Kapitel 7 - Wahrheit
Auf dem Weg durch das Gebäude muss ich feststellen, das das keineswegs eine Irrenanstalt, ein Gefängnis oder Krankenhaus ist. Eigentlich ist es nur ein ganz normales Haus, wenn auch ziemlich groß. Es gibt viele Zimmer wo die Tür offen stand als ich daran vorbei gelaufen bin, und sie sehen alle aus wie Gästezimmer. Ein einfaches Bett, ein Tisch plus Stuhl, ein Schrank. Ein paar weitere Räume haben Aufschriften wie „Versammlungsraum“ oder „Technikzentrale“, mit den meisten anderen Namen kann ich nichts anfangen. Durch die Fenster in den Gängen erkenne ich in der Ferne eine größere Stadt, jedoch scheint das Haus ziemlich weit weg davon zu stehen. Dem Stand der Sonne nach zu schließen, ist es wahrscheinlich Mittag, oder früher Nachmittag. Zu meiner Überraschung bin ich noch keiner Menschenseele begegnet, aber das hat ja nichts zu sagen. Jetzt im Nachhinein überlege ich, ob ich vielleicht etwas genauer planen hätte sollen, denn was, wenn mir jemand über den Weg läuft, der erkennt, wo ich eigentlich sein sollte?
Jetzt ist das auch nicht mehr zu ändern, ich muss einfach versuchen, mich zu verstecken. Das andere und möglicherweise größere Problem ist, wie genau komme ich hier weg, wenn ich erstmal den Ausgang gefunden habe? Schließlich kann ich nicht darauf hoffen, dass gerade ein Bus vorbei fährt, hier – irgendwo im nirgendwo – hält und mich umsonst mitfahren lässt.
Als ich vor einem Aufzug angekommen bin, schaue ich mich kurz um, entscheide mich dann jedoch für die Treppe, denn in der kleinen Kabine des Lifts kann ich keinem entkommen. Während ich also die Stufen hinunterrenne, merke ich, dass der Kampf vorher nicht ganz so glimpflich verlaufen ist, wie bisher gedacht. Mein Kopf brummt und ich werde vermutlich eine riesige Beule bekommen, mein Arm schmerzt von den ständigen Spritzen. Einer der Beiden muss mich mit einem Schlag in die Magengrube erwischt haben, den ich vorher nicht gespürt habe. Zudem fühlt sich mein Körper nach der zweitägigen Herumsitzerei steif an und beim Laufen wollen mir meine Füße noch nicht so richtig gehorchen. Ach ja, und ich bin barfuß und der Schlafanzug oder was das sein soll, nervt, weil die Hose zu lang ist.
Ein Stockwerk unter meinem Gefängnis beschließe ich, nach Jay zu suchen. Oder mich wenigstens davon zu überzeugen, dass er unverletzt ist. Wenn nicht, ist es meine Schuld.
Aber wie zum Teufel soll ich ihn finden?
Gerade als ich mich frage, ob das nicht doch eine schlechte Idee war und durch eine große Tür in den anderen Teil dieses Gangs kommen will, renne ich einem kleinen Mädchen in die Arme. Obwohl, nach näherem Hinsehen ist sie gar nicht so klein. Zwischen dreizehn und fünfzehn vielleicht. Längere hellbraune Haare.
„Zu Jay geht’s dalang“, sagt sie und deutet auf einen Raum gegenüber. Zwar frage ich mich, ob ich ihr vertrauen kann, oder ob das eine Falle ist, aber irgendwas ist in ihrem Blick, dass ich nicht anders kann. Ich stürze in das Zimmer und sehe Jay an einem Tisch sitzen. Er sieht überrascht auf, als ich fast gegen ihn geknallt wäre.
„K! Cathy!“ ruft er und ich drehe mich um. Das Mädchen ist also diese Cathy. Sie ist diejenige, in die ich gerade reingelaufen bin. Die, auf die alle gewartet haben. Die mit den blauen Augen. Jay’s Augen.
„Sie ist deine Schwester, oder?“ frage ich aus heiterem Himmel.
„Ja. Woher weißt du das?“ will er wissen, aber als er plötzlich aufsteht, auf mich zukommt und mich umarmt, kann ich nicht antworten.
„Wie hast du es da raus geschafft? Sie haben dich doch nicht freiwillig entlassen oder? Was ist passiert?“ Die Fragen sprudeln nur so aus ihm heraus, doch ich bringe keinen Ton heraus. Ich muss daran denken, wie ich letzte Nacht seine Hand festgehalten habe. Erinnert er sich noch daran? Wiederstrebend lasse ich ihn los.
„Ich muss gehen“, sage ich und drehe mich um, darauf gefasst, dass er mich aufhalten wird und bereit, für meine Freiheit zu kämpfen.
„Komm mit Cathy und mir“, flüstert er. Verblüfft schaue ich mich um.
„Wieso?“
„Du weißt noch nicht mal, wo wir sind. Ich schon. Ich könnte dir helfen.“
„Aber wieso willst du das plötzlich?“ Ich sehe den Schmerz in seinen Augen, denn mit diesen Worten habe ich ihm klar gemacht, dass ich ihm nicht verziehen habe.
„Sagen wir mal, wir sind schon lange nicht mehr loyal gegenüber Will’s Vater. Wir haben die ganze Zeit so getan, um herauszufinden, was sie vohaben, aber jetzt ist das zu Ende.“
Ein Räuspern hinter mir lässt mich zu Cathy herumfahren.
„Es wäre wirklich besser, wenn du mit uns kommst. Wir müssen dir das alles wohl oder übel erst mal erklären. Außerdem brauchst du neue Klamotten, Schätzchen.“ Da hat sie recht. Unschlüsssig schaue ich von Jay zu ihr und wieder zurück.
„Du hast wirklich nichts gefunden?“ Jay scheint entsetzt, als er seine Schwester ansieht.
„Nein, gar nichts.“ Auch wenn ich dieses Gespräch nicht im Mindesten verstehe, habe ich eigentlich keine Wahl.
Eine Stunde später weiß ich, dass es eine gute Entscheidung war. Cathy ist mit mir in eine Kammer gegangen, in der es alles mögliche an Klamotten gibt. Unter anderem auch meine eigenen. Außerdem wäre ich allein ohne Jays altem Auto sowieso nicht weit gekommen. So sind wir jetzt allerdings zu dritt in Boston. Was mir schon ein bisschen seltsam vorkommt, denn wenn man jemanden entführt, dann fährt man doch weiter weg, als die paar Kilometer, sie zwischen hier und meiner Heimatstadt Salem liegen. Und gerade versuchen die Beiden sich zu entscheiden, wo sie mit ihren Erklärungen anfangen sollen.
„Cath, wenn wir so beginnen, hat sie wieder keine Ahnung. Lass mich das einfach regeln“, meint Jay jetzt zum dritten Mal und seine Schwester gibt auf. Ich weiß nicht genau wieso, aber ich konnte sie vom ersten Augenblick an gut leiden. Jetzt verdreht sie die Augen in meine Richtung und überlässt schließlich doch Jay den Aufklärungs-Part, von dem ich keine blassen Schimmer habe, was er beinhalten wird.
„Also K. Stell einfach mal die Fragen, die dir im Kopf rumschwirren.“
„Wieso nennen mich alle von den komischen Leuten K? Woher kennen sie diesen Spitznamen?“
„Gleich so was kompliziertes“, stöhnt Cathy.
„Deine Mutter nennt dich auch so, oder?“ fügt Jay hinzu.
„Ja. Aber was hat das mit ihr zu tun?“ Jetzt verstehe ich noch weniger.
„Es hat alles mit ihr zu tun. Ohne sie wärst du nicht da. Ohne sie, wärst du nicht die, die du bist.“ Und wer bin ich? Wie, als hätte ich die Frage laut ausgesprochen, sagt er: „Du bist eine von uns. Du gehörst zur FIA wie ich, wie Cathy. Wie Will und Dave und alle anderen, die du durch die Lautsprecher gehört hast. Und wie deine Mutter.“
„Mum gehört auch zu dieser Geheimsekte?“ Jetzt muss er lachen.
„Wir sind doch keine Geheimsekte. Die FIA ist eine Vereinigung von Leuten, verteilt über die ganze Welt, die bestimmte Fähigkeiten haben.“ Bestimmte Fähigkeiten? Meint er, Leute, die psychische Probleme haben? Verwirrt sehe ich Cathy an, die darauf mit ihrer klaren, hohen Stimme antwortet:
„Als ich vorher gesagt habe, ich hätte nichts gefunden, da meinte ich, ich hätte in deiner Erinnerung nichts gefunden, was darauf schließen lassen würde, dass du dich an die FIA erinnerst.“
„Du hast meine Erinnerungen durchsucht? Wie ist das denn möglich?“ stoße ich hervor und weiß nicht recht, ob ich sie für verrückt halten soll.
„Aber K, das weißt du doch selbst. Weißt du noch, als du gestern Abend so sauer warst und ich dann plötzlich auf dem Boden gelegen bin? Das warst du. Vorher wusstest du irgendwie, dass Cathy meine Schwester ist und dass du ihr vertrauen kannst. Das warst alles du, dass sind deine Fähigkeiten. Und das ist nicht normal“, erklärt Jay und ich begreife langsam, was er meint.
„Dass du dauernd das ausprichst, was ich denke…“
„…ist eine meiner Fähigkeiten“, bestätigt er.
„Aber was genau ist das, was gibt es da für Verschiedene…Möglichkeiten?“
„FIA steht für Forecast, Inspectation und Appropriation. Also für Vorraussage, Kontrolle und Aneigung“, zählt Cathy auf und als ich sie immer noch verständnislos ansehe, fährt sie fort: „Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wie viele verschiedene Arten von Gaben es gibt, aber jede gehört zu einer dieser Gruppen. Bei Forecast können die mit den am schwächsten ausgeprägten Fähigkeiten nur vorherahnen, dass man gleich etwas sagen wird. Aber die Besten können dir beispielsweise sagen, wann du sterben wirst. Natürlich kann man die Zukunft ändern. Kontrolle kann so gut wie alles sein, zum Beispiel die Macht Menschen oder Gegenstände zu bewegen ohne sie zu berühren.“
„Und was ist mit Appropriation oder wie das heißt?“ frage ich und weiß nicht genau ob ich ihnen nur zuhören will während sie immer mehr kranke Lügengeschichten erfinden, oder ob ich anfange darüber nachzudenken dass das mäglicherweise der Wahrheit entsprechen könnte.
„Wie der Name schon sagt eignest du dir da etwas an. Meistens hat es etwas mit Menschen zu tun. Beispielsweise wusste ich, als ich dich vorher angesehen habe, wer du bist und dass du unter allen Umständen Jay finden wolltest. Und ich konnte deine Erinnerungen durchforsten.“
„Cathy hat eine ziemlich starke Ausprägung ihrer Gabe. Ich bekomme nur mit, was jemand gleich sagen wird oder wenn es ein ziemlich starke Gedanke ist, den derjenige mit sozusagen in Gedanken ins Gesicht schreit.“
„Das ist doch auch voll cool“, meint Cathy und bemerkt zu mir: „Er will es blos nicht wahrhaben.“ Mein Kopf brummt von dem Aufschlag an der Wand und diesen vielen komischen Informationen.
„Ihr wollt mir also weiß machen, dass FIA eine Gruppe von übersinnlich begabten Menschen ist, die entweder die Zukunft vorhersagen, alles über Menschen wissen oder sämtliches Zeug kontrollieren können?“
„Im Wesentlichen ja.“
„Und was hat das alles mit Mir und Mum zu tun?“
„Arianne war ein wichtiges Mitglied der FIA, aber ich kann mich nicht an ihre Begabung erinnern. Sie hat sich zurückgezogen als sie mit dir schwanger war. Als du geboren worden bist, war ihr klar, dass du immer in Gefahr schweben würdest und hat etwas getan, an das sie selbst sich zwar nicht erinnert, aber für die FIA ist sie in Erinnerung geblieben.“
„Was hat sie getan?“ flüstere ich und bin mir nicht sicher, ob ich es wissen will.
„Um dich zu schützen, ließ sie sich ihr gesamtes Erinnerungsvermögen an ihr altes Leben löschen und hat sich eine neue Existenz als ganz normaler Mensch aufgebaut.“ Ich muss schlucken. All ihre Erinnerungen? Wegen mir?
„Und so kam es, dass dein Name bei uns von Anfang an jeder kannte. Erst nachdem wir dich eine Weile beobachtet hatten, war uns klar, dass du Arianne‘s Tochter bist“, schließt Jay seinen Bericht ab.
„Ich muss zu ihr“, erkläre ich und will aufstehen.
„Das geht nicht“, antworten Cathy und er gleichzeitig.
„Wieso nicht?“ Ich bin irritiert.
„Seit du angefangen hast, deine Gaben zu benutzen, und sei es nur unbewusst, fangen deine Eltern an, dich langsam zu vergessen.“
„WAS?“ kreische ich, obwohl ich ganz genau weiß, was Cathy gesagt hat.
„Es tut mir Leid“, erwiedert sie, „aber es ist so. Je mehr du sie benutzt, desto mehr wirst du zu einer FIA und demnach vergessen sie dich.“
Ich starre die Beiden an und kann nicht glauben, dass das die Wahrheit ist. Aber die beiden würden mich nicht anlügen. Nicht bei soetwas.
„War das der Grund, warum ihr mich entführt habt?“
„Zum Teil, denn es wurde noch nicht ganz rausgefunden, was deine Fähigkeiten sind und ob du dich tatsächlich an nichts erinnerst.“ Also sind sie gar nicht wirklich gestörte Kidnapper, wie ich gedacht hatte. Sie haben mich entführt um mich vor mir selbst und der unumgänglichen Tatsache zu schützen, dass ich eines Tages nach Hause kommen würde und meine Eltern mich nicht mehr erkennen würden. In diesem Augenblick ist die Wahrheit jedoch zu viel für mich.