Ein Mädchen und zwei Jungen mit zwei Fraktionen - die Gesandten des Lichts und die Gesandten der Finsternis. Die Entscheidung für den einen bedeuted den Untergang für den anderen und seine Fraktion und andersherum genauso. Wie wird diese schwere Entscheidung der Kyra lauten? Und was steckt hinter diesem Kampf, der eine der beiden Gesandtengruppen sehr wahrscheinlich das Leben kosten wird? Welchen Weg wird Theresa einschlagen? Enthält: Kapitel 12: ein neuer Spitzname Kapitel 13: Verlobte Kapitel 14: zwei Kyras Kapitel 15: Unsicherheit
Theresa starrte verwirrt an ihre Zimmerdecke. Wie war sie in ihren Schlafraum gekommen? Hatte sie nicht eigentlich nach Raymond gesucht? Scheinbar war sie irgendwie ohnmächtig geworden oder sie hatte bloß geträumt. Allerdings berührte sie mit den Fingerspitzen ihre Lippen. Ihr war irgendwie so als hätte jemand sie geküsst, auch wenn sie nicht wusste, warum.
In den nächsten zwei Tagen sah Theresa Raymond nur während des Unterrichts und auch Fynn sah sie nur selten. Es hatte fast den Anschein, als wollten ihr beide Jungen aus dem Weg gehen. Das Anmeldeformular für den Aus-flug hatte sie David gegeben, der es unter seinem Neuen versteckt mit abgegeben hatte. Sie war ihm immer noch unheimlich dankbar dafür, denn so konnte sie vielleicht endlich ihre beiden vermissten Freundinnen wieder sehen. Sie hoffte so sehr darauf. Ob sie es auch wagen würde, ihrer Mutter einen Besuch abzustatten, wusste Theresa noch nicht. Das würde sie ganz spontan entscheiden.
Als Theresa gerade um eine Ecke bog, blieb sie stockend stehen. Fynn und Raymond standen einander gegenüber und sahen sich finster an. Je eine Hand des anderen ruhte auf ihren Schultern. An den Stellen, an denen sie sich berührten, schien Dampf aufzusteigen. Wie verdunsten-des Wasser. Theresa sah die beiden erschrocken an und wollte gerade auf sie zu laufen, als Nathaniel die beiden nur seufzend auseinander schob. Die zwei Jungen sahen sich jedoch immer noch feindselig an.
„Komm ihr nicht zu nahe“, sagte Fynn drohend.
„Wer sollte mich davon abhalten?“, fragte Raymond und lächelte verächtlich.
„Ich.“ Fynns Augen wurden schmal.
„Na dann versuch´s doch, Whitey“, sagte Raymond nur, „Wir werden ja noch sehen, wie viel dir an ihr liegt.“
„Pass du nur auf, dass du die Kontrolle nicht verlierst“, sagte Fynn herablassend, „Sonst muss dich am Ende noch vor dem Kampf erledigen und ich hatte nicht vor mir die Hände früher als unbedingt nötig schmutzig zu machen.“
„Habt ihr euch beide jetzt bald zu Ende angegiftet?“, fragte Nathaniel und schien am liebsten erneut seufzen zu wollen.
Beide sahen ihn finster an, doch dann rissen sie sich am Riemen und gingen in verschiedene Richtungen davon.
Theresa sah ihnen unsicher nach. Sie hatte immer noch Raymonds vollkommen verzweifelten Gesichtsausdruck von vor zwei Tagen vor Augen, als Fynn sie in den Armen gehabt und Ryszard sich angekündigt hatte. Theresa hatte verhindern wollen, dass Raymond sich noch schlimmer zurichtete und ihm so gesagt, dass er verschwinden sollte. Ihr war erst am Morgen danach klar geworden, wie das für Raymond ausgesehen haben musste, als sie ihn flehend angesehen hatte: So als ob sie darum bat, dass er sie und Fynn alleine ließ. Raymonds Gesichtsausdruck in dem Moment würde sie wohl nie vergessen. So etwas Verzwei-feltes und Verletztes hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Sie fühlte sich schrecklich, obwohl sie noch nicht mal wusste, warum Raymond sich überhaupt so aufführte. Warum er sich immer wieder mit Fynn anlegte, wo er doch wusste, dass er sich damit nur selbst verletzen würde. Warum machte er diesen Schwachsinn? Sie musste mit ihm reden, doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er schien zu wissen, was sie für Fynn empfand, und aus irgendeinem Grund schien ihn das furchtbar mitzunehmen und zu verletzen. Theresa hatte keine Ahnung, was er dachte und darum wusste sie auch nicht, wie sie ihn wieder aufheitern konnte. Es war zum Verzweifeln.
Dann kam jedoch der Morgen des Ausflugs. Obwohl sie nicht im Internat sein würden, mussten sie die Schuluni-form tragen. Theresa konnte sie zwar eigentlich langsam nicht mehr sehen, doch sie nahm es mit Gelassenheit. Sie war schon froh, als sie unbehelligt in einen der drei Busse einsteigen konnte. Die Klassen der besonders lernstarken Schüler waren einige der Letzten, die aufbrachen. Es war schon neun und die Sonne erhob sich bereits, es schien ein schöner Tag zu werden, auch wenn am südlichen Horizont einige dunkle Wolken zu sehen waren.
Theresa ergatterte einen Platz gleich neben Nicole, die hinter Jessica und Vanessa saß und Theresa den Platz freigehalten hatte. Auf der Fahrt in die Innenstadt von London überlegten die vier Mädchen sich, was sie alles machen wollten. Es war vorgeschrieben, dass immer min-destens drei Schüler zusammen unterwegs waren, nicht weniger, aber natürlich konnten auch größere Gruppen gemeinsam durch die Stadt gehen. Um fünf Uhr mussten alle Schülerinnen und Schüler sich wieder bei den Bussen einfinden. Wer zu spät kam, den erwartete im Internat eine saftige Strafe. Theresa wollte lieber gar nicht erst wissen, wie die aussah, und nahm sich vor auf jeden Fall pünktlich wieder da zu sein. Auch Nicole, Jessica und Vanessa hatten keine Lust darauf herauszufinden, worin die Strafe bestand, darum waren sie sich einig, dass sie es nicht darauf ankommen lassen wollten.
Schließlich hielt der Bus auf einem großen Parkplatz, auf dem noch einige weitere Busse standen, die das Inter-nat für diesen Ausflug gebucht hatte. Kurz wurden die Gruppen festgelegt, dann wurden sie fürs erste entlassen und durften sich, bis zum Treffen um fünf Uhr, in der Stadt umsehen. Theresa und Nicole wurden von Vanessa und Jessica beinahe augenblicklich zum nächst besten Einkaufszentrum geschleppt, wo sie erstmal eine ganze Weile beschäftigt waren. Theresa wollte nicht wissen, wie viele Klamotten die beiden innerhalb von einer halben Stunde anprobierten, das war schon fast rekordverdächtig. Auch Nicole probierte einige Sachen an und Theresa ließ es sich auch nicht nehmen wenigstens etwas anzuziehen. Mal wieder etwas anderes als die Schuluniform zu tragen, war schon beinahe ungewohnt, und Theresa lachte über sich selber. Aber den anderen drein ging es nicht besser. Als sie dann soweit fertig waren und Vanessa und Jessica ihre Lieblingsstücke zusammengesucht und bezahlt hatten, zog Jessica sie sofort zum nächsten Eiscafé. Theresa staunte nicht schlecht, als Jessica ganze sechs Kugeln Eis verdrückte, während die anderen es bei zwei beließen.
„Du hast wohl keine Angst zuzunehmen“, stellte Theresa erstaunt fest.
„Nö“, sagte Jessica schmunzelnd, „Ich konnte schon früher essen, was ich wollte, ohne irgendwie zuzunehmen. Und das auf dem Internat ist doch sowieso schon fast Diätkost, da sollten wir heute reinschlagen, schließlich muss es bis zum nächsten Ausflug reichen.“
Theresa schüttelte nur lächelnd den Kopf und sah zögernd in ihre Brieftasche. Sie hatte nicht mehr sehr viel Geld, daher musste sie aufpassen, was sie kaufte. Nicole, die neben ihr saß, schien das aufzufallen.
„Du scheinst ja nicht gerade gut bei Kasse zu sein“, stellte sie ein wenig besorgt fest.
„Ist schon in Ordnung“, wehrte Theresa ab, „Ich hatte noch nie viel Geld und ich brauch ja auch nichts weiter.“
„Schicken deine Eltern dir kein Geld?“, fragte Jessica etwas erstaunt. Sie und Vanessa waren ebenfalls auf das Gespräch aufmerksam geworden.
Theresa runzelte verwirrt die Stirn. „Nein. Ich wusste noch nicht mal, dass das überhaupt möglich ist.“
„Vielleicht sollten wir dann mal deine Eltern besuchen“, schlug Vanessa vor, „Du brauchst schließlich Geld und ein Ausflug in die Stadt macht keinen Spaß, wenn man sich nicht mal mehr ein ordentliches Eis kaufen kann.“
Theresa schüttelte den Kopf. „Wie gesagt wollte ich mir eigentlich sowieso nichts kaufen und.. ich glaube, ich bin noch nicht so weit, meine Mutter wiederzusehen.“
„Komm schon“, sagte Nicole, „Wir kommen mit dir. Und du hast deine Mutter nicht enttäuscht, also gibt es keinen Grund, ihr nicht einen Besuch abzustatten.“
Theresa schüttelte nur den Kopf.
„Da kann man wohl nichts machen“, seufzte Vanessa, „Lasst uns weiter gehen.“
„Gute Idee“, sagte Jessica, „Wo ist die nächste Kondi-torei? Ich hatte schon lange keine richtige Torte mehr.“
„Du willst, nachdem du sechs Kugeln Eis gegessen hast, auch noch Kuchen essen?“, fragte Theresa ungläubig.
„Wie gesagt, ich pflege solche Ausflüge zu nutzen“, grinste Jessica nur.
„Und am Abend liegt sie mit Bauchschmerzen im Bett.“ Diesmal war Vanessa diejenige, die den Kopf schüttelte.
Theresa konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie verließen das Eiscafé und schlenderten weiter. Nicole blieb ein ganzes Stück weiter bei einem Juwelier hängen und sie sahen auch dort die Bestände durch. Vanessa fand gleich mehrere Halsketten und auch Nicole fand ein schönes Armband. Theresa hatte zwar kein Geld mehr, sich etwas von den teuren Sachen hier zu kaufen, aber es war auch schön mal wieder einfach etwas anderes als die Räume und Flure des Internats zu sehen.
Schließlich aber verließen sie den Juwelier wieder und wollten sich gerade nach links wenden, als Theresa wie angewurzelt stehen blieb. Nur wenige Meter entfernt gingen Clare und Leah schwatzend ihren Weg. Dann blieben sie jedoch stehen und schienen sich über etwas zu amüsieren, bis Leahs Blick nach links fiel und sie Theresa entgeistert anstarrte. Clare war ihrem Blick gefolgt und starrte Theresa ebenfalls an.
Nicole, Jessica und Vanessa hatten verwirrt innegehal-ten und sahen zwischen den Mädchen hin und her.
„Clare.. Leah...“ Mehr brachte Theresa nicht hervor, doch die anderen drei Mädchen verstanden nun endlich und hielten sich im Hintergrund.
Clare und Leah brauchten ebenfalls eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatten. Dann wurden ihre Mienen jedoch auf einmal ernst und sie kamen zwei Schritte auf Theresa zu. Kurz vor ihr blieben sie stehen und musterten Theresas Uniform.
„Das ist also unsere Freundin von diesem Internat für Hochbegabte“, sagte Clare nur mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Sonderlich verändert hat sie sich ja nicht, abgesehen von den Klamotten vielleicht“, stellte Leah kalt fest.
Theresa entglitten die Gesichtszüge und sie starrte ihre Freundinnen verwirrt an. Hatte sie sich das gerade nur eingebildet oder klangen sie wirklich so verachtend? So als wollten die beiden sie gar nicht sehen? Dann schluckte Theresa und sagte zaghaft: „Hey ihr zwei.. wir haben uns lange nicht mehr gesehen.“
„An wem liegt das wohl?“, fragte Clare nur.
„Aber.. hat meine Mutter euch nicht erzählt, was passiert ist?“, fragte Theresa bestürzt.
„Tse, sie hat uns alles erzählt“, sagte Leah herablassend, „Dass es dir einfach zu blöd war, immer mit den Dummen auf eine Schule gehen zu müssen und dass du endlich auch mal mit einigen ähnlich lernstarken zusammen sein wolltest. Aber dass du uns noch nicht mal etwas davon erzähl hast, finde ich noch schlimmer als das Ganze an sich.“
„Du brauchst gar nicht so zu tun als wären wir Freunde, geh zu deinesgleichen und werde glücklich, wenn wir dir zu blöd sind“, sagte Clare und sah sie aus kalten Augen an.
„Aber.. d-das habe ich.. nie gesagt“, stammelte Theresa verwirrt und erschrocken zugleich.
„Ach nein?“ Beide Mädchen sahen sie nur zornig an.
Nicole, Jessica und Vanessa war inzwischen klar gewor-den, dass dieses Wiedersehen bei weitem anders verlief, als alle erwartet hatten. Sie traten schnell neben Theresa, die vollkommen geschockt zu sein schien.
„Hey ihr zwei“, sagte Vanessa und auch ihre Stimme klang feindselig, während Nicole und Jessica versuchten Theresa wieder zu beruhigen, „Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was Theresa alles durchgemacht hat? Sie hat fast das ganze Internat gegen sich aufgehetzt, nur um euch beide wiederzusehen. Und anscheinend hat ihre Mutter eine völlig andere Geschichte erzählt als sich wirklich zugetragen hat.“
„Sie wollte euch so sehr wieder sehen und hat sonst was durchgestanden“, sagte nun auch Nicole giftig, „Wenn ihr euch wirklich Freunde nennen wollt, solltet ihr euch wenigstens anhören, was wirklich passiert ist.“
„Theresa ist doch schließlich eure Freundin“, bemerkte Jessica.
„Wie es aussieht, hat sie auch gleich neue Freunde gefunden“, sagte Leah nur.
„Dann sind wir doch sowieso überflüssig“, bemerkte Clare, „Und ich glaube eigentlich nicht, dass ihre Mutter uns belügen würde. Habt ihr eigentlich schon mal darüber nachgedacht, dass auch Theresa euch angelogen haben könnte?“
Nicole, Jessica und auch Vanessa sahen die beiden Mädchen beinahe fassungslos an. Dann wanderten ihre Blicke jedoch zu Theresa. Diese fragte sich unterdessen, ob das da wirklich ihre Freundinnen waren. Ob es nicht auch möglich war, dass sie nur einen ziemlich schlechten Traum hatte und jeden Moment aufwachen würde.
„Ihr seid irgendwie ganz anders, als ich erwartet habe.“
Nicole, Jessica und Vanessa drehten sich überrascht um. „Raymond?“
Theresa zuckte bei dem Namen zusammen. Dieses Problem hatte sie so schön verdrängt und nun tauchte es auch noch persönlich wieder auf.
„Aus irgendeinem Grund scheint ihr einen ziemlichen Groll gegen Theresa zu hegen.“ Raymond stellte sich neben Jessica, die Theresa noch halb im Arm hatte und links außen stand.
„Auch das noch, jetzt kommt auch noch ihr Freund“, stöhnte Leah genervt.
Raymond hob nur eine Augenbraue. „Da seid ihr auf dem Holzweg, wir gehen nur in die selbe Klasse.“
„Was willst du dann?“, fragte Clare und sah ihn giftig an. Allerdings wirkte sie auch ein kleinwenig neugierig. Schließlich sah man nicht jeden Tag einen so gut ausse-henden Jungen. Seine kurzen und ziemlich zerzausten, schwarzen Haare und die gelben Augen ergänzten sich perfekt. Auch die Uniform des Internats stand ihm aus-gezeichnet. Er trug zwar nicht den Blazer und die zwei oberen Knöpfe seines sandfarbenen Hemdes waren offen, wodurch das Ganze nicht mehr so ordentlich aussah, doch das schien umso besser zu ihm zu passen.
„Ich will wissen, aus welchem Grund ihr annehmt, dass Theresa lügt“, antwortete Raymond nur gelassen.
Leah und Clare schienen beide etwas verwirrt zu sein.
„Deswegen bist du also so plötzlich verschwunden“, seufzte Nathaniel, der in dem Moment hinter Raymond auftauchte. Über der Schulter hatte er noch einen zweiten kastanienbraunen Blazer, den Raymond wahrscheinlich irgendwo hatte liegen lassen.
Clare und Leah starrten auch den zweiten Jungen verdattert an. Wo kamen die auf einmal alle her? Diese gut aussehenden Jungen? Er war noch ein Stück größer als der Junge, der Raymond zu heißen schien. Die glatten, dun-kelbraunen Haare reichten ihm fast bis auf die Schultern und seine graugrünen Augen sahen ebenfalls sehr schön aus. Ansonsten trug er die Uniform des Internats, auch wenn er den Blazer ordentlich über dem Hemd und der sandfarbenen Hose trug.
„Hey, bist du langsam auch mal wieder da“, sagte Raymond nur ohne den Blick von den beiden etwas überraschten Mädchen abzuwenden.
„Nicht alle haben es immer so eilig wie du“, bemerkte Nathaniel.
„Und was ist nun mit euch beiden?“, fragte Raymond, „Es war gar nicht so einfach, Theresa auf diesen Ausflug zu bekommen, also wäre ich euch dankbar, wenn ihr aufhören würdet, Schwachsinn zu reden und mal überlegt, ob Theresa wirklich einen Grund hat uns anzulügen.“
Leah und Clare sahen ihn verwirrt an und schienen zu überlegen, was sie davon halten sollten. Beide wirkten ungläubig. Dann schüttelten sie allerdings die Köpfe und sahen der Gruppe kalt entgegen.
„Hier scheint ja eine richtige Versammlung stattzufin-den.“ Fynn lehnte ein kleines Stück entfernt an einem Laternenpfeiler und schien schon eine Weile zuzusehen. Neben ihm stand noch Alicia, die den Kopf schief gelegt hatte und ebenfalls in die Richtung sah.
Clare und Leah wussten so langsam nicht mehr, was das sollte. Es tauchten ja immer mehr auf. Und jetzt auch noch so ein absolut bezaubernder Junge. Mit der ordentlichen Schuluniform, den nussbraunen Augen und den schönen, hellblonden Haaren, die im Sonnenlicht glänzten, sah er aus wie ein aus dem Märchen entsprungener Prinz. Gingen all diese Jungen wirklich auf das Internat, auf das Theresa gewechselt hatte? Leah und Clare konnten es kaum fassen.
„Was soll das werden?“, fragte Clare dennoch unsicher.
„Habt ihr vor uns zu verprügeln?“, fragte Leah und wich einen Schritt zurück.
„Wie kommt ihr denn auf die Idee?“, fragte Raymond stirnrunzelnd.
„Uns hat eigentlich nur interessiert, wie die alten Freundinnen von Theresa sind, von denen sie immer so viel geredet hat und die sie so unbedingt wieder sehen wollte“, sagte Fynn und kam zu der Gruppe.
„Aber irgendwie seid ihr so ganz anders, als Theresa euch beschrieben hat“, sagte Raymond und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Clare und Leah sahen zwischen den beiden hin und her. Es hatte ja schon fast den Anschein, dass die beiden etwas für Theresa empfanden. Und das machte die beiden Mädchen nur noch saurer. Immer war es Theresa, die alle bewunderten. Immer nur sie. Für ganz normale Leute schien heute niemand mehr etwas übrig zu haben.
„Ihr seht ja schon wieder so aus, als würdet ihr Theresa gleich an die Gurgel gehen“, bemerkte Raymond, „Seid ihr eifersüchtig oder was?“
Die beiden Mädchen zuckten merklich zusammen und sahen Raymond wütend an. Woher konnte er das wissen? Das konnte doch alles nicht wahr sein. Seit wann hatte Theresa so viele Freunde?
„Wieso sollten wir denn auf sie eifersüchtig sein?“, fragte Leah wütend, „So was erbärmliches habe ich noch nie gesehen...“
„Versteckt sich hinter den Freunden und traut sich nicht uns selber gegenüber zu treten“, sagte Clare verächtlich.
„Wisst ihr eigentlich, wie lächerlich ihr euch gerade macht?“, fragte Fynn und seine Augen bekamen wieder diesen kalten Ausdruck.
„Ihr seid diejenigen, die hier erbärmlich sind“, sagte Raymond gereizt, „Theresa hat alles versucht, um euch endlich wiederzusehen und ihr benehmt euch wie die eingebildeten Hühner...“
„Ausnahmsweise muss ich Blacky mal recht geben“, sagte Fynn nur kalt, „So was eifersüchtiges habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“
„Ich genauso wenig, Whitey“, sagte Raymond, „Das ist einfach nur...“
„GENUG!“, schrie Theresa und stieß sich von Jessica weg. Sie hatte genug. Sie konnte einfach nicht mehr. Dass ihre Freundinnen noch nicht mal dazu bereit waren, ihr zuzuhören, war bei weitem schlimmer als alles, was sie erwartet hatte. Sie rannte in die nächstbeste Seitenstraße und wollte einfach nur weg. Weit weg von allen und alleine sein. Erstmal verstehen, was überhaupt los war.
„Theresa!“, rief Nicole noch verwirrt und die anderen waren auch nicht weniger überrascht, doch da war Theresa auf einmal in eine Gasse rechts eingebogen und aus ihrem Blickfeld verschwunden.
„Verflucht“, sagte Raymond.
„So durcheinander wie sie ist, verliert sie doch gleich die Orientierung“, sagte Fynn leicht erschrocken.
„Wir müssen hinterher“, sagte Alicia, die sich von allen am schnellsten gefangen hatte, „Ich werde mit Fynn gehen. Nicole, Jessica, Vanessa, ihr bleibt zusammen und Raymond und Nathaniel ebenfalls. Wir treffen uns in einer halben Stunde wieder hier.“
„Alles klar“, sagte Nicole sofort und nickte nochmal bekräftigend.
„Wir laufen geradeaus weiter“, sagte Vanessa.
„Wir nehmen die Gasse, die Theresa genommen hat“, sagte Fynn nur und warf einen kurzen Blick zu Raymond.
„Wir halten uns weiter rechts“, sagte Raymond und zog Nathaniel in die Richtung. Auch die anderen liefen los und die Suche nach Theresa begann, Clare und Leah ließen sie einfach stehen. Doch entweder sie waren zu blöd oder Theresa hatte so viele Hacken geschlagen, dass sie sie nicht entdecken konnten. Als Nicole, Jessica und Vanessa eine ganze Weile geradeaus gelaufen waren, bogen auch sie nach rechts ein und suchten weiter. Fynn und Alicia hielten sich mittig und eher in der Nähe von mehr oder weniger großen Läden. Es war schließlich auch möglich, dass Theresa sich in eines der Geschäfte verzogen hatte und dort in einer ruhigen Ecke hockte. Raymond und Nathaniel blieben in den kleineren Gassen und suchten dort.
Eine halbe Stunde später waren alle wieder vor dem Juwelier, doch niemand hatte Theresa gesehen. Außerdem war Nathaniel alleine zurückgekommen. Er hatte kurz in einer anderen Gasse nachgesehen und als er sich wieder umgedreht hatte, war Raymond verschwunden.
„Na super, jetzt fehlen schon zwei“, stöhnte Fynn, „Als ob Theresa nicht schon reichen würde.“
„Hoffentlich vergisst sie nicht, dass wir um fünf wieder beim Bus sein müssen“, sagte Alicia besorgt, „Es ist schon nach halb vier.“
„Und das Wetter scheint sich auch zu verschlechtern“, bemerkte Nathaniel, der in den Himmel sah.
„Oh Heiliger“, sagte Jessica erstaunt, „Das nenne ich mal eine Wolkenwand.“
„Wenn Theresa den Bus verpasst, hat sie wirklich ein Problem“, bemerkte Nicole besorgt, „Ihr Geld reicht nie und nimmer für ein Taxi.“
„Dann sollten wir uns beeilen und sie finden“, sagte Fynn beunruhigt, „Alle suchen nach Theresa und wir treffen uns um fünf beim Bus.“
„Und Nathaniel hält dabei bitte auch Ausschau nach Raymond“, warf Alicia ein, „Du hast ihn zu Letzt gesehen und weißt hoffentlich noch die Stelle.“
„Selbst wenn ich ihn nicht finde, Raymond ist nicht blöd und kommt schon wieder im Internat an“, sagte Nathaniel, „Theresa macht mir viel mehr Sorgen.“
„Vergisst du nicht ein kleines Problem von Raymond?“, fragte Fynn und seine Augen wurden schmal.
„Er hat es unter Kontrolle und so lange du ihm nicht begegnest, besteht eigentlich keine Gefahr“, seufzte Nathaniel und verschwand mit wenigen Schritten in einer Seitenstraße.
„Wie war das gerade?!“, fragte Fynn gereizt, während Nicole, Jessica und Vanessa sich etwas verwirrt wieder auf die Suche machten.
„Komm schon, darüber kannst du dich später immer noch ärgern“, sagte Alicia und zog Fynn am Kragen mit sich mit.
Doch auch anderthalb Stunden später, als sich alle wieder beim Bus trafen, hatte niemand Theresa gesehen. Auch von Raymond fehlte immer noch jede Spur. Die Lehrer warteten noch eine halbe Stunde, dann mussten sie alle in die Busse steigen und zum Internat zurückfahren. Wenn Theresa und Raymond sich beide bis zum nächsten Morgen nicht meldeten, würde die Polizei verständigt werden. Inzwischen hatte es auch noch angefangen zu regnen und die Mädchen sahen besorgt aus dem Fenster des Busses.
Auch Fynn sah unentwegt nach draußen. Wo steckte Theresa bloß? Eigentlich hätte er auch noch nach ihr suchen müssen, doch das war ihm erst zu spät klar geworden. Es regnete in Strömen und Theresa hatte nicht mehr als ihre Uniform an. Wenn sie draußen blieb, würde sie sich eine deftige Erkältung holen. Irgendetwas musste Fynn doch machen können. Aber was? Er war machtlos und saß im Bus zurück ins Internat fest. Der Einzige, der Theresa zurzeit noch finden konnte, war Raymond. Wenn er Theresa nicht wohlbehalten zurück brachte, konnte er sein blaues Wunder erleben.
Alicia, die neben ihm saß, fächelte sich nur mit der Hand Luft zu. Fynn war schon wieder dabei so aufzuheizen. Manchmal war es auch von Nachteil, dass er ein Feuermagier war. An Tagen wie diesen war er wie eine lebendige Heizung, die man voll aufgedreht hatte.
Raymond lief die Gasse hinunter. Wie viele Stunden lief er eigentlich schon so durch die Gegend? Er war nur froh darüber, dass er ein Wassermagier war. So machte ihm der Regen nichts aus, da er brav von ihm abperlte und nicht seine ganze Kleidung durchnässte. Wo steckte Theresa nur? Wie weit war sie gelaufen? Raymond war klar, dass der Bus zum Internat mittlerweile schon lange abgefahren war, doch er konnte noch nicht zurück. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass Theresa nicht im Bus saß. Er musste sie finden. Auch wenn das in so einer großen Stadt mit so vielen Straßen und Gassen leichter gesagt als getan war. Dann bog er um eine Ecke und blieb stockend stehen.
Es war eine Sackgasse, an deren Ende Theresa an der Mauer stand. Sie starrte die vier Männer vor sich jedoch verängstigt an. Diese schienen düstere Absichten zu haben, ihre Haltung verriet bereits ihr Vorhaben. Dieses Mädchen kam ihnen gerade recht als Spielzeug. Dazu war es auch noch recht süß und schien außerdem aus einer reichen Familie zu kommen, da sie eine so teuer ausse-hende Schuluniform trug. Raymond konnte schon fast ihre absolut widerlichen Gedanken hören und in ihm stieg auf einen Schlag eine ungeheure Wut auf. Eine solche Wut, dass er sie kaum zurückhalten konnte.
„Die gehören mir!“
Raymond zuckte erschrocken zusammen. Warum musste Ryszard ausgerechnet jetzt auf die Idee kommen sich einzumischen? Und dann auch noch mit so einer Kraft, Raymond verzog das Gesicht und fasste sich krampfhaft an die Brust.
Halt dich da raus
„Das hättest du wohl gern! Ich hatte schon lange nicht mehr die Aussicht auf so einen Spaß, also verzieh dich. Ich bin jetzt dran.“
Raymond wollte etwas erwidern, doch in dem Moment wurde er in den Hintergrund gestoßen und Ryszard über-nahm die Kontrolle über seinen Körper. Warum musste Raymond auch vom stundenlangen Laufen schon so müde sein? Wenn das nicht wäre, hätte er Ryszard zurück-schlagen können. Nun konnte er nur hoffen, dass Ryszard es bei den Männern belassen würde und nicht noch auf die Idee kam, Theresa anzugreifen.
„Was willst du denn hier?“ Einer der Männer hatte sich kurz umgedreht und gesehen, wie Raymond sich noch gekrümmt hatte.
Nun hatte dieser jedoch inne gehalten und richtete sich gerade wieder richtig auf. Er öffnete die Augen und sah die Männer aus leuchtend roten Augen an. Sein ziemlich finsteres Grinsen ließ ihn zusammen mit den Augen außerordentlich unheimlich aussehen.
Der Mann, der ihn angesehen hatte, wirkte etwas irritiert und tippte einem der anderen auf die Schulter. Dieser drehte sich daraufhin ebenfalls um und wirkte genauso erschrocken.
Auch Theresa war inzwischen auf den Jungen am anderen Ende der Gasse aufmerksam geworden. Sie konnte Ryszard nur erschrocken anstarren. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper, weil sie viel zu lange gelaufen war, weil ihr vom Regen kalt war und weil diese Männer ihr Angst einjagten. Nun kam auch noch ein vierter Grund dazu. Ryszard, der eine noch finsterere Aura als beim letzten Mal hatte und einem durch seine bloße Anwesenheit Angst einjagte.
„Was ich will?“, fragte Ryszard nun drohend und kam langsam auf die Männer zu, „Das ist doch klar. Ich will ein bisschen Spaß.“
Sein drohendes Lächeln schien auch den vier Männern Angst einzujagen, doch sie bauten anscheinend auf ihren Massenvorteil. Es stand immer noch vier gegen einen. Der eine Mann spuckte nur verächtlich zur Seite und kam dann auf Ryszard zugelaufen. Dieser fing den Schlag jedoch einfach mit einer Hand ab und warf den Mann mühelos über seine Schulter. Zwei der anderen rannten daraufhin ebenfalls brüllend auf ihn zu, doch dem einen trat Ryszard einfach in den Magen, dem anderen rammte er seine Faust erst ins Gesicht und dann gegen seine Schulter, sodass er zur Seite gegen die Hauswand geschleudert wurde. Der letzte Mann schien reichlich unsicher geworden zu sein, doch Ryszard kam nach wie vor langsam auf ihn zu. So stürmte auch der Letzte auf ihn zu und wurde mit einem einzigen bloßen Faustschlag zur Seite geschleudert. Wie auch die anderen krümmte er sich am Boden und stöhnte.
„War das schon alles?“, fragte Ryszard gelangweilt, „Das war ja noch nicht mal zum Aufwärmen. Könnt ihr nicht mehr?“
Theresa starrte ihn immer noch erschrocken an. Wann gewann Raymond endlich die Kontrolle zurück? Ryszard schien noch nicht genug zu haben und wenn das so weiter ging, würde das für keinen der Anwesenden gut ausgehen. Nun ging Ryszard auf einen der Männer zu und trat ihm gegen den Kopf.
„Steh auf“, sagte Ryszard nur, „Du bist noch nicht k.o.“
„Gnade“, flehte der Mann stöhnend.
„Bei einem wie dir soll ich Gnade zeigen?“, fragte Ryszard verächtlich, „Mach dich nicht lächerlich.“
Er holte mit der geballten Faust aus und wollte zuschla-gen, doch auf einmal hielt jemand seinen Arm fest. Zornig blickte Ryszard nach hinten und erblickte Theresa, die ihn fassungslos ansah und seinen Arm mit beiden Händen festhielt.
„Es reicht“, sagte sie verzweifelt, „Ryszard, sie liegen doch schon am Boden. Du hast gewonnen, du hast keinen Grund mehr sie zu schlagen.“
„Tse, noch können sie sich aber ganz gut bewegen“, sagte Ryszard, „Und wenn du mich nicht gleich loslässt, endest du genauso wie sie.“
Theresa war im ersten Moment erschrocken, doch dann schluckte sie. „Nein.“
„Wie war das?“ Ryszard nahm sie mit seinen stechenden Augen ins Visier, während der Mann vor ihm und auch die anderen langsam weg krochen. In dem Moment fiel es Ryszard auf und er wollte ihnen nachsetzen, doch Theresa hielt seinen Arm immer noch fest umklammert und ließ ihn nicht los.
„Du miese, kleine Göre“, sagte Ryszard drohend, als die vier Männer schleunigst das Weite suchten, „Das wirst du noch büßen!“
„Hör auf“, sagte Theresa und versuchte seinem Blick standzuhalten, „Kannst du denn nichts anderes als andere zu verletzen?“
„Ich bin ein Mörder, falls du es schon vergessen haben solltest“, sagte Ryszard und seine Stimme klang mit jedem Wort kälter, „Andere zu verletzen macht mir am meisten Spaß.“
„Aber du bist immer noch in Raymond“, sagte Theresa verzweifelt, „Du kannst doch nicht einfach jemanden umbringen. Es kann dir doch nicht ernsthaft Spaß machen, andere zu töten?“
„Oh doch“, sagte Ryszard, „Und ich bekomme gerade immer mehr Lust, auch dir etwas anzutun.“
„Das wird Raymond verhindern.“ Theresa klang jedoch unsicher.
„Wieso sollte er?“, fragte Ryszard nur herablassend, „Weißt du eigentlich, wie oft er dir jetzt schon geholfen und was er alles für dich getan hat? Und nicht ein einziges Mal hast du dich bei ihm bedankt. Du bist ein grässlicher Wolf im Schafspelz. Tust immer freundlich und erwartest, dass man dir hilft, scherst dich aber einen Dreck darum, wie es den anderen geht. Mädchen wie du sind das Letzte.“
Theresa starrte ihn entgeistert an. War sie wirklich so? War sie wirklich so scheußlich und gemein? Es stimmte aber, wie sie bereits nach kurzem Überlegen zugeben musste. Alle und vor allem Fynn und Raymond hatten ihr immer geholfen, doch sie hatte sich nicht ein Mal bedankt. Nicht ein einziges Dankeschön war ihr gegenüber den beiden über die Lippen gekommen. Theresa stiegen die Tränen in die Augen. Jetzt konnte sie auch Clares und Leahs Anschuldigungen verstehen. Sie war wirklich schon immer so gewesen, ohne dass sie es überhaupt gemerkt hatte. So selbstsüchtig. So scheußlich. Ihr stiegen immer mehr Tränen in die Augen. Sie war vorher schon halb verzweifelt gewesen, doch jetzt konnte sie endgültig nicht mehr. Ryszard hatte ihr den Rest gegeben.
„Du brauchst gar nicht erst zu heulen“, sagte Ryszard verächtlich.
Hör endlich auf! rief Raymond in Gedanken, Du hast schon genug angerichet!
„Halt die Klappe. Diese selbstsüchtige Göre ist nichts wert und ich werde nie verstehen, was du an ihr gefressen hast“ erwiderte Ryszard nur.
„Ich bin nicht wie Raymond und lasse mich davon erweichen“, sagte Ryszard herablassend, „Lauf doch zu deinem Fynn und heul dich bei ihm aus.“
Theresa starrte sein Hemd an. Ihre Augen hatten keinen so rechten Glanz mehr und sie schien mit den Gedanken ganz wo anders zu sein. Irgendwo weit weg. Ryszard wollte sich daraufhin endlich befreien, doch Theresa hielt immer noch eisern seinen Arm fest.
„Lass mich endlich los, du verdammte Göre“, sagte Ryszard drohend. Er versuchte leicht verwirrt seinen Arm zu befreien, doch Theresa ließ ihn noch immer nicht los. „Nimm deine dreckigen Pfoten von mir!“
NEIN! rief Raymond verzweifelt, doch er kam gegen Ryszard nicht an.
Dieser holte mit der Hand aus und schlug zu. Die Ohrfeige ließ Theresa nach hinten taumeln und ihre Brille landete auf dem Boden. Ryszard keuchte, auch wenn er nicht wusste warum. Dann sah Theresa jedoch vom Boden aus auf. In dem himmelblauen und auch in ihrem dunklen, nachtblauen Auge waren immer noch Tränen, doch sie sah Ryszard an. Und in ihrem Blick lag irgendetwas Verwir-rendes.
„Es tut mir leid“, sagte Theresa, „Ich weiß, dass ich mich schrecklich benommen habe und du, Raymond, Fynn und noch so viele andere haben allen Grund auf mich sauer zu sein und mich zu hassen.“ Sie holte tief Luft und lächelte dann auf einmal matt. „Aber ich verspreche, dass ich mich ändern werde. Ich werde mich ändern und allen zeigen, wie dankbar ich für ihre Hilfe bin.. Ich möchte auch dir danken, weil du mir die Augen geöffnet hast.“
Ryszard wirkte mit einem Mal verwirrt und verblüfft zugleich. Das hatte er nun wirklich am allerwenigsten erwartet.
„Ich danke dir Ryszard“, sagte Theresa und wischte sich die Tränen weg. Sie schaffte es sogar zu lächeln.
Ryszard wich vor lauter Überraschung einen Schritt zurück. Was war denn jetzt auf einmal mit diesem Mäd-chen los? Er hatte ihr gerade einige der schrecklichsten Dinge an den Kopf geworfen, die man jemandem sagen konnte, und sie bedankte sich jetzt lächelnd. Irgendetwas stimmte mit diesem Mädchen nicht. Das war doch nicht normal. Er war vollkommen verwirrt.
„Ryszard?“, sagte Theresa auf einmal, „Ich möchte mit Raymond sprechen.“
„Eh?“ Ryszard war noch verblüffter als ohnehin schon, doch das konnte er sich unter keinen Umständen anmer-ken lassen. „Wie kommst du denn auf die Idee? Glaubst du, ich überlass ihm so einfach wieder die Kontrolle über diesen Körper? Da hast du dich gewaltig geschnitten!“
„Bitte Ryszard“, sagte Theresa und sah ihn schon fast flehend an, „Ich muss unbedingt mit ihm reden.“
Ryszard starrte sie nur verdattert an. Hatte sie denn überhaupt keine Angst mehr? Sie tat ja gerade so als ob er jemand ganz harmloses wäre, den man einfach so um etwas bitten konnte. Hatte sie überhaupt noch alle Tassen im Schrank oder war sie verrückt geworden?
Keins von beidem
Ryszard zuckte erschrocken zusammen und krümmte sich. „Verflucht.. ich hab nicht aufgepasst...“ In der nächs-ten Sekunde kippte er zur Seite und Theresa konnte ihn gerade noch an der Schulter festhalten. In dem Moment öffnete er wieder seine gelben Augen und Raymond sah sie an. Theresa war etwas überrascht und vergaß deshalb mehr oder weniger ihn zu stützen. Sie sanken beide auf den nassen Boden und der Regen plätscherte in den Pfützen. Beide sahen sich an und keiner schien recht zu wissen, was er sagen sollte.
„Es tut mir leid...“ Beide stockten überrascht. Sie hatten gleichzeitig angefangen.
„Mir tut es leid“, sagte Theresa dann beharrlich, „Du hast nichts getan. Ich war diejenige, die so abscheulich war.“
„Unsinn, ich hätte Ryszard schon viel früher in die Knie zwingen müssen“, sagte Raymond nur und sah zu Boden.
„Hör auf dich für so einen Schwachsinn zu entschuldi-gen und schon wieder diese Miene zu ziehen“, sagte Theresa leicht verzweifelt, „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass ich das nicht ausstehen kann, also lass es endlich.“
Raymond sah immer noch zu Boden.
„Es tut mir so leid“, sagte Theresa zerknirscht, „Ich hätte dir schon viel früher sagen müssen, wie dankbar ich dir dafür bin, dass du das alles für mich getan hast. Ich kann verstehen, dass du nicht mit mir reden und wahrscheinlich auch nichts mehr von mir sehen willst...“
Plötzlich zog Raymond sie an sich und Theresa lag überrascht in seinen Armen. Sie saßen immer noch auf dem harten, feuchten Boden und Theresa sah sein Hemd verwirrt an. Sie lehnte mit dem Kopf seitlich an seiner Brust und versuchte gerade etwas verwundert ihr plötzlich schneller schlagendes Herz zu beruhigen.
„Jetzt bist du diejenige, die Schwachsinn redet“, flüsterte Raymond nur und zog sie enger an sich.
Theresas Herz überschlug sich fast und sie versuchte überrascht die Röte wieder aus ihrem Gesicht zu vertrei-ben. Was war denn jetzt auf einmal los?
„Dein Herz schlägt so laut, dass ich es hören kann“, bemerkte Raymond auf einmal leise und sie wusste, dass er leicht lächelte.
Theresa lief daraufhin allerdings noch ein ganzes Stück roter an und versuchte vorsichtig, sich von ihm wegzu-drücken, doch er hatte die Arme so um sie gelegt, dass sie sich nicht befreien konnte, ohne Gewalt anzuwenden. Und das wollte sie nicht.
„Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass ich dich nicht mehr sehen will?“, fragte Raymond ohne sie loszulassen.
Theresa war nun noch verwirrter. „Na.. ich hab einige schreckliche Dinge getan.. Du hättest allen Grund auf mich sauer zu sein.“
„Dummkopf“, seufzte Raymond nur, „Vielleicht hast du das, aber ich hab doch selber Schuld. Ich bin schließlich derjenige, der den ganzen Mist immer verursacht und nicht locker lassen will. Es geschieht mir nur recht.“
„Du redest schon wieder irgendwelchen Stuss“, sagte Theresa trotzig. Im selben Moment fiel ihr jedoch auf, dass ihre Klamotten schon fast vollkommen trocken waren, obwohl sie zuvor bis auf die Knochen durchnässt war. Und das obwohl es noch immer in Strömen regnete.
„Wieso sind meine Klamotten so trocken..? Moment mal, du bist ja auch noch trocken“, stellte sie überrascht fest.
„Ich bin immer noch ein Wassermagier“, bemerkte Raymond lächelnd, „Und ein ziemlich Guter, wie ich meine.“
„Angeber“, sagte Theresa nur. Sie wagte es sich etwas näher an ihn zu kuscheln. Die Wärme, die er ausstrahlte, war einfach zu verlockend und nachdem sie zuvor so lange gefroren hatte, war die Wärme äußerst angenehm. Außerdem fühlte sie sich in seiner Nähe nach wie vor sehr wohl. Bei ihm hatte sie nie das Gefühl, sich verstellen zu müssen und nachdem ihr klar geworden war, dass sie Fynn liebte, konnte sie in dessen Nähe nicht mehr so sorglos sein. Auch wenn sie wusste, dass es schon wieder selbstsüchtig war, wollte sie Raymond in ihrer Nähe haben. Sie fühlte sich bei ihm so geborgen wie nirgendwo sonst.
Raymond war angesichts ihrer unerwarteten Reaktion ein wenig überrascht, doch dann strich er ihr sanft über das inzwischen getrocknete, goldbraune Haar und zog sie noch näher an sich. Auch wenn er wusste, in wen sie wirklich verliebt war, konnte er nicht anders. Auch wenn er wusste, dass er am Ende verlieren und ihr im Kampf wahrscheinlich sogar gegenüberstehen würde, konnte er sie nicht abweisen oder gar hassen. Es war einfach unmöglich.
Eine Weile blieben sie so, doch dann fing Raymond auf einmal an zu kichern. Daraus wurde innerhalb weniger Sekunden ein ausgewachsenes Lachen und Theresa kam sich in seinen Armen vor wie in einem Auto auf einer Schotterpiste. Sie wurde ganz schön durchgeschüttelt.
„Tut mir leid“, kicherte Raymond und ließ Theresa etwas Abstand nehmen. Dann fing er schon wieder an laut zu lachen und Theresa sah ihn nur stirnrunzelnd an. Wieso fing er aus heiterem Himmel an zu lachen?
Raymond keuchte inzwischen schon vom Lachen und schüttelte nur den Kopf.
„Dürfte ich langsam auch mal erfahren, was so lustig ist?“, fragte Theresa etwas resigniert.
„Tut mir leid“, sagte Raymond und atmete einmal kurz tief ein um sich endlich zu beruhigen, was aber nicht so ganz gelingen wollte. Sein Grinsen reichte immer noch von einem Ohr zum anderen. „Ryszard will nur gerade übernehmen.“
Theresa sah ihn beinahe fassungslos an. „Und was ist daran bitteschön witzig?“
Raymond musste schon wieder kichern. „Dass du der Grund dafür bist. Er hat einen Narren an dir gefressen, alle Achtung.“
„Noch mal für Dumme bitte“, sagte Theresa etwas verwirrt. Was war jetzt wieder mit Ryszard los?
„Ich glaube, du hast ihn ganz schön beeindruckt“, sagte Raymond grinsend, „Anscheinend ist er bisschen in dich verknallt...“
Er brach erneut in schallendes Gelächter aus, während Theresas Augenbrauen eine starke Tendenz nach oben bekamen. Ryszard sollte sich in sie verliebt haben? Wo er sie doch vor einer Weile erst noch am liebsten umbringen wollte? Entweder hatte Raymond einen Schaden oder Ryszard war noch unberechenbarer als sie erwartet hatte.
„Er will mir gerade am liebsten den Hals umdrehen“, sagte Raymond nur grinsend und unterdrückte mit Mühe einen erneuten Lachanfall, „Und wie er mich verflucht.. einfach herrlich.“
Theresa schüttelte nur lächelnd den Kopf. Was sollte sie dazu auch sagen? Außer, dass sie froh war Raymond wieder lachen zu sehen. Da fühlte sie sich auch gleich viel besser. Als hätte sich seine Verzweiflung auch auf sie aus-geschlagen. Es war zwar ein wenig komisch, doch Theresa musste bei dem Gedanken daran, dass ein eigentlicher Mörder, der auch noch einen Hang zum Playboy hatte, in sie verknallt war, ebenfalls lachen. Die Vorstellung war einfach zu absurd.
„Hey, du lachst ja endlich auch wieder“, sagte Raymond nach einer Weile, in der sie gelacht hatten, grinsend, „Und mir ist gerade ein passender Spitzname eingefallen.“
„Was bitte?“ Theresa zog eine Augenbraue hoch und runzelte gleichzeitig die Stirn. Sie wollte nicht wissen, wie das aussah.
„Ein Spitzname“, sagte Raymond schmunzelnd, „Tessy passt nicht zu dir und klingt für meinen Geschmack viel zu sehr nach Tussy. Ich hab einen Besseren.“
„Ach ja?“
„Natürlich“, sagte Raymond grinsend, „Oder was hast du erwartet?“
Theresa schwieg absichtlich.
„Was ist?“
„Nun rück schon raus mit der Sprache“, sagte Theresa mit einem schiefen Lächeln, „Wie lautet dein komischer Spitzname für mich?“
„Ach, interessiert es dich doch?“, fragte Raymond.
„Ja verdammt“, sagte Theresa und wusste nicht, ob sie jetzt stöhnen oder lachen sollte.
„Das ist ja schön.“
„Ich habe das Gefühl, du willst ihn mir gar nicht verraten.“
„Wie kommst du denn auf die Idee?“
Theresa seufzte und stand auf. „Na schön, du hast gewonnen. Wir sollten uns aber langsam mal auf den Weg machen.“ Sie ging in Richtung Straße, auch wenn sie erstmal diese Sackgasse verlassen mussten.
„Warte, Resa“, sagte Raymond lächelnd und kam eben-falls auf die Füße.
„Resa?“ Theresa drehte sich etwas überrascht um.
„Ja“, grinste Raymond nur, „Kurz und knackig, aber trotzdem süß, einfach perfekt.“
Theresa schüttelte lächelnd den Kopf und ging weiter. „Danke.. Ray.“
Raymond blinzelte überrascht, doch dann machte er sich daran ihr zu folgen.
Als die beiden endlich ein Taxi gefunden hatten, das sie zum Internat zurück fuhr, war es bereits nach neun Uhr. Raymond saß auf der Rücksitzbank und sah Theresa an, die mit dem Kopf auf seiner Schulter eingeschlafen war. Der Tag heute war wohl wirklich ein bisschen zu viel für sie gewesen.
„Eine nette Freundin hast du da“, sagte der Taxifahrer auf einmal lächelnd. Er schien ziemlich gesprächig zu sein, wie Raymond zuvor schon aufgefallen war.
Er seufzte allerdings nur und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht ihr Freund. Der sitzt fest und kann nicht weg, deswegen bring ich sie zurück.“
„Komisch.. und ich hätte drauf wetten können“, sagte der Fahrer leicht überrascht und konzentrierte sich dann netterweise wieder auf den Straßenverkehr.
Raymond sah nur aus dem Seitenfenster. Die dahinflie-gende Landschaft wurde immer noch durch einen dichten Regenschleier verhangen. Irgendwie musste er aber schief lächeln. Den Kampf um Theresa hatte er bereits damit verloren, dass er die ersten Wochen nach ihrer Ankunft krank im Bett gelegen hatte. Und daran konnte er auch nichts mehr ändern. Doch wenigstens schien sie das mit ihren Freundinnen einigermaßen verkraftet zu haben, darüber war Raymond ja schon froh. Froh, dass sie schon wieder lächeln und sogar lachen konnte, denn das stand ihr immer noch am besten.
Lächelnd strich er eine Strähne aus Theresas Gesicht, die ihr über die Schulter gefallen war. Auch wenn der Augen-blick verlockend war, konnte Raymond sich nicht dazu durchringen, Theresa zu küssen oder ihr noch näher zu kommen. Zwar hatte er das bereits einmal getan, in der anfänglichen Hoffnung, dass sie sich trotz allem ihm zuwenden würde, doch zu dem Zeitpunkt war sie wach gewesen. Es war unfair so etwas zu tun, wenn sie schlief und nicht mal protestieren konnte. Außerdem gehörte ihr Herz immer noch Fynn.
Eine gute halbe Stunde später setzte das Taxi sie vor dem Internatsgebäude ab und Raymond bezahlte noch schnell den Fahrer. Theresa stand im Halbschlaf neben ihm und hätte er sie nicht an den Schultern festgehalten, wäre sie wahrscheinlich einfach umgekippt und eingeschlafen. Doch bevor das passierte, schob Raymond sie lieber durch den Haupteingang. Es war ziemlich hell in dem großen Flur und er verzog kurz das Gesicht, ehe er Theresa weiter schob und hoffte, dass sie nicht doch noch auf die Idee kam, im Stehen einzuschlafen.
„Wo kommt ihr denn her?“, fragte Mr Jukashni, der plötzlich aus einer Tür rechts von ihnen kam.
Raymond blieb stehen und hielt Theresa fest, die ansons-ten schwankend weiter gegangen wäre. Mr Jukashni hob nur eine seiner Augenbrauen, als er sah, dass Theresa im Halbschlaf an Raymond lehnte.
„Es tut uns leid, dass wir erst jetzt kommen“, sagte Raymond, „Aber es ist schon spät und wir sind müde. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn wir die Anhörung auf morgen verschieben könnten.“
„Was habt ihr so lange gemacht?“, fragte Mr Jukashni erbarmungslos und misstrauisch zugleich. Sein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her und der Umstand, dass beide trockene Klamotten hatten, obwohl der Regen noch nicht nachgelassen hatte, stimmte ihn anscheinend noch misstrauischer.
Raymond bemerkte, in welche Richtung die Gedanken von dem Lehrer gingen. Was er gerade dachte, obwohl er keinen Beweis hatte. Das konnte Raymond nicht so ganz glauben. „Sagen Sie mal, für wie stillos halten sie mich eigentlich?“, fragte Raymond daraufhin nur empört, „Hätten wir DAS gemacht, wären wir nicht vor morgen Mittag wieder hier.“
Mr Jukashni sah ihn schockiert an und auch Theresa, die durch den kurzen Wortwechsel wieder einigermaßen wach geworden war, entglitten die Gesichtszüge. Erstens wegen dem absurden Verdacht ihres Lehrers, zweitens wegen Raymonds ziemlich abgedrehten Kommentar dazu.
„Theresa!“
Sie und Raymond sahen zur Treppe, an der plötzlich die ganze Gruppe aufgetaucht war. Nicole, Jessica, Vanessa, Alicia, Fynn und Nathaniel standen alle dort und sahen sie mehr oder weniger verdattert an.
„Hey Leute“, sagte Theresa und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie hatte noch gar nicht richtig mitbekommen, dass sie wieder im Internat waren. Wahrscheinlich war sie im Taxi eingeschlafen, aber so ganz erinnern konnte sie sich daran nicht. Richtig erinnern konnte sie sich eigent-lich nur noch daran, dass Raymond ihr ihre Brille gereicht hatte, die er vom Boden aufgehoben hatte, wo sie durch Ryszards Ohrfeige gelandet war, bevor sie ins Taxi gestiegen waren.
Die anderen kamen daraufhin zu ihnen gelaufen und der Lehrer war vergessen. Raymond und Theresa wurden umringt und Mr Jukashni verzog sich kopfschüttelnd wieder.
„Ist alles in Ordnung Theresa?“, fragte Nicole besorgt.
„Wie geht es dir?“, fragte Vanessa und auch sie klang leicht bestürzt.
„Nimm das mit deinen Freundinnen nicht so schwer“, sagte Jessica mitfühlend, „Das sollte nicht sein, also bitte sei nicht so traurig.“
„Und lauf vor allem nicht wieder weg“, sagte Fynn sorgenvoll, „Wir haben uns furchtbare Sorgen um dich gemacht.“
„Mein Bruder hat recht“, sagte Alicia, „Du darfst dir das nicht so zu Herzen gehen lassen. Das Leben geht weiter...“
Nathaniel seufzte in dem Moment nur lächelnd. „Will-kommen zurück ihr zwei.“
Die anderen fünf sahen ihn schon beinahe schockiert an.
„Danke Nathaniel“, sagte Raymond, „Bei dem Andrang kommt man ja nicht mal zu Wort.“
„Tut uns leid, dass ihr euch Sorgen gemacht habt“, sagte Theresa lächelnd, „Und worüber habt ihr eigentlich gerade gesprochen?“
Die vier Mädchen, Fynn, Nathaniel, und auch Raymond im ersten Moment, sahen sie verdattert an. Dann warfen sie einander verwirrte Blicke zu und runzelten die Stirn.
„Wir reden von der Sache mit Clare und Leah“, sagte Fynn ein wenig unsicher.
„Du warst doch vollkommen durch den Wind“, bemerkte Nicole verwirrt.
Theresa musste erst einen Augenblick lang überlegen. Dann aber fiel ihr aber der eigentliche Grund für ihren stundenlangen Lauf durch die Straßen und Gassen wieder ein und ihr Lächeln wurde ein wenig schief. „Hups, das hab ich bei dem Trubel zu Letzt ganz vergessen“, sagte sie musste über sich selber kichern. Es war schon bescheuert. Als ob das etwas zum Lachen wäre. Doch durch die Erkenntnis, dass sie auch selber Schuld hatte, fiel es ihr jetzt nicht mehr so schwer darüber nachzudenken. Es war schon ein wenig traurig, doch sie würde darüber hinweg kommen.
Die anderen sahen sie unterdessen beinahe fassungslos an. Irgendetwas stimmte doch nicht. Was war so plötzlich mit Theresa los?
„Ist.. alles in Ordnung?“, fragte Vanessa vorsichtig und mit einer hochgezogenen Augenbraue.
Theresa zog die Stirn kraus. „Warum denn nicht?“
Fynn trat währenddessen neben Raymond und sah ihn von der Seite an. „Was hast du mit ihr gemacht?“
„Ich bin unschuldig“, sagte Raymond und hob beide Hände, als ob er zeigen wollte, dass er unbewaffnet war. Dann legte er den Kopf schief. „Zum Teil jedenfalls...“
Fynns Augen wurden schmal.
„Was flüstert ihr zwei da?“, fragte Theresa, „Ihr fangt doch nicht etwa schon wieder an zu streiten? Könntet ihr das nicht langsam mal lassen?“
„Unmöglich.“ Raymond grinste.
„Nicht in diesem Leben“, sagte Fynn nur.
Theresa schüttelte lächelnd den Kopf. „Na schön, wenn es euch so einen Spaß macht zu streiten, aber bitte über-treibt es nicht.“ Sie sah dann zu dem Rest der Gruppe. „Und keine Sorge, mir geht es bestens. Das mit Clare und Leah.. Wie ihr schon gesagt habt, es sollte nicht sein. Außerdem habe ich doch jetzt Freunde. Oder täusche ich mich?“
Die Gesichter der Mädchen sahen köstlich aus und Theresa konnte sich nur sehr knapp ein Lachen verknei-fen. Ihnen allen sah man ihre Überraschung deutlich an. Dann lächelten sie jedoch wieder.
„Natürlich sind wir Freunde“, sagte Nicole.
„Würden wir uns sonst mit so einem Sorgenkind wie dir abgeben?“, fragte Jessica grinsend.
„Schön dass du es überwunden hast“, bemerkte Vanessa und lächelte leicht.
„Du bist mir wirklich so eine Wunderkiste“, sagte Alicia schmunzelnd und schüttelte den Kopf, „Da macht man sich die ganze Zeit über sonst wie viele Sorgen und du tauchst lächelnd wieder auf und verkündest, dass mit dir alles klar ist. So was wie dich habe ich wirklich noch nicht gesehen.“
„Danke für das Kompliment“, sagte Theresa lächelnd, „Und danke euch allen dafür, dass ihr mir so viel geholfen habt. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch gemacht hätte.“
Sie drehte sich noch mal zu Fynn und Raymond um. „Und ganz besonders danke ich dir Fynn. Ohne dich würde ich wahrscheinlich immer noch Amok laufen, hättest du mir nicht klar gemacht, dass es so nicht weiter gehen kann. Du hast so viel für mich getan und dafür möchte ich dir danken.“
Fynn sah sie reichlich überrascht an und eine ganz leichte Röte war in seinem Gesicht zu sehen.
Theresa sah Raymond auch noch mal kurz lächelnd an, dann schob sie die Mädchen in Richtung Treppe. „Und jetzt möchte ich ins Bett. Ich schlaf gleich im Stehen ein und ihr seid bestimmt auch müde, reden wir also morgen weiter.“
Fynn sah ihr einen Moment lang noch überrascht hinterher, dann schüttelte er schnell den Kopf. Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah er zu Raymond. „Was hast du mit ihr gemacht?“, wiederholte er seine Frage, „So fröhlich habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen.. und sie scheint sich irgendwie verändert zu haben.“
Raymond war ein wenig überrascht, da Fynn ausnahms-weise mal vergessen hatte feindselig zu klingen. Dann zuckte er aber nur lächelnd mit den Schultern und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Wer weiß?“
„Wie wäre´s wenn du dich mal bedanken würdest? Schließlich ist das mein Verdienst“ meldete Ryszard sich auf einmal etwas wütend zu Wort.
Danke Raymond musste irgendwie lächeln.
Ryszard schien von der so einfach gegebenen Antwort jedoch reichlich überrascht zu sein, denn er schwieg zur Abwechslung mal.
Nachdem Raymond und Theresa am nächsten Morgen den Lehrern erklärt hatten, warum sie gestern erst um fast zehn Uhr im Internat angekommen waren - wobei Raymond eigentlich derjenige war, der sprach - durften sie in ihre Klasse gehen. Raymond hatte sich gestern Abend noch eine zumindest einigermaßen glaubwürdige Geschichte ausgedacht, was gestern passiert war, und Theresa einen Zettel gereicht. Während des Unterrichts sollte sie sich die Geschichte einigermaßen einprägen, damit sie den ande-ren nicht verschiedene Geschichten erzählten. Es musste schließlich nicht jeder wissen, was passiert war, da sie auch nicht wussten, wer von den anderen nun ein Gesandter war und wer nicht.
Beim Mittagessen im Café erzählte Theresa ihren drei Freundinnen, Alicia und Fynn, was angeblich passiert war. Fynn sah man an, dass er ihr nicht so ganz glaubte, aber die anderen kauften ihr die Geschichte ab. Eigentlich behagte es Theresa auch ganz nicht sie anzulügen, aber Raymond hatte schon Recht. Wenn nun auch nur eine von den drein kein Gesandter war, würde es für ziemliches Chaos sorgen, wenn Theresa auf einmal von Ryszard redete. Auf dem Weg in ihr Zimmer fing Fynn Theresa dann allerdings ab.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass ihr die ganze Zeit in einem Café gesessen habt“, sagte Fynn ernst und leicht besorgt zugleich, „Was hat Raymond mir dir gemacht?“
„Es ist nichts passiert und er hat gar nichts mit mir gemacht“, sagte Theresa und musste irgendwie schief lächeln, „Ryszard hat mich ein wenig in die Mangel genommen, aber das war...“
„Ryszard?!“ Fynn wirkte beinahe fassungslos.
„Ja“, sagte Theresa nur ein wenig überrascht.
„Ich fass es nicht“, sagte Fynn aufgebracht und entgeis-tert zugleich, „Dieser Raymond hat schon wieder die Kontrolle verloren. Wenn ich ihn in die Finger kriege...“
„Fynn.“ Theresa und sah ihn leicht verwirrt an. „Es ist alles in Ordnung, ich bin in keinster Weise verletzt und Ryszard hat mir nichts getan.. abgesehen von der Ohrfeige vielleicht, aber es ist alles in Ordnung.“
„Irgendetwas muss Raymond mit dir gemacht haben“, sagte Fynn misstrauisch, „Nach dem ersten Aufeinander-treffen mit Ryszard kann kein Mensch so gelassen sein. Weißt du eigentlich, dass Ryszard ein ruchloser Mörder ist?“
„Ja“, antwortete Theresa, „Schon lange.“
Fynn entgleisten beinahe die Gesichtszüge.
Theresa fiel das natürlich auf und ihr fiel ein, woher diese für ihn so untypische Fassungslosigkeit rührte. „Ich weiß, was an dieser Schule vorgeht.. Nathaniel hat mir alles über den Kampf zwischen den Gesandten erzählt, nachdem ich das erste Mal gesehen habe, wie Ryszard die Kontrolle übernommen hat. Ich weiß auch, dass ich angeblich diese Kyra sein soll.“
Fynn brauchte eine Weile, ehe er seine Gesichtszüge wieder eingesammelt hatte. Er schien noch nicht mal geahnt zu haben, dass Theresa bescheid wusste.
Irgendwie musste sie über sein verdattertes Gesicht lächeln. „Und noch mal, mir geht es gut. Ob du es glaubst oder nicht, Ryszard hat mich in gewisser Hinsicht sogar gerettet, auch wenn das nicht unbedingt seine Absicht war.“
Fynn sah sie immer noch mehr oder weniger fassungslos an. „Hast du keine Angst vor dem, was passieren wird? Ist dir eigentlich klar, dass der Ausgang dieses Kampfes von dir abhängt?“
„Ein wenig mulmig ist mir schon zumute, wenn ich daran denke, dass ich mich irgendwann für die eine oder die andere Seite entscheiden muss“, sagte Theresa und lächelte ein wenig schief, „Aber wenn ich das richtig verstanden habe, habe ich noch etwas Zeit. Außerdem weiß ich noch nicht mal, ob ich mich entscheiden könnte.. man wird sehen, was kommt. Ich weiß es jedenfalls nicht.“
„Du hast dich verändert“, sagte Fynn. Er schien immer noch überrascht, aber vor allem verblüfft zu sein.
„Schon möglich“, sagte Theresa lächelnd, „Das haben Menschen so an sich.“
Fynn musste irgendwie ebenfalls lächeln. Er kam auf sie zu und nahm sie auf einmal in den Arm. Theresa war ein wenig überrascht, doch sie ließ es zu. Sie war inzwischen froh auf diesem Internat zu sein. Hier war ihr einiges klar geworden und sie hatte viele neue Freunde gefunden. Es waren noch nicht mal volle drei Monate vergangen, doch ihr altes Leben schien so weit zurückzuliegen, es kam ihr vor als wären Jahre vergangen. Es war so vieles passiert und mittlerweile war ihr auch egal, aus welchem Grund ihre Mutter sie hier her geschickt hatte. Es war nicht mehr wichtig. Andere Dinge als das Verlassen des Internats hatten sich inzwischen in den Vordergrund geschoben.
Raymond lehnte um die Ecke an der Wand und sah an die hohe Decke. Es kam selten vor und obwohl er Fynn nicht ausstehen konnte, beneidete er ihn. Jedenfalls beneidete er ihn um Theresa. Ein solches Mädchen gab es nirgendwo sonst. Sie hatte einfach etwas, das andere anzog. Wenn selbst Ryszard sie irgendwie mochte, auch wenn er sich selbst dafür verfluchte, war Theresa wirklich etwas Besonderes. Nicht nur weil sie die Kyra war, sondern weil sie einfach ein besonderes Mädchen war. Eines, das Raymond wohl nie vergessen konnte, selbst wenn sie sich im Kampf der Gesandten gegen ihn stellte.
„Nun geh endlich dazwischen, das kann man ja nicht mitansehen!“ sagte Ryszard auf einmal wütend.
Das hättest du wohl gerne. Ich hab gerade keine Lust dazu, also verzieh dich wieder erwiderte Raymond nur gelassen.
„Na warte, bis ich wieder die Kontrolle habe“ drohte Ryszard aufgebracht.
Das wird nicht so bald sein, also gib endlich Ruhe.
„Glaubst du, ich höre auf einen Nichtsnutz wie dich?“
Ja, das ist immer noch mein Körper, und jetzt halt endlich den Mund.
„Das hättest du wohl gerne!“
Ja, das hätte ich gerne, du Nervensäge. Raymond seufzte nur und machte sich auf den Weg ins Café. Dieser lautstarke Mitbewohner ging ihm manchmal wirklich auf die Nerven.
Der nächste Morgen verlief wieder ganz normal. Der Unterricht wurde wie üblich mit eiserner Härte voran-getrieben und viele stöhnten immer wieder gerne mal, weil es langsam ziemlich schwer wurde. Theresa blickte dem nur gelassen entgegen. Die Standpauke von Ryszard, die sie wahrscheinlich eigentlich hatte verletzen sollen, hatte ihr irgendwie gut getan. Auch wenn er es nicht direkt angesprochen hatte, war ihr klar geworden, wie gut es ihr hier mittlerweile ging. Wie schön sie es hier hatte.
„Du siehst aus wie ein Honigkuchenpferd“, bemerkte Raymond nach dem Unterricht grinsend.
Theresa sah ihn etwas überrascht an, doch sie nickte nur lächelnd. Zurzeit konnte es ja schließlich auch nicht besser sein.
Raymond schüttelte nur den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass Ryszard mal zu etwas gut sein könnte.“
„Ich auch nicht“, gab Theresa schmunzelnd zu.
Auch Raymond grinste.
„Ihr scheint euch ja blendend zu verstehen.“ David stand neben den beiden und sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Sein kurzes rotes Haar hatte er heute anscheinend ein wenig geglättet, auch wenn es nicht viel gebracht hatte.
„Warum denn nicht?“, fragte Raymond sofort grinsend, „Willst du dich auch so gut mit unserem Honigkuchen-pferd verstehen?“
„Hey!“, sagte Theresa etwas empört. Sie war doch kein Honigkuchenpferd.
„Eh? Halt die Klappe du Spinner“, sagte David und sah schnell zur Seite.
Raymond lachte nur leise. „Leisten du und deine drei Freundinnen uns heute Gesellschaft, Resa?“
„Ich muss die anderen zwar noch fragen, aber ich denke schon“, sagte Theresa lächelnd.
Sie ging gemeinsam mit Raymond und David zum Café. Auf halbem Weg trafen sie Nathaniel und im siebten Stock sammelten sie noch Nicole, Jessica und Vanessa ein, die nichts dagegen hatten heute am Tisch von Raymond, Nathaniel und David zu sitzen.
Nach dem Essen brachten die sieben ihr Geschirr weg und setzten sich wieder auf ihre Plätze. Kaum fünf Meter weiter stand der Tisch von Fynn und Alicia, die gerade wieder mal dabei war einige Mädchen zu vertreiben. Die Geschwister seufzten beide als sie endlich wieder ihre Ruhe hatten und Theresa konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wie Fynn schon gesagt hatte, Beliebtheit hatte auch so seine Nachteile.
Eine Weile lang plauderten Theresa und die anderen sechs am Tisch einfach munter aus dem Nähkästchen und diskutierten über dies und das und jenes. Raymond und Nathaniel mussten nur zwischendurch immer wieder einige etwas aufdringliche Mädchen vertreiben, aber das war schon alles.
Dann wurde aber auf einmal die zuvor geschlossene, etwas größere Doppeltür aus schwerem Holz aufgestoßen und ein Mädchen betrat das Café. Die zuvor laufenden Gespräche in dem weitläufigen Raum verstummten bei-nahe auf einen Schlag und alle sahen zu der Tür. Theresa und die anderen hatten einen Platz nahe dem Fenster, fast gegenüber der Tür. Daher konnten sie das Mädchen ganz gut sehen, das sich suchend umsah. Es hatte ziemlich lange, brünette Haare und trug natürlich die Uniform des Internats. Außerdem trug es auf der Nase noch eine Brille und schien grüne Augen zu haben.
Als Theresa nach links neben sich blickte, sah sie verwirrt, dass Raymond wie fest gefroren da saß und auch Nathaniel wirkte leicht geschockt. In dem Moment stapfte das Mädchen auf einmal in ihre Richtung und blieb direkt vor ihrem Tisch stehen. Es hatte anscheinend ungefähr Theresas Größe und schien auch so um die sechzehn zu sein. Es starrte Raymond an.
„Hier steckst du also, ich hab dich schon überall gesucht!“, sagte es und sah Raymond dabei scharf an, „Du solltest mich doch herumführen. Weißt du eigentlich, wie oft ich mich verlaufen habe, bis ich endlich den Weg hier her gefunden habe?!“
Raymond saß immer noch stocksteif da und schien sich kaum rühren zu können.
Dann fiel der Blick des Mädchens ein Stück weiter nach links zu Nathaniel. „Und was ist mit dir?! Du wusstest doch auch, dass ich heute komme. Hättest du ihn nicht daran erinnern können?“
Nathaniel blieb ebenso stumm wie Raymond. Beide starrten nur geradeaus und schienen sich gerade an einen anderen Ort zu wünschen.
„Hallo? Hat es euch beiden die Sprache verschlagen oder was?!“, fragte das Mädchen dann genervt.
Nathaniel schien einen Augenblick lang um seine Fassung ringen zu müssen, dann atmete er kurz tief ein. „Hallo Nadine, schön dass du wieder gesund bist.“
„Na wenigstens einer redet noch mit mir“, sagte das Mädchen mit Namen Nadine kopfschüttelnd, „Und was ist mit dir Raymond? Willst du mich nicht wenigstens mal begrüßen?“
Raymond atmete hörbar aus. „Hallo.“
„Hast du nicht ein paar mehr Worte für mich übrig?“, fragte Nadine nur beleidigt, „Es ist schließlich schon eine ganze Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Raymonds Mundwinkel schien zu zucken. „Es waren noch nicht mal vier Wochen und außerdem war dein Bruder doch auch da.“
„Marcus ist aber nicht du“, erwiderte Nadine und verschränkte die Arme vor der Brust, „Das klingt ja fast so, als ob es dir am liebsten wäre, wenn ich gleich wieder gehen würde.“
Raymonds resigniertes Gesicht zeigte, dass ihm das wirklich am liebsten wäre und selbst Nathaniel sah so aus, obwohl man ihm seine Gedanken sonst auch nicht vom Gesicht ablesen konnte. Er schien Raymonds Meinung zu teilen.
Nun fiel Nadines Blick auf die übrigen vier Mädchen am Tisch. „Wer seid ihr denn? Raymonds Dienerinnen?“
Theresa entgleisten beinahe die Gesichtszüge. „N-Nein, wir sind Bekannte.“
„Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass wir ihm dienen?“, fragte Vanessa leicht empört, „So eine schwach-sinnige Frage habe ich ja noch nie gehört.“
„Raymond?“ Der scharfe Blick von Nadine richtete sich nun wieder auf Raymond, der bei seinem Namen leicht zusammenzuckte. Er starrte mit nach wie vor leicht entgleisten Gesichtszügen auf die Tischplatte.
Dann rammte Nadine jedoch auf einmal ihre Handfläche auf den Tisch. „Erklär dich Raymond! Was ist hier los?“
Theresa fiel derweil der schöne, goldene Ring an Nadines rechtem Ringfinger auf. Zwar war Theresa sich nicht sicher, aber wenn sie sich nicht täuschte, wurden doch eigentlich nur Eheringe an dem rechten Ringfinger getragen. Doch Theresa schüttelte innerlich nur den Kopf. Nadine konnte noch nicht verlobt oder gar verheiratet sein, dafür war sie noch viel zu jung.
„Wie sie schon gesagt hat, die vier hier sind gute Bekannte“, sagte Raymond und verdrehte unauffällig die Augen.
„Sooo?“ Nadine sah misstrauisch in die Runde.
In dem Moment knarrte ein Stuhl und Fynn stand auf. Dadurch, dass es immer noch so gut wie totenstill in dem großen Raum war, weil sich niemand traute auch nur ein Wort zu sagen, konnte man bald jedes noch so leise Geräusch hören. Fynn ging mit wenigen Schritten zum Tisch von Raymond und Alicia kam ebenfalls herüber.
„Wir stören nur ungerne“, sagte Fynn, „Aber wir wären dir, Nadine, sehr dankbar, wenn du ein bisschen weniger Aufmerksamkeit erregen würdest. Hier sind noch ein paar andere Schüler, die sich durch dein rücksichtsloses Verhal-ten gestört fühlen. Wenn du unbedingt mit Raymond reden willst, solltet ihr das vor der Tür machen.“
„Ach, der aufgeblasene Sohn des Internatsinhabers, Fynn, wenn ich mich nicht täusche“, sagte Nadine nur unbeeindruckt.
Fynn verlor für vielleicht eine Sekunde vollkommen die Fassung. Dann schien er den Ärger über diese respektlose Behandlung herunterzuschlucken. „Fynn Windhall, ja.“
„Alicia Windhall“, machte nun seine Schwester auf sich aufmerksam, „Und wie kommst du überhaupt dazu, dich so aufzuführen? Wir sind hier auf einem Internat und nicht bei einer Ausscheidung zur Miss Oberrespeklos. Hier ist etwas, das man als Höflichkeit bezeichnet, gerne gesehen und ein bisschen was davon könnte dir auch nicht schaden.“
„Von dir habe ich ja noch nie etwas gehört“, sagte Nadine, „Und wisst ihr eigentlich, wer ich bin?“
„Heute Morgen war die Zeit ein wenig knapp“, sagte Fynn mühsam beherrscht, „Von unserem Vater wissen wir nur, dass eine gewisse Nadine erst heute ankommt, weil sie zuvor mit einer Grippe im Bett gelegen hat.“
„Richtig, wenn auch nicht ganz vollständig“, sagte Nadine grinsend, „Hat Raymond denn noch nichts von mir erzählt?“
Fynn sah bloß entnervt zu Raymond, der seinen Blick ebenso genervt erwiderte. Theresa, Nicole, Jessica, Vanessa und alle anderen Schüler in dem weitläufigen Raum sahen nur sprachlos zu den einzigen vier Personen, die noch sprachen. Niemand hatte eine Ahnung, was hier los war.
„Tja, dann wollte er es wohl als Überraschung geheim halten“, sagte Nadine nun grinsend, „Ich bin Raymonds Verlobte und mein voller Name ist Nadine Kyra!“ Damit nahm sie die stark getönte Brille ab, sodass man ihr hellgrünes und ihr tief grünes, fast braunes Auge klar voneinander unterscheiden konnte.
Raymonds Gesichtszüge entgleisten bei Nadines Nach-namen erneut. Fynn, Alicia und wahrscheinlich alle aus dem Café im neunten Stock sahen vollkommen verdattert zu Raymond. Theresa sah allerdings zwischen den beiden hin und her. Sie wusste nicht, wen sie zuerst anstarren sollte.
„Ihr.. seid verlobt?“, fragte Jessica nach einer Weile der fassungslosen Stille.
Raymond biss sich auf die Lippe und seufzte deutlich hörbar, doch dann nickte er einmal.
Daraufhin sahen wieder alle zu Nadine. Dann wanderten jedoch erst Raymonds, dann Fynns, Alicias, Nathaniels und auch Nicoles, Jessicas und Vanessas ziemlich verwirrte Blicke zu Theresa.
Diese starrte nur Nadine an. Nadine Kyra.
„Was ist los? Hat es euch die Sprache verschlagen?“, fragte Nadine grinsend, „Und warum seht ihr zu dem Mädchen?“
Raymond sah kurz zwischen Nadine und Theresa hin und her, dann sagte er nur ernst: „Theresa, nimm deine Bullaugen ab.“
Theresa war viel zu entgeistert, um sich über den Namen ihrer Brille aufzuregen. Sie nahm die Brille mit den leicht getönten Gläsern langsam ab und erwiderte unsicher Nadines Blick.
In dem Moment entgleisten auch Nadine die Gesichts-züge. Sie starrte Theresa fassungslos an. Alle, die an diesem Tisch standen und den Unterschied zwischen Theresas und Nadines Augen sahen und wussten, was das bedeutete, starrten die beiden Mädchen ebenso entgeistert an. Was ging hier vor?
„D-D-Das ist eine Betrügerin!“, rief Nadine nach einer Weile verwirrt, „Ich bin die Kyra! Ich!“
„Eh...?“ Theresa wusste nicht, ob und was sie darauf erwidern sollte. Nadine, die Verlobte von Raymond, war die Kyra? Ihre konfusen Gedanken konnte Theresa nicht zur Ordnung bewegen. Allerdings fragte sie sich, wie es sein konnte, dass sie, wenn Nadine die Kyra war, auch zwei verschiedenfarbige Augen hatte? Und überhaupt, hieß es nicht, sie sei die Kyra? Theresa war unfähig etwas zu sagen.
„Äh...“ Auch Fynn schienen die Worte zu fehlen. „Ich.. weiß ehrlich gesagt nicht, was hier los ist.“
„Das wüsste ich auch gerne“, sagte Alicia ungläubig.
„Nadine Kyra und Theresa Kyrashni“, sagte Nathaniel leise, „Und beide haben dieselben Merkmale.“
Raymond schien gar nichts mehr herausbringen zu können. Seine vollkommene Fassungslosigkeit ähnelte der von Theresa, nur taten sich in ihm noch ein ganzes paar mehr Fragen auf, da er auch die genaue Geschichte kannte und wusste, dass es noch nie zwei Kyras gegeben hatte. Was war hier also los? Außerdem war ihm nie zuvor aufgefallen, dass Nadine die Merkmale der Kyra aufwies. Sie hatte zwar auch bei ihren Besuchen zuvor schon eine Brille getragen, doch sie hatte immer gesagt, dass sie ohne Brille nicht besser sah als ein Maulwurf. Ihm war kein einziges Mal aufgefallen, dass ihre Augen unterschied-liche Farben hatten.
„Das kann unmöglich sein“, sagte Nadine nun wieder zornig, „Sie muss farbige Kontaktlinsen tragen! Meine Familie trägt schon seit Generationen den Namen Kyra und es ist unmöglich, dass es eine weitere gibt. Ich bin das einzige Kind dieser Generation, ich bin die Kyra!“
Es herrschte eine ganze Weile lang Schweigen im Café im neunten Stock, bis Nathaniel es schließlich brach: „Ich glaube, wir verschieben diese Diskussion auf ein anderes Mal. Da keiner von uns genau weiß, was hier los ist, ist es am besten, wenn wir alle eine Nacht drüber schlafen.“
„Wieso? Ich weiß doch, was hier los ist“, sagte Nadine aufgebracht, „Sie ist eine gemeine Betrügerin, die euch alle zum Narren hält!“
Nathaniel seufzte. „Es gibt einige Möglichkeiten, aber deine Vermutung ist nicht die Antwort und du solltest nicht so schnell mit deinem Urteil sein, wenn du noch nicht mal die Umstände kennst.“
„Verflucht Nathaniel, hat sie dich etwa auch verdreht?“, fragte Nadine wütend, „Das gibt´s doch echt nicht! Raymond, sag mir nicht, dass du ihr auch glaubst.“
„Ich würde es vorziehen, erstmal zu wissen, was hier eigentlich vor sich geht“, sagte Raymond und stand auf, „Aber ich glaube, dass sie auf jeden Fall etwas mit der Kyra zu tun hat.“
Nathaniel stand ebenfalls auf und schob die wild fluchende und zeternde Nadine wieder aus dem Café. Raymond schien nicht wirklich zu wollen, doch er blieb neben Nathaniel und verließ das Café ebenfalls. Es dauerte eine ganze Weile, bis die ersten Gespräche wieder einsetzten und das auch nur stockend und für die sonstigen Verhältnisse leise. Schließlich sahen sich auch Nicole, Jessica, Vanessa und Theresa unschlüssig an.
„Eine zweite Kyra“, sagte Vanessa ungläubig.
„Das ist doch eigentlich unmöglich.“ Nicole schüttelte den Kopf.
„Höchst interessant“, kommentierte Jessica, auch wenn sie ebenfalls noch ziemlich überrascht klang.
„Moment mal“, sagte Theresa stockend, „Ihr.. seid alle...“
Die drei sahen sich etwas überrascht an und ihnen schien erst jetzt aufzufallen, dass es da noch ein paar ungesagte Dinge zwischen ihnen gab.
„Äh.. sieht ganz so aus.“ Jessica lächelte.
„Tja, die Katze ist wohl aus dem Sack“, sagte Vanessa und strich durch ihr langes, mahagonifarbenes Haar.
„Und.. wusstet ihr schon, dass ich... äh, ja was ich bin oder auch nicht?“, fragte Theresa, auch wenn sie nicht ganz wusste, wie sie die Frage stellen sollte.
„Ein Blick hinter deine Brille reicht dafür schließlich aus“, bemerkte Nicole und sie sah etwas betrübt aus.
„Also seid ihr drei auch Gesandte“, stellte Fynn fest, der immer noch mit Alicia hinter der Gruppe stand und nachzudenken schien.
„Gut bemerkt, Fynn Windhall“, sagte Vanessa nur, „Aber hast du nicht selbst vor einiger Zeit erst gesagt, dass es sich nicht gehört, die Gespräche anderer Mitschüler zu belauschen?“
Fynn musste leicht lächeln. „In dieser Situation werdet ihr mir hoffentlich verzeihen, dass ich versehentlich mitgehört habe.“
„Sag doch einfach, dass du wissen wolltest, ob sie auch Gesandte sind“, bemerkte Alicia resigniert. Sie setzte sich dann aber auf einen der frei gewordenen Plätze am Tisch der vier Mädchen und Fynn nahm ebenfalls Platz.
„Was soll´s“, seufzte Vanessa, „Was haltet ihr beide denn von dieser reichlich ungewöhnlichen Situation?“
„Wir hatten jedenfalls keine Ahnung von Nadine“, gab Alicia zu, „Wir wussten nur, dass Theresa eine Kyra ist. Zwar war ihr Name etwas abgeändert, doch in ihm steckt immer noch Kyra und wir haben auch gesehen, dass sie die uns bekannten Merkmale aufweist. Ihre Kräfte sind vielleicht noch nicht erwacht, aber wir waren uns eigentlich sicher, dass sie die Kyra ist.“
„Dass jetzt auf einmal noch eine auftaucht, die die Kyra zu sein scheint, ist höchst merkwürdig“, sagte Fynn nach-denklich, „Zumal sie den unabgeänderten Namen und auch die klaren Merkmale hat. Außerdem sind ihre Kräfte anscheinend bereits erwacht.. jedenfalls konnte ich sie schon deutlich spüren, als sie den Raum noch nicht betreten hatte.“
„Und das ist auch komisch“, sagte Alicia und spielte mit einer Strähne ihres schwarzen Haars, „Wir spüren bei normalen Gesandten ja normalerweise nicht die Kräfte, nur bei besonders stark ausgeprägten und des Öfteren bei Magiern unter uns.. Aber so deutlich wie bei Nadine eben war noch keine Kraft zu spüren. Und es waren auch noch beide Seiten der Kraft, Licht und Finsternis.“
„Erst dachten wir, dass Theresa die Kyra ist, doch jetzt deutet auf einmal alles daraufhin, dass Nadine die richtige Kyra ist“, sagte Fynn und seine Verwirrung war deutlich herauszuhören, „Was um Himmels Willen ist hier los?“
„Gute Frage“, sagte Vanessa, „Vielleicht solltet ihr beide mal mit eurem Vater sprechen. Womöglich weiß er, was hier los ist.“
„Äh.. Ähm...“, machte Theresa zaghaft wieder auf sich aufmerksam, „Wenn ihr nichts dagegen habt, gehe ich in mein Zimmer.“
Die fünf sahen sie überrascht an, fast als hätten sie vergessen, dass Theresa ja auch noch anwesend war. Doch ehe jemand etwas sagen konnte, lief Theresa schon aus dem Café zu ihrem Zimmer. Sie fühlte sich furchtbar unwohl, wenn die anderen über sie sprachen, wenn sie noch am Tisch saß. Außerdem war sie schon verwirrt genug. Erst war sie vollkommen verwirrt gewesen, als sie auf einmal hörte, dass sie die Kyra war und den Ausgang des Kampfes der Gesandten entschied; dann hatte sie sich mit diesem Umstand einigermaßen abgefunden und versucht vorerst nicht so genau darüber nachzudenken, was da noch auf sie zu kam; und jetzt tauchte plötzlich ein anderes Mädchen auf und schien ebenfalls die Kyra zu sein. Was auch immer hier los war, Theresa verstand es nicht. Doch nach dem, was sie eben von Fynn und Alicia gehört hatte, kamen ihr noch ganz andere Zweifel in den Kopf. Hatten sich die anderen alle vielleicht nur mit ihr angefreundet, weil sie die Kyra zu sein schien? Die Angst vor der Antwort auf diese Frage trieb Theresa die Tränen in die Augen. Was war, wenn sich Nicole, Jessica, Vanessa, Nathaniel, Raymond, Alicia und Fynn nur mit ihr abgegeben hatten, weil sie die Kyra war? Und hatten sie ihr nur geholfen, um sie auf ihre Seite zu ziehen, damit der Ausgang des Kampfes für sie und ihre Gruppe von Vorteil war? Theresa kam sich zu ihrer Verwirrung irgendwie in die Zeit zurückversetzt vor, als sie noch die ganze Zeit über Streiche ausgeheckt hatte. Sie konnte niemandem mehr vertrauen und da so gut wie alle hier ebenfalls Gesandte waren, konnte sie sich an niemanden wenden. Sie war wieder allein.
Theresa liefen Tränen über die Wangen und sie vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen.
Sie schluchzte lange und als sie schließlich wieder aus dem Fenster sah, war es bereits dämmrig. Einen Moment lang überlegte sie, doch dann wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Inzwischen war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass sie nicht die Kyra war. Jedenfalls nicht die, die über den Ausgang des Kampfes entschied. Sie besaß keine Kräfte und Nadine schien alles darüber zu wissen und auch irgendeine Kraft zu besitzen, also konnte es nicht anders sein. Nadine war die Kyra und Theresa war wohl nur versehentlich mit zwei verschiedenfarbigen Augen geboren worden.
Sie verließ um halb acht ihr Zimmer und ging zum Café, um kurz zu Abend zu essen. Vor noch nicht mal allzu langer Zeit hatte sie sich nach Gesellschaft gesehnt und jetzt wollte sie nur alleine sein. Sie wusste nicht, ob und wem sie vertrauen konnte. Wenn ihre Freunde wirklich nur bei ihr gewesen waren, um sie auf ihre Seite zu ziehen, konnte Theresa auch gut auf sie verzichten. Sie würde es auch alleine schaffen. Es war keine angenehme Aussicht, doch immer noch besser als womöglich nur ausgenutzt zu werden.
„Theresa!“
Eigentlich saß Theresa gerade an einem der Tische im Café im siebten Stock und hatte sich eine Gabel voll Nudeln in den Mund schieben wollen, doch die Gabel fiel ihr beinahe aus der Hand. Nicole, Jessica und Vanessa kamen auf sie zu und sahen ein bisschen abgehetzt aus.
„Was wollt ihr?“, fragte Theresa unfreundlicher als sie eigentlich beabsichtigt hatte.
Die drei wirkten verwirrt und blieben vor ihrem Tisch stehen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Nicole unsicher, aber auch besorgt zugleich.
„Ja.“ Theresa schob sich die letzte Gabel Nudeln in den Mund und trank den letzten Schlug Saft aus ihrem Glas. Dann stand sie auf und brachte ihr Tablett weg. Nicole, Jessica und Vanessa folgten ihr verwirrt, als Theresa das Café wieder verließ.
„Was ist los mit dir?“, fragte Vanessa verwirrt.
„Das mit Nadine nimmt dich sicher sehr mit“, sagte Nicole mitfühlend, „Aber warum bist du so abweisend? Wir helfen dir, mach dir darum keine Sorgen.“
„Und warum wollt ihr mir helfen?“, fragte Theresa tonlos.
Die Gesichter der drei Mädchen neben ihr zeigten eine deutliche Verwirrung.
„Ich bin nicht die Kyra“, sagte Theresa tonlos, „Nadine ist die, die über den Ausgang dieses komischen Kampfes entscheidet, nicht ich. Ich bin nur ein normales Mädchen mit zwei verschiedenen Augenfarben und ohne irgend-welche Kräfte oder sonst was. Ihr könnt euch ruhig um Nadine kümmern. Ich nehm euch das nicht übel.“
„Was redest du da?“, fragte Nicole entgeistert, „Glaubst du etwa, dass wir...“
„Du hast wirklich eine blühende Fantasie“, sagte Jessica leicht empört, „Wir würden doch nicht nur mit dir zusam-men sein, wenn es nur die Kraft der Kyra gehen würde.“
„Außerdem steht noch lange nicht fest, wer von euch beiden die Kyra ist“, warf Vanessa ein, „Es könnte auch genauso gut sein, dass du die Richtige bist und nicht diese Nadine.“
„Kann es nicht.“
Die drei Mädchen drehten sich ziemlich überrascht um und erblickten Nathaniel, der die Treppe hoch kam und neben ihnen stehen blieb.
„Wie meinst du das?“, fragte Nicole verwundert.
„Und wo ist eigentlich Raymond?“ Jessica sah sich suchend um. „Ich seh ihn hier nirgends.“
„Der ist in der Höhle des Löwen“, sagte Nathaniel und er klang nicht gerade sehr begeistert, „Nadine lässt ihn nicht gehen, er tut mir echt leid.“
„So jemanden als Verlobte zu haben“, murmelte Jessica resigniert, „Das stell ich mir auch nicht gerade als angenehm vor.“
„Ist es auch nicht und Raymond würde seinem Vater dafür wohl am liebsten den Hals umdrehen, aber zurzeit ist das nicht unser größtes Problem“, seufzte Nathaniel.
„Stimmt“, sagte Vanessa ernst, „Was hast du eben gemeint?“
„Nadine ist die Kyra“, sagte Nathaniel und sein Blick schien sich fast etwas zu verfinstern, „Sie stammt direkt von der Hauptfamilie ab, daran besteht kein Zweifel.“
Nicole sah zu Theresa. „Aber.. was ist dann mit ihr?“
„Tja, auch Theresa trägt das Blut der Kyra in sich“, sagte Nathaniel ernst, „Nach einigen Überlegungen, kam mir nur eine einzige Möglichkeit in den Sinn, auch wenn sie äußerst gewagt ist und von den Ältesten aus unseren Familien wohl als viel zu weit daher geholt abgeschrieben werden würde.“
„Nun spuck´s schon aus“, sagte Jessica, „Was ist mit Theresa?“
„Die einzige Möglichkeit, die mir hierzu in den Sinn gekommen ist, ist, dass es in den Reihen der Kyra wohl irgendwann mal jemanden gab, der untreu war“, sagte Nathaniel und sah Theresa an, „Es gab anscheinend in einer der vergangenen Generationen ein uneheliches Kind.“
Alle drei starrten Theresa ungläubig an, die genauso verblüfft war.
„Wahrscheinlich hat man es einfach weggegeben und es nie irgendwem erzählt, weil keiner erwartet hat, dass die Gene mal so weit durchschlagen würden und eine zweite Kyra geboren werden könnte“, endete Nathaniel, „Und Theresa scheint die Erbin genau dieser Familie zu sein.“
Es herrschte mal wieder für eine Weile Schweigen. Diese Nachricht mussten die Anwesenden erstmal verdau-en. Theresa traf es jedoch am schwersten. Jetzt hatte sie sich gerade damit abgefunden, dass sie nicht die Kyra war, und nun behauptete Nathaniel, dass sie wegen eines unehelichen Kindes der Kyra-Familie irgendwann in der Vergangenheit ebenfalls eine Kyra war.
„Das kann nicht sein“, sagte Theresa verzweifelt und wich zurück, „Ich bin nicht die Kyra! Ich bin überhaupt nichts! Ihr braucht euch nicht weiter um mich zu kümmern, ich komme schon alleine klar. Bemüht euch lieber darum, die richtige Kyra zu überzeugen, auf eure Seite zu kommen. Ich will von diesem Kram nichts mehr hören, also lasst mich in Ruhe!“
„Theresa!“
Doch Theresa sprang bereits die Treppen runter und knickte mehrere Male fast um. Sie wollte so schnell wie möglich weg. Allerdings wollte sie vor allem alleine sein und lief zwei Stockwerke weiter unten den Gang entlang. Sie musste einen Platz finden, an dem die anderen sie nicht suchen würden. Ihr Zimmer und auch das Gelände draußen kamen daher nicht in Frage.
„Theresa...“ Nicole hatte die Hand ausgestreckt, ließ sie dann jedoch wieder sinken und sah betrübt zu Jessica und Vanessa.
„Was ist mit ihr?“, fragte Nathaniel stirnrunzelnd.
„Sie glaubt, dass wir uns nur mit ihr angefreundet haben, weil wir dachten, dass sie die Kyra ist“, sagte Jessica ernst, „Das scheint sie von uns allen zu denken.“
„Jedenfalls war sie furchtbar abweisend und schien am liebsten allein sein zu wollen“, sagte Nicole betrübt.
„Wir haben versucht mit ihr zu reden, aber geglaubt hat sie uns wahrscheinlich nicht“, seufzte Vanessa.
„Nicht schon wieder“, stöhnte Raymond, der von rechts kam und neben Nathaniel stehen blieb.
„Du bist schon wieder draußen?“ Nathaniel hob eine Augenbraue.
„Ja, ich wurde Gott sei Dank für´s erste entlassen“, seufzte Raymond, „Nadine ist ziemlich empört über die angebliche Betrügerin und will sich wohl alleine etwas umsehen.“
„Oh oh...“ Die drei Mädchen sahen sich an.
„Was?“, fragte Raymond misstrauisch.
„Wenn Theresa und sie nun aufeinander treffen...“, wagte Vanessa es ihre vage Befürchtung auszusprechen.
„Oh nein“, stöhnte Raymond und verdrehte die Augen, „Verdammtes Mädchen.“
„Wen von beiden meinst du?“, fragte Jessica.
„Na Theresa.“ Raymond schüttelte den Kopf. „Sie redet sich schon wieder sonst welchen Schwachsinn ein.“
„Ich befürchte nur, dass Nadine nicht gerade zimperlich sein wird, sollte sie auf Theresa treffen“, sagte Nathaniel ernst, „Und Theresa kann sich nicht verteidigen...“
„Wir suchen sie“, sagte Raymond schnell und sprang schon die Treppen runter.
„Weg ist er“, sagte Nicole leicht erstaunt.
„Hitzkopf“, stöhnte Nathaniel nur, „Aber wir sollten besser auch nach Theresa suchen.“
Inzwischen war Theresa eine gute Idee gekommen, wo sie sich verstecken konnte. Es durfte nirgendwo sein, wo sie schon mal war. Da bot sich der dritte Stock des Südflügels an. Sie stand an einem Fenster von einem der riesigen Sporträume, die man durch ein langes Fenster auch vom Gang aus sehen konnte. Einige Jungen und ein paar wenige Mädchen spielten gerade Fußball. In dem Moment gab einer der Jungen im roten Trikot den Ball an ein Mädchen seiner Mannschaft ab, das den Ball sofort auf das Tor schoss. Der Torwart warf sich zur Seite, doch der Ball flog knapp über ihn hinweg und landete im Netz. Das Mädchen und der Junge klatschten sich ab und sahen die anderen grinsend an.
Theresa konnte nicht sagen, wer von den Spielern nun ein Gesandter war und wer nicht, doch sie alle schienen viel Spaß zu haben, im Gegensatz zu Theresa. Ihr Leben war in letzter Zeit ein einziges auf und ab und wirklich lange hatte sie keine Stimmung behalten. Als sie hier her kam, hatte sie wenigstens noch ein Ziel gehabt, auch wenn ihr dieses sehr viel Kummer bereitet hatte. Nun wusste sie nicht mehr, was sie machen sollte. In so kurzer Zeit war so viel passiert und sie hatte so vieles erfahren, dass sie langsam nicht mehr durch das Chaos in ihrem Kopf stieg. Seufzend ging sie weiter und lief über die Treppe ein Stockwerk höher. Dort bog sie nach rechts und ging weiter, bis sie abrupt stehen blieb. In einiger Entfernung sah sie Fynn, der vor Nadine stand und sich mit ihr zu unterhalten schien. Er wirkte beherrscht und schien keine so rechte Freude an dem Gespräch zu haben, doch er hielt Nadine lächelnd seine Hand hin und deutete zu der Treppe gut zehn Meter entfernt. Nadine schien kurz zu überlegen, dann lächelte sie ein wenig herablassend und reichte ihm ihre Hand. Gemeinsam gingen sie zur Treppe und stiegen nach oben.
Theresa stand wie angewurzelt da. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie war froh, dass niemand außer ihr zu sehen war. Sie war sich zwar nicht mehr sicher gewesen, wem sie vertrauen konnte, doch an ihren Gefühlen für Fynn hatte dieser Umstand nichts geändert. Und jetzt musste sie sehen, dass Fynn, obwohl er zuvor nicht gerade begeistert von Nadine zu sein schien, anscheinend doch vor hatte sich mit ihr anzufreunden. Als er Theresa hatte helfen wollen, hatte sein Gesicht genau so ausgesehen, wie eben gegenüber Nadine. Theresa sank auf die Knie und starrte den roten Samtteppich an. Zwar konnte sie sich nicht zu hundert Prozent sicher sein, doch wie es aussah, wusste auch Fynn, welche die richtige Kyra war. Und er schien sie für sich gewinnen zu wollen, auch wenn sie mit Raymond verlobt war. Wie kam sie jetzt eigentlich auf Raymond? Im selben Moment war es Theresa egal, wie sie auf darauf kam. Da Raymond mit Nadine verlobt war, hatte er Fynn gegenüber einen klaren Vorteil. Allerdings schien Fynn sich trotzdem noch nicht geschlagen zu geben. Irgendwie musste Theresa lächeln. Jetzt würden sich die beiden Jungen nicht mehr wegen ihr, sondern wegen Nadine streiten. Es war schon eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Theresa für solch eine große Verwirrung gesorgt hatte. Hätten die anderen nicht alle geglaubt, dass sie die Kyra war, hätte sich niemand um sie gekümmert. Dann würde sie wahrscheinlich heute noch Amok laufen und versuchen von hier zu verschwinden oder irgendjemand, dem es gereicht hatte, hätte sie viel-leicht so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus musste. Komischerweise erschien dieser Gedanke auf einmal recht verlockend. Theresa wusste sowieso nicht mehr, was sie hier sollte, da konnte sie auch genauso gut irgendwo anders hin.
„Resa!“
Theresa zuckte erschrocken zusammen und sah auf. Raymond stand keuchend hinter ihr und sah sie verwirrt an.
„Du.. weinst ja schon wieder“, stellte Raymond fest und ging vor ihr in die Knie.
„Ja, und?“, fragte Theresa wütend und verzweifelt zugleich, „Das kann dir doch egal sein. Du solltest lieber hinter Fynn und Nadine her, sonst spannt er sie dir noch aus.“
„Hä? Von welchem Schwachsinn sprichst du denn jetzt schon wieder?“, fragte Raymond verwirrt.
„Fynn bemüht sich um Nadine und wenn du nicht aufpasst, zieht er sie noch auf seine Seite“, sagte Theresa und die Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen, „Sie sind nach oben unterwegs, vielleicht kannst du sie noch einholen.“
„Seit wann unterstützt du denn meine Streitereien mit Fynn?“, fragte Raymond ernst. Ihm war nun klar, was Theresa alles den Kopf verdrehte. Es war viel mehr, als er erwartet hatte.
„Ist doch jetzt egal, verschwinde schon“, sagte Theresa wütend und unterdrückte ein Schluchzen, „Lass mich einfach allein!“
„Oh Mann, du bist wirklich unverbesserlich“, seufzte Raymond und machte sich auf ein unschönes Wortgefecht gefasst, „Du solltest dir nicht alles so zu Herzen nehmen.“
„Du redest hier Schwachsinn und jetzt geh endlich“, schluchzte Theresa und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Merkte er denn nicht, dass er gerade dabei war, das Todesurteil für die Gesandten der Finsternis unter-schreiben, wenn er nicht hinter Nadine und Fynn her lief? Hatte er denn noch nicht verstanden, dass Theresa nicht die war, um die er sich bemühen sollte?
Raymond schüttelte nur den Kopf und zog sie wortlos an sich.
Theresa gab einen überraschten Laut von sich und war nun endgültig verwirrt. Doch sie wollte nicht wieder Hoffnung sehen, wo keine war. Sie drückte sich von Raymond weg und schlug einfach ohne hinzusehen zu. Es war eine glatte Ohrfeige und Theresa sah auf. Raymond hatte nicht nachgegeben und ihre Hand ruhte immer noch auf seiner Wange. Er sah sie jedoch an und die Trauer in seinen Augen war nicht zu übersehen.
„Es tut mir leid“, sagte er leise, „Es tut mir leid, dass du das alles durchmachen musst.“
„Eh...?“ Theresa war viel zu überrascht um irgendetwas Vernünftiges sagen zu können. Sie starrte ihn nur an, obwohl sie immer noch Tränen in den Augen hatte.
Raymond sah ihr in eben diese Augen. „Glaub mir, wir sind alle verwirrt und ziemlich durcheinander, aber deine Zweifel sind unbegründet. Die Einzigen, die du anzwei-feln kannst, sind Fynn und ich. Wir sind diejenigen, die die Kyra auf unsere jeweilige Seite ziehen sollen. Die anderen, Nicole, Jessica und Vanessa haben in dieser Beziehung nichts mit dem Gewinnen der Kyra zu tun. Fynn und ich sind die diejenigen, die du anzweifeln solltest. Nicole, Jessica und Vanessa sind wirklich deine Freundinnen. Sie wären es auch ohne dass du das Blut der Kyra in dir trägst.“
Theresa war überrascht und verwirrt zugleich.
„Und Fynn macht es bestimmt auch keinen Spaß mit Nadine zu tun zu haben“, bemerkte Raymond und rang sich ein leichtes Lächeln ab, „Die Schreckschraube wird ihn bestimmt bald vergraueln. Sein Vater macht ihm wahrscheinlich nur die Hölle heiß, weshalb er das macht. Du kannst mir ruhig glauben, er würde viel lieber dich durch das Internat führen als Nadine. Und hör auf dir ständig etwas einzureden, was dich verletzt. Du kannst deinen drei Freundinnen ruhig vertrauen, sie haben gute Charakter und werden dir zuhören, wenn du Sorgen hast. Du musst nicht immer im Stillen weinen.“
Theresa schluckte und wies die Tränen zurück in ihre Schranken. Raymond hatte Recht. Mal wieder. Warum hatte sie eigentlich schon wieder angefangen, an ihren Freunden zu zweifeln? Wegen der unschönen Erfahrung mit Clare und Leah? Das hatte sie selbst verbockt, aber das war vergangen. Sie hatte Nicole, Jessica und Vanessa Unrecht getan. Bei Fynn wusste sie zwar nicht, ob Raymond sich da nicht doch täuschte, aber vielleicht hatte er auch Recht. Allerdings war ihr mal wieder aufgefallen, wie deprimiert seine Stimme klang, wenn er von ihr und Fynn redete.
Sie lächelte beklommen. „Ich hab es schon wieder geschafft.“
Raymond wirkte etwas irritiert.
„Schon wieder mache ich nur Probleme“, sagte Theresa betrübt, „Und schon wieder bin ich euch gegenüber unfair. Und wieder höre ich deine Stimme, die versucht mich zu trösten, obwohl sie dabei selber immer so verletzt klingt, wenn es um Fynn geht.“
Raymond war sichtlich überrascht und wurde sogleich unsicher. Er hatte doch versucht seine Gefühle vor ihr zu verbergen, also wie war ihr das aufgefallen? Er wollte doch nur, dass sie aufhörte zu weinen. Wieso machte sie sich auch noch Gedanken um ihn? Er war doch schon froh, wenn sie lächelte, auch wenn es an der Seite von Fynn war.
Theresa wusste nur zu gut, dass sie Schuld daran hatte, dass Raymond schon wieder in dieser Stimmung war. Dabei wollte sie gerade das doch nicht. Er klang in solch einer Situation immer wie ein verloren gegangenes Kind und das machte ihr zu schaffen. Sie wollte ihn trösten, doch sie wusste nicht wie. Immer machte sie alles kaputt und wusste hinterher nicht, wie es wieder reparieren sollte. Das kannte sie zwar bereits, doch es frustrierte sie trotzdem.
„Ich ziehe euch alle immer wieder runter“, sagte Theresa beklommen, „Ich sage Dinge ohne nachzudenken und an anderen Stellen denke ich zu viel nach. Es tut mir leid, dass ich schon wieder der Grund bin, aus dem du so traurig klingst.“
„Hör endlich auf über mich nachzudenken und denk lieber mal an dich“, sagte Raymond leicht überrascht.
„Dann hör du auf immer von Sachen zu reden, die dich traurig machen!“, sagte Theresa trotzig und ein wenig verzweifelt zugleich, „Das macht mir nämlich auch immer ganz schön zu schaffen.“
„Vorher solltest du mal lernen, weniger nachzudenken!“, erwiderte Raymond.
„Und du könntest wieder zu dem grinsenden Spinner werden, der jeden mit seinem Lächeln ansteckt und der sich darauf versteht andere zum Lachen zu bringen!“, entgegnete Theresa, „Der, dank dem ich wieder zu mir selbst gefunden habe.“
Es hatte fast den Anschein, das Raymond ein klein wenig rot im Gesicht war. „Du solltest dafür aber mal lieber aufhören zu weinen und selber wieder lächeln, damit ich mir nicht immer Sorgen darum machen muss, wie wir dich wieder auf die Beine bringen!“
Theresa stiegen langsam wieder Tränen in die Augen. Es waren keine Tränen der Trauer, sondern sie hatten einen anderen Ursprung.
„Und ihr beide solltet euch langsam mal wieder beruhi-gen“, bemerkte Nathaniel, der auf einmal hinter Theresa stand, „Mit dieser Szene könntet ihr ein Drama drehen, wisst ihr zwei das?“
„Nathaniel...“ Theresa drehte verwirrt den Kopf nach hinten und auch Raymond wirkte leicht überrascht.
„Ihr beide seid so blöd, dass es echt zum Lachen ist, wisst ihr das?“, fragte Nathaniel mit einer hochgezogenen Augenbraue. Er hatte die beiden längst durchschaut und fragte sich langsam, wie sie es schafften sich die ganze Zeit so dumm anzustellen. Dass Theresa in der Hinsicht etwas unterbelichtet war, wusste er ja bereits, aber dass auch Raymond so begriffsstutzig war, kannte er noch nicht.
„Wie meinst du das jetzt?“, fragte Raymond leicht verwirrt.
„Das müsst ihr selber herausfinden“, sagte Nathaniel, „Aber es ist schön zu sehen, dass es dir wieder besser geht, Theresa. Da kann ich die anderen ja beruhigen...“ Er hob die Hand und verschwand wieder in die Richtung, aus der er gekommen war.
„Hast du verstanden, was er meint?“, fragte Theresa stirnrunzelnd.
„Hätte ich sonst gefragt?“ Raymond hob nur eine Augenbraue.
Theresa lief jedoch wieder eine einzelne Träne über die Wange. Sie wusste nicht, warum sie schon wieder am liebsten weinen wollte, doch irgendetwas trieb ihr die Tränen in die Augen.
„Oh nein, nicht schon wieder“, seufzte Raymond und sah sie halb verzweifelt an, „Was habe ich denn jetzt schon wieder falsches gesagt?“
Theresa schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Schluchzen. Die Sache mit Fynn erschien ihr auf einmal gar nicht mehr so wichtig. Viel wichtiger war ihr jetzt, dass sie Raymond wieder fröhlich bekam. Außerdem ertrug sie die betrübte Stimmung langsam selber nicht mehr. Es gab so viele Fragen, ungeklärte Dinge und total verworrene Umstände, dass sie da sowieso nicht mehr durch stieg.
Theresa sah auf und wollte etwas sagen, doch sie rutschte vor Schreck ein Stück zurück. Raymonds Augen waren auf einmal leuchtendrot und sie erkannte die drohende Ausstrahlung von Ryszard.
„Tse, du hast wohl gar nichts gelernt“, sagte Ryszard verächtlich, „Du bist echt noch genauso eine Heulsuse wie beim letzten Mal.“
Theresa war kurz noch ziemlich überrascht, dann seufzte sie laut um den Schreck wieder aus ihren Gliedern zu vertreiben und sah Ryszard an, der anscheinend bereits wieder sauer war. „Hast du eigentlich irgendwann auch mal keine schlechte Laune?“, fragte sie.
Ryszard war tatsächlich überrascht, ehe er sich wieder fing. „Wie sollte man denn gute Laune haben, wenn man nur von solchen Trauerklößen und Dauerbaustellen wie dir umgeben ist?“
Theresa musste lächeln. „Stimmt, gutes Argument.“
„Fängst du schon wieder mit diesem Schwachsinn an?“, fragte Ryszard unsicher.
„Du meinst, dass ich schon wieder Sachen sage und mache, die kein Mensch erwartet?“, fragte Theresa nur, „Na ja, das habe ich mir wohl irgendwie angewöhnt, frag mich aber nicht warum.“
Ryszard war sichtlich verwirrt. „Du bist wirklich nicht mehr ganz dicht.“
„Wahrscheinlich“, sagte Theresa schief lächelnd.
„Ein Psychiater würde dir nicht schaden“, knurrte Ryszard, dem es anscheinend langsam auf den Geist ging, dass Theresa sich nicht provozieren ließ.
„Dann können wir ja gemeinsam hin gehen“, schlug Theresa vor, „Dir würde es bestimmt auch nicht schaden.“
„Grrrr.. Ich dreh dir noch mal den Hals um“, murmelte Ryszard drohend.
Theresa antwortete nicht, sondern stand auf. Sie kam auf Ryszard zu und ging vor ihm wieder in die Knie. Dabei legte sie die Arme um ihn und zog ihn an sich.
„Eh? Hey!“ Ryszard war vollkommen überrascht und schien ausnahmsweise mal nicht zu wissen, was er machen sollte. Er war sogar ein wenig rot im Gesicht.
Theresa war derweil aufgefallen, dass sie eigentlich keine Angst mehr vor Ryszard hatte. Er und Raymond waren sich ähnlicher, als sie am Anfang gedacht hatte. Und auch wenn Ryszard eine etwas derbere Art als Raymond hatte, war auch er immer noch ein Junge von ungefähr siebzehn Jahren; ob er nun ein Mörder war oder nicht, auch er hatte irgendwie eine recht nette Seite, auch wenn einige Theresa da sicherlich für verrückt erklären würden.
„Ich danke dir nochmal, Ryszard“, sagte Theresa leise, aber lächelnd, „Und Raymond auch, ihr beide habt mir schon wieder klar gemacht, dass ich echt dumm und unbelehrbar bin. Danke, dass ihr beide das immer ertragt.“
Ryszard erwiderte nichts darauf, sondern hielt ganz still. Dann spürte Theresa allerdings, wie er auf einmal die Arme um sie legte und sie sanft an sich zog. Sein Kopf ruhte noch immer auf ihrer Schulter und mit einem Mal bemerkte Theresa ihr schon wieder wie wild schlagendes Herz, das in ihrer Brust bald einen Salto nach dem nächsten machte, als er die Arme um sie legte.
„Ein bisschen dumm bist du wirklich, aber ich bin auf jeden Fall nicht Ryszard“, bemerkte Raymond auf einmal mit seiner warmen Stimme, „Und wenn denn sind wir beide unbelehrbar.“
Theresa war ein wenig überrascht, doch dann musste sie irgendwie lächeln und strich ihm über das zerzauste Haar. „So ganz werden wir uns in diesem Punkt zwar nie einig sein, aber ich denke, ich kann damit leben.“
„Schön zu hören.“ Raymond zog sie enger an sich und schloss die Augen. „Meine kleine Resa...“
„Wer ist hier bitteschön klein?“, fragte Theresa ein wenig beleidigt und musste gleichzeitig wieder lächeln.
„Du bist doch kleiner als ich“, bemerkte Raymond, „Klein aber oho. Meine Hochachtung dafür, wie du mit Ryszard fertig geworden bist. Besser als ich es vermag.“
„So langsam bekomme ich auch Übung“, stellte Theresa fest.
„Oje, dann bin ich wohl doch nicht so verlässlich, wie ich gehofft habe“, sagte Raymond leise.
„Ach was, Ryszard ist zwar ein bisschen Rücksichtslos, aber soweit ich das inzwischen sagen kann, hat er auch seine guten Seiten“, stellte Theresa fest, „Auch wenn er anscheinend nicht will, dass das jemand merkt.“
„Dann weißt du nach drei Begegnungen mehr als ich in den elfeinhalb Jahren, die ich mit ihm zusammen in einem Körper verbringen musste“, sagte Raymond und Theresa wusste, dass er lächelte, „Na ja, für so finster, wie alle ihn immer beschreiben, halte ich ihn zwar schon lange nicht mehr, aber du bist die Erste, die meiner Meinung ist.“
„Sei doch froh.“ Theresa hatte ihre Augen geschlossen.
„Das bin ich“, flüsterte Raymond und vergrub sein Gesicht in ihrer Schulter, „Froh dich getroffen zu haben...“
„Sagt mal ihr zwei, bahnt sich da zwischen euch vielleicht etwas an?“, fragte Jessica stirnrunzelnd.
Theresa und Raymond zuckten beide zusammen und blickten nach rechts, wo auf einmal Nicole, Jessica, Vanessa und Nathaniel standen. Allerdings warfen sich Nicole und Vanessa vielsagende Blicke zu und Jessica sah Theresa und Raymond schmunzelnd an.
Theresa war reichlich überrascht, doch sofort machte ihr schlechtes Gewissen auf sich aufmerksam. „Es tut mir leid ihr drei. Ich hab vorhin Schwachsinn von mir gegeben.. hoffentlich könnt ihr mir meine Zweifel verzeihen, ich war so durcheinander, dass ich...“
„Schön dass du es verstanden hast“, sagte Vanessa nur, „Mach es einfach nicht wieder und wir sind quitt.“
„Außerdem können wir uns vorstellen, wie das für dich sein muss, wenn plötzlich schon wieder alles Kopf steht“, sagte Nicole lächelnd, „Aber wie schon gesagt, wir helfen dir, auch wenn du nicht die richtige Kyra bist. Dafür sind wir schließlich Freunde.“
„Danke Leute“, sagte Theresa nur glücklich. Sie wusste keine Worte, die ihre Erleichterung über diesen Umstand zum Ausdruck brachten.
„Und wie lange gedachtet ihr beide eigentlich noch so zu bleiben?“, fragte Jessica grinsend und unterdrückte ein Kichern.
Theresa und Raymond, die immer noch die Arme umeinander gelegt hatten und auf dem Boden hockten, sahen sich leicht verwirrt an, wobei sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Dann liefen beide rot an und im nächsten Moment saßen sie zwei Meter auseinander. Beide sahen verlegen zur Seite und schienen gerade zu überlegen, wie sie diesen Umstand nur hatten vergessen können.
„Hmmm.. Übrigens seid ihr beide wirklich ein ganz gutes Paar“, bemerkte Jessica und ihre Schadenfreude war nicht zu überhören, „Habt ihr schon mal darüber nachge-dacht miteinander auszugehen?“
„Wir würden euch auch nicht verraten“, bemerkte Nicole schmunzelnd und verkniff sich ein Lachen.
„Habt ihr sie nicht mehr alle?!“, fragte Theresa entgeis-tert und lief rot an.
„Nathaniel, stopf diesen vorlauten Hühnern mal die Schnäbel“, sagte Raymond und auch er war ein kleines bisschen rot im Gesicht.
„Das kannst du selber machen, wenn´s dir nicht passt“, entgegnete Nathaniel nur lächelnd. Er war in diesem Fall auf Seiten der Mädchen, denn sie hatten Recht.
„Hey, man knebelt eine schöne Dame nicht“, sagte Vanessa empört.
„Dame? Ich seh hier keine Dame“, sagte Raymond und kam wieder auf die Füße.
„Na warte, du Bengel“, sagte Vanessa knackte mit den Fingerknöcheln, „Ich bin mindestens ein Jahr älter als du und du könntest mir ruhig mal etwas Respekt entgegen bringen.“
„Respekt? Was ist das?“, fragte Raymond grinsend.
„Den hat man bei seiner Geburt wohl vergessen“, bemerkte Theresa resigniert. Sie musste aber auch lächeln und nahm die Brille mit den großen, runden Gläsern ab. Sie verschwand in Theresas Rocktasche und Theresa stand ebenfalls wieder auf.
„Hey! Du bist auch nicht besser“, entgegnete Raymond.
„Aber sie bringt Erwachsenen wenigstens Respekt entgegen“, bemerkte Vanessa, „Davon habe ich bei dir noch nichts gesehen.“
„Tse, ich bringe auch nicht jedem Respekt entgegen“, sagte Raymond und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
„Und ich würde vorschlagen, dass wir uns morgen weiter unterhalten“, bemerkte Nathaniel lächelnd, „Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass wir uns so langsam mal auf den Weg zurück in den Westflügel machen sollten.“
„Ich hätte nichts dagegen einzuwenden“, sagte Nicole und gähnte hinter vorgehaltener Hand, „Morgen ist auch noch ein Tag.“
So machten sie sich auf den Weg zu den Schlafräumen und ihre Wege trennten sich. Theresa war jedoch froh, dass sich das Chaos in ihrem Kopf wieder gelegt hatte. Zwar gab es immer noch einige unbeantwortete Fragen, doch die Last dieser Fragen schien auf einmal ein ganzes Stück leichter geworden zu sein. Theresa hatte sich auch vorgenommen, ab jetzt einfach alles hinzunehmen. Ihre bisherigen Aktionen hatten immer nur im Chaos für sie und ihre Freunde geendet, weil sie an einigen Stellen zu viel nachgedacht hatte und an anderen zu wenig. Vielleicht brachte es ja was, wenn sie einfach abwartete, was auf sie zukam. Schlimmer als bisher konnten die Situationen sowieso nicht mehr enden, also war es einen Versuch auf jeden Fall wert. Außerdem würden ihre Freunde ihr zu Not sicher helfen.
Als Theresa die Treppe runter kam und um die Ecke zu ihrem Zimmer bog, drosselte sie ihr Tempo merklich ab. Weiter vorne stand Fynn und sah sich um. Er schien ein wenig nervös zu sein, so wie er das Gewicht immer wieder von einem auf den anderen Fuß verlagerte und alle paar Sekunden die Position wechselte. Anscheinend suchte er jemanden. Einen Moment lang spürte Theresa wieder den Schmerz, den sie empfunden hatte, als sie ihn mit Nadine gesehen hatte, dann aber lächelte sie. Wenn sie genauer darüber nachdachte, war sie eigentlich gar nicht so geschockt darüber. Vielmehr wollte sie so überrascht und verwirrt sein, obwohl sie es zu ihrer eigenen Verwunderung gar nicht war. Kurz dachte sie über diesen Umstand nach, dann zuckte sie mit den Schultern und ging auf Fynn zu. Das war wieder so eine der Sachen, über die sie erstmal wohl nicht genauer nachdachte. Kaum war sie näher getreten, schien Fynn sie zu entdecken und kam ihr bereits entgegen.
„Guten Abend Fynn“, sagte Theresa lächelnd.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Fynn besorgt, „Du sahst heute Mittag ganz schön mitgenommen und verwirrt aus.“
„Mir geht es gut“, antwortete Theresa, „Kein Grund zur Sorge.“
„Bist du sicher?“, fragte Fynn und er klang wirklich besorgt.
„Glaubst du mir nicht?“, fragte Theresa im Gegenzug.
„Äh, doch.. aber vorhin...“, setzte Fynn erstaunt an.
„Vorhin ist vor einigen Stunden und in denen hatte ich viel Zeit wieder Klarheit in meinen Kopf zu bekommen“, sagte Theresa lächelnd.
Fynn seufzte. „Dann bin ich ja beruhigt. Ich hätte auch früher nach dir gesehen, aber...“
„Du musstest Nadine die Schule zeigen, ich weiß“, sagte Theresa mit einem schiefen Lächeln, „Du tust mir wirklich leid.“
Nun wirkte Fynn endgültig überrascht. „Woher weißt du das?“
„Ich hab euch vorhin im Südflügel gesehen, ich war auch dort“, sagte Theresa unverblümt.
Über Fynns beinahe fassungsloses Gesicht musste sie grinsen und sie verkniff sich ein lautes Lachen. „Was siehst du mich so an? Habe ich etwas im Gesicht oder was?“, fragte sie amüsiert.
„N-Nein“, sagte Fynn unsicher.
„Und damit du es dieses Mal nicht erst sonst wann erfährst, ich weiß auch von Nathaniel, dass Nadine die richtige Kyra ist“, sagte Theresa ernst, „Ich hab diese Färbung der Augen nur, weil ich anscheinend von irgendeinem unehelichen Kind aus der Familie der Kyras abstamme. Aber um es gleich gesagt zu haben, ich bin deswegen nicht sauer oder so. Es macht mir auch nichts aus, wenn du dich jetzt mit Raymond über Nadine in die Haare bekommst. Ich meine, toll finde ich das immer noch nicht mit euch beiden, aber da das ein Hobby von euch zu sein scheint und ich da sowieso nichts dran ändern kann, solltet ihr tun, was ihr nicht lassen könnt.“
Fynn schien nicht so ganz glauben zu können, was er da hörte.
„Im ersten Moment war ich wirklich ein bisschen durch-einander, aber ich weiß inzwischen, dass die anderen nicht nur meine Freundinnen geworden sind, weil ich angeblich die Kyra war“, sagte Theresa nun wieder lächelnd, „Und ich bin dir nach wie vor dankbar dafür, dass du mir so viel geholfen hast. Also bis morgen.“
Sie wollte an ihm vorbei gehen, doch auf einmal hielt Fynn sie am Handgelenk fest. Theresa drehte sich wieder um und sah ihn verwirrt an. Fynn setzte ein paar Mal an etwas zu sagen, doch er schwieg eine Weile lang.
„Es tut mir leid“, sagte er dann und sah zu Boden, „Ich.. würde es bevorzugen, mit dir an einem Tisch zu sitzen, als mit dieser Schreckschraube namens Nadine. Mein Vater will nur, dass ich die Kyra.. für unsere Seite gewinne.“
„Ich weiß.“ Theresa entzog ihm sanft ihre Hand. „Und übrigens seid ihr beide euch ja ausnahmsweise mal einig.“
Fynn sah sie stirnrunzelnd an.
„Raymond hat auch gesagt, dass sie eine Schreckschrau-be ist“, sagte Theresa lächelnd, „Bis morgen.“
Fynn sah ihr nach, als sie in ihrem Zimmer verschwand. Kam es ihm nur so vor oder war Theresa gerade dabei sich von ihm zu distanzieren? Wieso wurde er das Gefühl nicht los, dass da etwas ganz und gar nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte? Die Fäden wanden sich aus seinen Händen, als hätten sie einen neuen Spieler gefunden. Er hatte keinerlei Kontrolle mehr über die Dinge. Und das schon seit einer ganzen Weile nicht mehr, wie ihm klar wurde.
Am nächsten Morgen war Theresa wie gewöhnlich das erste Mädchen, das in der Klasse war. Die Jungen unterhielten sich angeregt über die neue Mitschülerin, die heute in ihre Klasse kommen sollte. Theresa konnte sich schon denken, dass es Nadine war, die heute neu in ihre Klasse kam. Zwar war Theresa sich nicht ganz sicher, dass sie und Nadine sich vertragen würden, doch sie hoffte es inständig. Wenn sie Nadine zugestand, dass sie die echte Kyra war, konnten sie vielleicht auch friedlich miteinan-der auskommen. Doch wenn sie an Nadines Persönlichkeit dachte, zweifelte Theresa irgendwie daran, dass das einfach werden würde.
Schließlich aber waren fast alle anwesend und Mr Jukashni betrat die Klasse, gefolgt von dem arg genervt dreinblickenden Raymond. Allerdings kam Theresa auch sofort ein Verdacht, weshalb er so genervt aussah. An seinen linken Arm klammerte sich Nadine und zog ihn förmlich mit sich mit. Erst Mr Jukashni konnte der Klammerei ein Ende bereiten, indem er Raymond auf seinen Platz schickte und Nadine anwies, erstmal noch vorne zu bleiben.
„Also, unsere neue Mitschülerin ist Nadine Kyra“, stellte Mr Jukashni sie vor und schrieb ihren Namen auch an die Tafel, „Sie ist gestern Mittag hier angereist und wird von nun an in diese Klasse gehen. Ich bitte euch darum, sie freundlich aufzunehmen.“
Theresa hatte noch nie solch freundliche Worte von Mr Jukashni gehört und musste irgendwie darüber schmun-zeln.
„Und du Nadine setzt dich am besten nach rechts in die vorderste Reihe, wo noch ein Platz frei ist“, fügte der Lehrer noch hinzu.
„Kommt nicht in Frage!“, sagte Nadine sofort, „Ich will neben meinem Verlobten sitzen!“
Die ganze Klasse einschließlich dem Lehrer war über diesen plötzlichen Protest überrascht. Theresa wagte einen Blick nach rechts zu Raymond, der vor einiger Zeit wohl endgültig mit Wendy den Platz getauscht hatte und neben ihr saß. Sein genervter Blick und die unter dem Tisch geballte Faust sagten alles und Theresa sah lieber wieder nach vorne.
„Setzen Sie diese Betrügerin da doch nach vorne“, sagte Nadine nur schnippisch und zeigte auf Theresa.
Diese blickte nur ziemlich überrascht drein und auch Raymond entgleisten fast die Gesichtszüge. Nadine nannte sie immer noch Betrügerin? Hätte Theresa ihre Brille aufgehabt, wäre ihr diese wohl von der Nase gerutscht.
„Ähm, Nadine, wir können auf deinen Wunsch gerne später noch zurückkommen, aber würdest du dich bitte erstmal da vorne auf den freien Platz setzen“, bat Mr Jukashni.
„Nichts da!“, sagte Nadine unfreundlich und stapfte so geschwind auf Theresa zu, dass ihre langen, brünetten Haare auf und ab wippten. Sie blieb vor Theresa stehen und zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf sie. „Mach den Platz frei du Betrügerin!“
Theresa blinzelte.
„Hör auf dich so aufzuführen“, sagte Raymond und stand von seinem Platz auf, „Setz dich endlich vorne hin und gib Ruhe.“
„Aber Raymond, ich will nur neben dir sitzen“, sagte Nadine beleidigt, „Und diese Betrügerin da ist es nicht wert neben dir zu sitzen.“
„Jetzt halt mal die Luft an“, sagte Raymond erbost, „Theresa ist keine Betrügerin oder etwas dergleichen...“
„Sie hat dich also schon verführt“, seufzte Nadine und legte einen Arm um Raymonds Nacken, „Und ich muss dich befreien...“
Sie küsste den vollkommen überraschten Raymond auf die Lippen und die Augen von allen Anwesenden in der Klasse weiteten sich vor lauter Überraschung. Auch Theresa starrte die beiden verdattert an. Sie hatte ganz vergessen, dass sie ja verlobt waren.
Dann stieß Raymond Nadine auf einmal von sich weg und Theresa sprang erschrocken von ihrem Stuhl, auf dem Nadine nicht mal eine Sekunde später landete und sich den Kopf an der Wand stieß. Raymond keuchte und starrte Nadine entgeistert an. Diese schien in dem Moment zu merken, wo sie gelandet war und setzte sich bequem hin. Sie sah Raymond lächelnd an und es schien sie nicht im Geringsten zu stören, dass sie von der ganzen Klasse immer noch verdattert angestarrt wurde.
„Geht doch“, sagte sie nur.
Raymond war noch für gut eine Sekunde lang sprachlos, dann schüttelte er den Kopf, als wollte er einen Alptraum vertreiben, und sah Nadine zornig an. „Steh sofort wieder auf, das ist nicht dein Platz!“
„Jetzt ist es meiner“, sagte Nadine lächelnd, „Ich kann mich aber auch mit an deinen setzen, wenn dir das lieber ist.“
Raymond schien gerade zu einigen unschönen Schimpf-wörtern ansetzen zu wollen, als Theresa sich vorsichtig zu Wort meldete: „Das geht schon in Ordnung, ich kann auch vorne sitzen.“
„Aber...“, setzte Raymond an.
„Sie hat doch selber gesagt, dass es in Ordnung ist“, sagte Nadine, „Also hör auf zu meckern und finde dich mit deinem Glück ab.“
Theresa schob sich an Raymond vorbei und setzte ihre Brille wieder auf, die sie in ihrer Rocktasche gehabt hatte. Sie wusste auch nicht, warum sie sie lieber wieder aufsetzen wollte, aber irgendwie fühlte sie sich in dem Moment mit Brille wohler.
Mr Jukashni schien sichtlich erleichtert darüber zu sein, dass sich das geklärt hatte, und begann mit dem Unter-richt. Theresa fragte sich währenddessen, warum sie auf einmal so ein merkwürdiges Ziehen in der Brust verspürte, wenn sie daran dachte, wie Nadine Raymond einfach geküsst hatte. Warum nahm sie das plötzlich so mit? Warum dachte sie überhaupt darüber nach? Die beiden waren verlobt, da war so etwas wahrscheinlich üblich. Bevor ihre Gedanken aber noch weiter gehen konnten, konzentrierte sie sich auf den Unterricht. Sie hatte gesagt, dass sie nicht mehr so sehr über solche Gegebenheiten nachdenken würde und sie wollte ihr Wort auch halten. Also machte sie sich daran ihre Mitschriften auf dem neuesten Stand zu halten und konzentrierte sich aus-schließlich auf den Unterricht. Das lenkte sie immerhin etwas ab und nach dem Unterricht ging sie schnell zum Essen. Sie wusste nicht, warum sie Raymond möglichst aus dem Weg gehen wollte, doch es war so und sie verbot sich ihre Gefühle zu hinterfragen.
Nach dem Essen mussten Nicole, Jessica und Vanessa allerdings wieder in ihre Klasse, weil die Klassensprecher wohl noch irgendetwas mit ihnen besprechen wollten. Da die drei auch nicht wussten, wie lange es dauern würde, blieb Theresa im Gang zurück. Sie überlegte hin und her wie sie die Zeit totschlagen konnte. Nur leider fiel ihr auf die Schnelle nichts ein und sie putzte erstmal ihre Brille, da sie wohl einmal versehentlich auf die Gläser gefasst hatte und ihre Fingerabdrücke sich breit machten und die Sicht erschwerten. Theresa seufzte. Irgendwie setzte sie ihre Brille immer dann auf, wenn sie unsicher wurde und sich am liebsten vor irgendetwas verstecken wollte. Nur wieso war es ausgerechnet jetzt?
„Theresa.“
Sie zuckte erschrocken zusammen und setzte schnell ihre Brille wieder auf, ehe sie sich umdrehte. Fynn stand ihr gegenüber und wirkte ein wenig überrascht, wohl ihrer Verwirrung wegen.
„Äh.. Was ist?“, fragte Theresa unsicher.
„Gestern hast du gesagt, dass alles in Ordnung ist und ich habe dir geglaubt“, sagte Fynn ernst, „Wenn du mir heute das Gleiche erzählen willst, werde ich dir das nicht abkaufen.“
„Das hatte ich auch nicht vor“, erwiderte Theresa schnell, damit sie nicht mehr ganz so unsicher wirkte, „Aber es ist nichts Wichtiges, ich bin eigentlich nur noch ein bisschen überrascht, das ist alles.“
„Und warum siehst du dann so aus, als würdest du am liebsten weinen?“, fragte Fynn und sein Blick wurde ein wenig traurig.
„Dem ist gar nicht so, du musst dich verguckt haben“, wehrte Theresa ab.
„Wieso habe ich dein Vertrauen verloren?“, fragte Fynn betrübt, „Ich würde dir gerne helfen, aber ich kann nicht, wenn du mir nicht sagst, worum es geht.“
„Es ist wirklich nicht weiter von Belangen.“ Theresa hätte sein Angebot fast angenommen, doch dann war ihr wieder in den Sinn gekommen, dass dies nicht sehr klug gewesen wäre. Fynn konnte Raymond nicht ausstehen und wenn er merkte, dass Theresa wegen ihm deprimiert war, konnte sie nicht genau sagen, wie Fynn reagieren würde.
„Willst du mit ins Café kommen?“, fragte Fynn, auch wenn zu hören war, dass er Theresa nicht ganz glaubte.
„Äh, heute mal nicht“, sagte Theresa und lächelte, „Ich hab von heute Morgen noch einige Hausaufgaben, die ein bisschen schwerer aussehen. Vielleicht komme ich nach-her noch mal, aber im Moment nicht.“
„Denk daran, du kannst jederzeit zu uns kommen“, sagte Fynn nur. Er hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte, doch er wusste nicht, warum Theresa sich so sehr weigerte darüber zu reden. Ihm waren die Hände gebunden.
„Ich hab´s nicht vergessen“, sagte Theresa lächelnd, auch wenn sie aufpassen musste, dass es nicht schief wurde. Dann drehte sie sich um und ging. Sie spürte Fynns Blick im Rücken, bis sie die Treppe runter ging. Wieso war ihre Stimmung schon wieder so weit unten? Sie hatte sich doch gerade erst vorgenommen alles einfach hinzunehmen, also warum machte sie sich schon wieder solche Gedanken und ging still ihrem Trübsinn nach? Theresa seufzte und bog im dritten Stock um die Ecke. Doch sie stieß mit jemandem zusammen und taumelte erstmal zwei Schritte zurück, ehe sie verwirrt aufsah.
„Resa...“ Raymond sah sie verblüfft an und auch Theresa war überrascht. Doch sie fühlte sich auch irgendwie unwohl und senkte den Blick wieder. Ehe sie aber an ihm vorbei gehen konnte, legte er auf einmal die Arme um sie und zog sie an sich. Sein Griff war leicht verkrampft und er schien ebenfalls unsicher zu sein, wie auch die überaus verwirrte Theresa.
„Eh?.. Was...?“ Theresa musste sich ziemlich zusam-mennehmen, um wenigstens einen einigermaßen klaren Kopf zu behalten, „W-Was soll das? Nadine ist doch...“
„Hör auf!“
Theresa zuckte zusammen und sah sein Hemd verwirrt an. Sie spürte wie sein Griff um sie sich noch mehr verkrampfte.
„Ich hasse sie“, sagte Raymond leise, „Mein Vater hat damals arrangiert, dass wir verlobt wurden. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre es nie so weit gekommen. Ich weiß nicht, was sie sich bei ihrem Verhalten denkt und ich will es auch gar nicht wissen.. Ich will nur eines...“
Er brach ab und Theresa war noch verwirrter als zuvor schon. Die Verlobung war bloß arrangiert? Ihr fiel in dem Moment auch wieder ein, wie abweisend Raymond Nadine gegenüber eigentlich war und dass er sie nicht ein einziges Mal freundlich angesehen hatte. Aus irgendeinem Grund war Theresa furchtbar erleichtert und das die ganze Zeit über an ihr nagende Stechen in der Brust verschwand. Sie war so erleichtert, dass sie einfach die Arme um ihn legte und den Kopf an seine Brust schmiegte. Raymond schien überrascht zu sein, doch sein Griff entspannte sich langsam wieder. Es hatte fast den Anschein, dass auch Raymond über irgendetwas ziemlich erleichtert war. Wie es aussah, hatten sie da eines gemeinsam.
Eine Weile lang verharrten sie einfach so und standen im Gang neben der Treppe. Theresa öffnete kurz ihre Augen wieder. Dann schloss sie sie wieder und drückte sich ein Stück von ihm weg. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Danach machte sie auf dem Absatz Kehrt und lief den Gang runter, während Raymond ihr vollkommen verdattert hinterher sah und den Mund nicht wieder zu bekam.
Theresa wusste selber nicht, was so plötzlich über sie gekommen war. Während des Laufens hielt sie sich eine Hand vor den Mund und war vollkommen verwirrt über sich selber. Sie hatte in seinen Armen auf einmal wieder daran denken müssen, wie Raymond sie an ihrem ersten Tag draußen plötzlich geküsst hatte. Dann hatte sie einfach gehandelt. Ein bisschen nachzudenken schadete auch nicht, wie ihr bewusst wurde, und sie knallte ihre Zimmertür von innen zu. Sie war immer noch rot im Gesicht und auch ihr Herz wollte sich noch nicht so ganz beruhigen. Was war so plötzlich in sie gefahren? Sie verstand ihre eigenen Gefühle nicht mehr, obwohl sie sonst eigentlich immer der Meinung gewesen war, dass sie wenigstens das im Griff hatte. Gegenüber Raymond schien das jedoch nicht der Fall zu sein. Aber woran lag es? Es musste doch auch einen Grund dafür geben.
Liebe
Theresa zuckte bei ihren eigenen Gedanken zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? War sie nicht eigentlich in Fynn verliebt? Doch in seiner Nähe verspürte sie schon lange nicht mehr dieses anfängliche Kribbeln, jedenfalls nicht so stark wie bei Raymond. So stark wie bei Raymond hatte ihr Herz in Fynns Nähe nie auf sich aufmerksam gemacht. Das wurde ihr erst jetzt klar und sie fasste sich mit einer Hand an die Stirn. Hatte sie Fieber? Oder warum war ihr Kopf so heiß? Was war nur mit ihr los?