haut breitete sich eine Gänsehaut aus und ihm lief glatt ein Schauer über den Rücken. Wer auch immer er war, der junge Mann ihm gegenüber, den er wegen der Dunkelheit schon kaum erkennen konnte, war definitiv kein Mensch. Er würde Ryan vermutlich auch wirklich ohne große Schwierigkeiten besiegen können, was ziemlich beängstigend war. Er musste unbedingt dem Mädchen bescheid sagen.
„Azraél!“
Beide sahen überrascht zu Alexandra, die sich in dem Moment im Bett aufsetzte und sie ungläubig ansah. Da sie die Nachttischlampe angeknipst hatte, konnten sich jetzt auch alle gegenseitig richtig sehen.
„Was tut ihr zwei da?“, fragte sie allerdings völlig konsterniert. Bis vor ein paar Sekunden noch hatte sie geschlafen, bevor sie von einem verdammt unguten Gefühl wach geworden war. So ganz hundertprozentig wach war sie jedoch noch nicht, wie man vielleicht merkte.
Azraél war sich sicher, dass dieser Mann zu Raphaels Leuten gehörte, auch wenn er ihn bisher noch nie gesehen hatte. Kurzerhand holte er mit der geballten Faust aus, um den Kerl mit einem Schlag k.o. zu schlagen.
„Lass den Schwachsinn!“ Mit einem Satz war Alexandra jedoch vor Ryan gesprungen und konnte gerade eben noch Azraéls Schlag abblocken, der ihr oder auch Ryan sonst wahrscheinlich einen satten Schädelbruch beschert hätte, so stahlhart wie sich seine Faust anfühlte.
„Was...?“
„Hör mir zu“, sagte sie gehetzt, „Ryan hat mich gerettet, er ist kein Feind!“
Azraél sah sie leicht irritiert an.
„Deine Freundin wurde gleich dreimal angeschossen“, bemerkte Ryan, der das Messer bereits wieder weggepackt hatte, obwohl er noch leicht misstrauisch war, „Ich habe sie praktisch gesagt vor einigen Knochenbrüchen bewahrt und ihre Wunden versorgt. Wie du siehst geht es ihr gut. Sie erholt sich viel schneller als ich erwartet hatte. Also würdest du es bitte unterlassen mir nach dem Leben zu trachten?“
Azraél schien in dem Moment auch aufzufallen, dass Alexandra an mehreren Stellen Verbände hatte. Zudem konnte er sich langsam denken, was passiert war, und stieß einen erleichterten Seufzer aus.
„Schön zu hören“, murmelte Ryan lediglich kopfschüttelnd. Die beiden waren sich irgendwie ähnlich. „Auf der Couch im Wohnzimmer ist noch ein Platz frei.“ Er konnte sich denken, dass der Bengel nicht einfach wieder gehen würde.
„Dann schlafen Sie dort“, sagte Azraél prompt.
„Also hör mal...“ Ryan verzog resigniert das Gesicht. „Das ist immer noch meine Wohnung, und auch wenn ich nicht weiß, was du bist, sehe ich davon ab die Polizei zu rufen. Du könntest ruhig mal etwas dankbar sein und auf mich hören.“
„Und Sie scheinen zu vergessen, dass ich Sie jederzeit töten könnte, wenn ich wollte“, erwiderte Azraél kalt.
„Kommt nur mir das so vor oder wird die Jugend von heute immer dreister?“, fragte der Erwachsene wenig begeistert, „Was das angeht tut ihr zwei euch nichts.“
„Er hatte ein gutes Vorbild“, stellte Alexandra fest und ihre Augen wurden schmal, „Auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, ihm erlaubt zu haben darüber zu bestimmen, wer mit mir in einem Zimmer schläft.“ Überhaupt hatte sie noch nicht mal mitbekommen, dass Ryan sein Quartier direkt neben dem Bett aufgeschlagen hatte.
„Jetzt geht das wieder los“, stöhnte Azraél, „Ich mache mir Sorgen um dich! Versteh das doch endlich! Es ist ja nicht so, dass ich...“
„Halt die Klappe“, unterbrach Alexandra ihn erbarmungslos, „Entweder du gehorchst mir oder du kannst gehen. Und es ist mir gleich, dass du ein Dämon bist und mich einfach so vernichten könntest. Entweder, oder. Suchs dir aus.“
Azraél sah sie ungläubig an, danach blickte er kurz zu Ryan und anschließend wieder zu ihr. „Himmel!“, sagte er dann aufgebracht, „Verdammtes, störrisches Mädchen!“
Alexandra zog nur eine Augenbraue hoch. „Hast du´s jetzt?“
Er hob die Hände und setzte an etwas zu sagen, dann schüttelte er den Kopf und ließ die Arme in verzweifelter Manier wieder sinken. Er gab ein schon beinahe qualvolles Stöhnen von sich und fasste sich mit einer Hand an die Stirn.
„Na wenigstens scheint sie nicht nur mich so zu behandeln“, stellte Ryan fest und drehte sich um, „Wie auch immer, ich bin müde und leg mich jetzt ins Wohnzimmer auf die Couch. Wäre nett, wenn ihr euren kleinen Beziehungsstreit etwas leiser zu Ende führen würdet. Gute Nacht.“
„Wir sind nicht zusammen!“, riefen ihm beide gleichzeitig hinterher, ehe sie sich daraufhin einen Augenblick lang leicht überrascht ansahen. So herrschte für einige Sekunden Schweigen im Schlafzimmer.
Schließlich stöhnte Alexandra und ließ sich wieder auf ihr Bett sinken.
„Also ehrlich mal, was denkst du dir eigentlich dabei?“, fragte Azraél nun wieder etwas ruhiger, „Und woher weiß dieser Kerl, dass du verfolgt wirst?“
„Ich bin bei der Verfolgungsjagd angeschossen worden und auf das Dach eines Gebäudes geflüchtet“, erzählte Alexandra kurz, „Dort wurde ich nochmal getroffen und bin bewusstlos vom Dach gefallen.. anscheinend verdanke ich Ryan mein Leben, da er mich aufgefangen hat. Dabei hat er natürlich Raphaels Männer gesehen und ich habe ein paar Dinge erwähnt.. Seit wann bin ich eigentlich dazu verpflichtet dir Auskunft über meine Aktivitäten der letzten Stunden zu geben?“
„Seit.. ich...“ Er stöhnte. „Vergiss es. Gegen dich und deinen Dickschädel soll einer ankommen. Ich kann es nicht.“
„Gut erkannt.“ Sie legte sich hin und zog die Decke über ihren Kopf. „Also schlaf jetzt gefälligst etwas. Sobald Chain sich meldet, suchen wir nach Stella und Seth. Ich will die beiden auch nicht zu lange alleine lassen.“
Azraél sah sie leicht überrascht an. „Solltest du nicht erstmal deine Verletzungen auskurieren?“
„Sie sind schon so gut wie verheilt.“
„Wie jetzt?“
„Ich bin müde, also gib endlich Ruhe!“
Einen Moment herrschte erneut Stille, dann war das Rascheln von Stoff zu hören und Azraél legte sich auf die Matratze neben ihrem Bett.
„Wie Sie wünschen, Eure Hoheit“, murmelte er schmunzelnd.
„Ich verbiete dir mich so zu nennen.“
„Jawohl.. Euer Gnaden...“ Azraél schien schon während er sprach einzuschlafen. Nachdem er den ganzen Tag damit verbracht hatte diesen Sturkopf zu suchen, war er ziemlich müde. Auch Dämonen brauchten gelegentlich mal etwas Schlaf.
„Klappe.“
Ein leises Schnarchen war alles, was als Antwort kam.