Ein Mädchen und zwei Jungen mit zwei Fraktionen - die Gesandten des Lichts und die Gesandten der Finsternis. Die Entscheidung für den einen bedeuted den Untergang für den anderen und seine Fraktion und andersherum genauso. Wie wird diese schwere Entscheidung der Kyra lauten? Und was steckt hinter diesem Kampf, der eine der beiden Gesandtengruppen sehr wahrscheinlich das Leben kosten wird? Welchen Weg wird Theresa einschlagen? Enthält: Kapitel 9: die Gesandten des Lichts und die Gesandten der Finsternis Kapitel 10: Sorgen Kapitel 11: Was war nur los mit den beiden Jungen?
„Was willst du dieses Mal?“, fragte Nathaniel ernst. Seine Haltung wurde auf einmal steif und er schien deutlich angespannt zu sein. Sein Gesicht spiegelte aber auch eine starke Beunruhigung wider.
„Hmm...“ Ryszard sah sich scheinbar nachdenklich um, bis sein Blick auf Theresa fiel.
„Wage es nicht sie anzurühren“, sagte Nathaniel nur.
„Ich glaube nicht, dass du in der Lage bist MIR Befehle zu erteilen“, sagte Ryszard grinsend, „Du weißt ganz genau, dass ich dir bei weitem überlegen bin.“
„Vielleicht in der Kraft“, räumte Nathaniel ein, „Aber deine Technik ist nicht besser als die eines Anfängers.“
Ryszard knurrte drohend. „Nenn mich noch ein Mal einen Anfänger und es wird dir leidtun.“
„Komm doch her“, sagte Nathaniel provozierend.
Theresa sah die beiden entgeistert an. Wollten sie sich etwa hier prügeln? Im selben Moment kam jedoch ein recht starker Wind auf und Theresa wurde das Gefühl nicht los, dass es sich hier um mehr als eine gewöhnliche Streiterei handelte.
Ryszard schien wirklich auf ihn zustürmen zu wollen, doch im selben Moment fiel sein Blick wieder auf Theresa. „Ach, so ist das“, sagte er nüchtern, „Du willst sie vor mir schützen und legst es deshalb auf einen Kampf an, obwohl du doch sonst nie kämpfst, wenn du keine Chance siehst. Du willst wohl den edlen Ritter spielen und am Ende der Held sein.. nur schade, dass mir heute so gar nicht nach verlieren zu mute ist.“
Eine heftige Windböe fegte durch den Baum und riss hunderte grüne Blätter mit sich mit. Sie kam von hinten und Nathaniel lag genau in ihrer Richtung. Theresa erkannte nicht allzu fiel. Sie sah nur, dass die Blätter, die die Böe mit sich gerissen hatte, auf Nathaniels Höhe auf einmal zur Seite stoben und es fast so aussah als hätte Nathaniel die Windböe einfach einmal in der Mitte zer-schnitten. Durch eine bloße schnelle Bewegung mit seinem Arm.
Ryszard verzog angewidert das Gesicht und Theresa spürte wie erneut ein starker Wind aufkam.
„Hört auf!“, rief sie, „Was auch immer ihr da macht, hört auf damit!“ Sie wusste nicht, was sie sich davon erhoffte, doch sie musste es versuchen. Auch wenn es eigentlich gar nicht möglich sein konnte, konnten die beiden anscheinend den Wind beeinträchtigen. Und das würde wahrscheinlich nicht gut enden.
„Dummkopf!“, rief Nathaniel, doch es war schon zu spät.
Ryszards Blick fiel auf Theresa und diese spürte, wie sich die Windrichtung schlagartig änderte.
„Wollen wir doch mal sehen, was die Kyra so alles kann“, sagte Ryszard nur und schwenkte die Hand in Theresas Richtung. Doch noch bevor er die Bewegung ganz beendet hatte, keuchte er überrascht auf.
„Verflucht“, keuchte er, „Hör auf dich zu wehre...“
Er schnappte nach Luft und verzog das Gesicht. Dann krümmte er sich ähnlich wie Raymond zuvor und stieß irgendwelche unverständlichen Flüche aus. Schließlich kippte er auf einmal zur Seite, so als hätte er plötzlich die Besinnung verloren. Doch noch bevor er ganz umkippte, machte er einen Ausfallschritt und hielt sich so einiger-maßen aufrecht. Er atmete schwer. Dann sah er auf.
Theresa sah ihn nur verwirrt an. Auf einmal waren seine Augen wieder gelb und die bedrohliche Ausstrahlung war wie weggeblasen.
„R-Ray..mond?“, fragte sie unsicher.
„Ist.. mit dir alles.. in Ordnung?“, fragte er keuchend.
„Äh.. ja“, antwortete Theresa stockend.
„Dann ist ja gut...“ Raymond schien jetzt wirklich ohnmächtig zu werden. Er schloss die Augen und kippte erneut zur Seite. Da stand aber Nathaniel neben ihm und fing ihn auf, bevor er auf dem Rasen landete. Nathaniel wirkte jedoch reichlich erstaunt und ging in die Knie. Er legte Raymond auf das Gras und setzte sich neben ihm hin.
Theresa wusste nicht, was sie machen sollte. Was war hier gerade passiert? Was war mit Raymond los und was sollte das mit diesem Ryszard?
„Theresa“, sagte Nathaniel auf einmal, „Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?“
„Äh.. ja.. mir fehlt wirklich nichts“, antwortete Theresa verwirrt.
„Ich meine nicht das kleine Gefecht von eben“, sagte Nathaniel, „Raymond wäre dir nicht gefolgt, wenn nichts wäre.“
Theresa sah ihn überrascht an. Raymond wäre ihr nicht gefolgt, wenn nichts wäre? Was sollte das? Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
„Konntet ihr miteinander reden oder hat Ryszard es zu früh geschafft die Kontrolle zu übernehmen?“, fragte Nathaniel, als Theresa schwieg.
„Eh? Könntest du mir vielleicht auch erstmal erklären, was hier eben passiert ist?“, fragte Theresa verwirrt.
„Du weißt es also wirklich nicht“, sagte Nathaniel nach-denklich, „Du hast keine Ahnung, was in diesem Internat bald geschehen wird?“
Theresa wusste, dass ihr vollkommen verwirrter Blick ausreichte.
„Was du eben mitbekommen hast, ist das kleine Problem der Gesandten der Finsternis“, seufzte Nathaniel. Er zögerte einen Augenblick. „Willst du die ganze Zeit über stehen? Das ist eine etwas längere Geschichte und du solltest wissen, was hier passiert, schließlich stehst du im Mittelpunkt des Ganzen.“
Theresa sah ihn perplex an. Nach einem kurzen Zögern setzte sie sich aber neben Nathaniel auf das Gras, vor den noch immer bewusstlosen Raymond, der hinter ihnen lag und aussah als ob er friedlich schlief.
Eine Weile herrschte Schweigen, bis Theresa dieses brach. „Könntest du mir das jetzt bitte erklären? Was meintest du eben mit dem kleinen Problem der Gesandten der Finsternis?“
„Ich meine das, was ich gesagt habe“, sagte Nathaniel, „Aber um vielleicht erstmal zu den Umständen zu kommen.. Es gibt überall auf der Welt verteilt Familien, die seit Generationen eine alte Kraft in sich tragen. Die meisten wissen von dieser Kraft und sehen sie als eine Art Familienehre an, andere wissen nichts von dieser, bis zu dem Tag, an dem ihre Kräfte erwachen. Du scheinst, obwohl du eigentlich im Mittelpunkt stehst, zur zweiten Gruppe zu gehören. Auch wenn es durchaus noch eine andere Möglichkeit gibt, die ich allerdings für unmöglich halte, ist es wohl am Wahrscheinlichsten, dass deine Familie über die Generationen vergessen hat, welches Erbe in ihnen schlummert.“
Theresa wusste nicht, was sie sagen sollte. Das hörte sich eigentlich nach einem abgedrehten Sciencefiction-roman an, doch um feststellen zu können, wie viel Wahres da dran war, musste sie sich die Geschichte wohl bis zum Schluss anhören.
„Es geht um eine alte, angebliche Legende“, fuhr Nathaniel fort, „Laut dieser wurde die Welt einmal von Monstern angegriffen. Die vollkommene Zerstörung der Erde konnte angeblich nur durch einige Menschen verhindert werden, die über die Zeit hin besondere Kräfte entwickelt haben. Sie besiegten die Wesen, die wohl die Zerstörung der Erde im Sinn gehabt hatten, und die Erde wurde wieder aufgebaut. Über viele, viele Jahre hin lebten die Menschen in Frieden und ohne je wieder etwas von den damaligen Wesen zu hören. Doch nach ungefähr vierhundert Jahren wurde die Sonne erneut verdeckt. In dieser Zeit hat sich der Planet, auf dem die Wesen lebten, wieder in unser Sonnensystem geschoben. Niemand weiß, wie das möglich ist. Dieser Planet hat anscheinend seine ganz eigene Umlaufbahn, ohne dabei irgendein Himmels-gestirn zu umkreisen. Jedenfalls haben diese Wesen die Erde erneut angegriffen und für Chaos und Zerstörung gesorgt. Zu dieser Zeit erwachten die alten Kräfte, die noch in den Genen mancher Menschen schlummerten, wieder. Es kam zu einem erneuten Kampf, den die Menschen jedoch beinahe verloren hätten. Über die Zeit hin hatten sich die Gene nämlich verändert. Es waren zwei verschiedene Arten der Kräfte entstanden und diese waren bei weitem nicht mehr so stark wie in der ersten Generation.“
Theresa war aufgefallen, dass Nathaniel nur zum Teil in der Vergangenheit sprach. Einige Tatsachen schienen auch heute noch so zu sein.
„Damals waren die Gesandten der Finsternis und die Gesandten des Lichts geboren worden. Doch die Menschen, die auf Umwegen herausgefunden hatten, dass sie die gleichen Kräfte hatten, schlossen sich mit der Zeit zusammen. Beide Fronten gaben jeweils der anderen die Schuld dafür, dass sie nun so schwach waren. Es kam zu einem Kampf unter den Menschen selbst, bei dem auch tausende Unschuldige, die noch nicht mal irgendwelche Kräfte besaßen, mit hineingezogen und getötet wurden. Schließlich war nur noch eine Gruppe übrig, doch diese hatte auch nur gewonnen, weil sie jemanden auf ihrer Seite hatten, der das Blatt gewendet hatte. Es war ein Mensch, der beide Gene in sich trug, der sowohl die Kraft des Lichts als auch die der Finsternis in sich trug und verwenden konnte. Dieser hatte sich auf eine Seite geschlagen und durch seine besonderen Kräfte den Sieg seiner Front gesichert.. Danach sind die Erzählungen aller Generationen unvollständig, sodass ich nicht genau sagen kann, was damals und auch in den späteren Generationen folgte. Alles was ich und auch alle anderen Gesandten wissen ist, dass die Menschen jener Gruppe, die noch übrig war, eine besondere Kraft erhalten haben. Mit dieser war es ihnen gelungen die Wesen zu besiegen und ihr Planet hatte die Sicht auf die Sonne wieder freigegeben.“
Nathaniel seufzte. „Alle vierhundert Jahre verdeckt der Planet der Vestroyen, so wurden die Wesen seit dieser Zeit genannt, die Sonne und schiebt sich zwischen die Erde und die Planeten vor ihr. Kurz vor dieser Zeit kommt es immer zum Kampf zwischen den Gesandten des Lichts und denen der Finsternis. Die Gesandtengruppe, die als Sieger aus dieser regelrechten Schlacht herausgeht, erhält die Kraft die Vestroyen zu besiegen. Allerdings stehen die Sieger meistens schon fest, bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hat.. Der Mensch, der damals beide Mächte in sich getragen hat, hieß Kyra. Die, die beide Kräfte in sich tragen, tragen daher der Einfachheit halber den Namen Kyra und man erkennt sie an zwei unter-schiedlich gefärbten Augen, meistens zwei verschiedene Blau- oder Grüntönen.“
Theresa ging langsam ein Licht auf und sie starrte Nathaniel entgeistert an.
„Du verstehst“, sagte Nathaniel, „Du scheinst die Erbin der Kyra zu sein, auch wenn deine Kräfte noch nicht erwacht sind. Du bist letztlich diejenige, die entscheidet wie der Kampf zwischen den Gesandten ausgeht. Ob die Gesandten des Lichts oder der Finsternis siegen, entschei-dest allein du.“
Theresa starrte Nathaniel an als hätte er ihr gerade einen unsittlichen Antrag gemacht. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Das konnte er doch nicht wirklich ernst gemeint haben, oder? Dass sie entschied, wer diesen seltsamen Kampf gewann, und dass sie zu einer alten Familie gehörte, die angeblich beide Kräfte in sich trug?
„Du kannst mir ruhig glauben“, sagte Nathaniel schlicht, „Mit so etwas treibe ich keine Späße. Aber um dich noch ungläubiger zu stimmen, die Sache geht noch weiter. Wenn du willst, erzähle ich dir auch noch die Einzel-heiten, es sei denn, du hast jetzt schon genug und erklärst mich und wahrscheinlich über die Hälfte der Schüler dieses Internats für verrückt.“
„Wie.. meinst du das?“, fragte Theresa stirnrunzelnd, „Das mit dich und über die Hälfte der Schüler hier für verrückt zu erklären.“
„Fast alle Schüler auf diesem Internat gehören entweder zu den Gesandten des Lichts oder den Gesandten der Finsternis“, erklärte Nathaniel schlicht.
Theresa sah ihn entgeistert an. „A-Aber ist das nicht eigentlich ein Internat ausschließlich für Hochbegabte? Wie können hier dann so viele.. Gesandte versammelt sein?“
„Da kannst du Fynns Familie danken“, sagte Nathaniel, „Die Windhalls sind sehr eine alte Familie der Gesandten des Lichts und haben dieses Internat vor einigen Jahren errichtet. Die jungen Schüler, sowohl die Gesandten des Lichts als auch die der Finsternis, werden hier versammelt um den Kampf auszutragen. Deshalb haben sie auch einen so abgelegenen Platz ausgewählt. Hier stehen die Chancen nicht sehr groß, dass Unwissende in den Kampf ver-wickelt werden. Kurz vor Beginn des großen Kampfes werden alle normalen Schüler, die eigentlich nur hier sind, um die Tarnung als normales Internat aufrechtzuerhalten, evakuiert. Auf diese Weise verhindern wir jedenfalls, dass Unbeteiligte mit in den Kampf hineingezogen werden und auch, dass überhaupt jemand von der Existenz dieser Mächte mitbekommt. Das ist der einzige Punkt, in dem sich beide Gesandtengruppen einig sind.“
„In wie fern der einzige Punkt?“, fragte Theresa. Sie konnte das Ganze zwar eigentlich nicht glauben, doch Nathaniel sah wirklich nicht so aus, als ob er sich einen Scherz mit ihr erlaubte.
„Die Gesandten des Lichts und die der Finsternis hassen sich auch heute noch abgrundtief“, erklärte Nathaniel, „Sie geben einander immer noch die Schuld diejenigen zu sein, durch die sie die Stärke der allerersten Generation verloren haben. Inzwischen haben sich aber auch weitere Kräfte innerhalb der beiden Gruppen gebildet. Das ist auch das, was du vorhin beobachten konntest. Unter den Gesandten des Lichts und der Finsternis haben sich noch einzelne Magier herausgebildet. Es gibt insgesamt vier verschiedene Arten der Magie, die noch zu den normalen Kräften des Lichts und der Finsternis hinzu gerechnet werden müssen. Für die Gesandten des Lichts wären es die Kraft Feuer oder die Pflanzen mitsamt der Erde zu beeinträchtigen. Für die Gesandten der Finsternis ist es die Kraft entweder das Wasser oder die Luft zu kontrollieren. Ein Gesandter kann aber immer nur eine weitere Kraft einsetzen. Die Magier des Lichts sind meistens auf die Erde und die Pflanzen spezialisiert, da man sie eigentlich überall findet und sie nicht erst mittels eigener Kraft entstehen lassen muss. Unter den Gesandten der Finsternis ist die Kraft die Luft zu beeinflussen weiter verbreitet, da auch sie überall vorhanden ist. Um das Feuer oder auch das Wasser zu kontrollieren, brauchen die Magier beider Seiten schon ziemlich viel Talent und vor allem eigene Kraft. Denn Feuer und Wasser existieren nicht überall gleich bereit, auch wenn sie vielleicht durchaus greifbar sind, ist es auch viel schwerer die beiden Mächte zur Kooperation zu bewegen. Sie sind eigenwillig und stellen eine große Herausforderung für den Magier da, die auch durchaus tödlich enden kann, wenn der Magier nicht genau weiß, was er tut.“
„W-Wenn ich das eben richtig gesehen habe, sind du und Raymond Windmagier“, sagte Theresa zögerlich.
„Ich und Ryszard sind Windmagier“, sagte Nathaniel, „Raymond bildet da eine Ausnahme, wie es sie nur selten gibt. Bevor ich dir das aber erkläre, sollte ich vielleicht erst auf das vorhin schon angesprochene, kleine Problem der Gesandten der Finsternis zurückkommen.“ Nathaniel seufzte erneut. „Niemand weiß warum, aber einige von uns, die wir zu den Gesandten der Finsternis gehören, haben eine.. wie soll ich sie nennen? Ich glaube ‚dunkle Seite‘ passt am besten.“
„Eine dunkle Seite?“ Theresa verstand nicht ganz.
„Eine zweite Seele, um genauer zu sein“, sagte Nathaniel, „Zwei Seelen wohnen in einem Körper, du kannst dir sicher vorstellen, dass das durchaus proble-matisch ist. Und diese zweiten Seelen kann man wirklich als dunkle Seite bezeichnen. Du hast ja gesehen, wie Ryszard sich aufgeführt hat, auch wenn er schon zu den Schlimmsten gehört und es ein etwas dummer Vergleich ist. Auf jeden Fall ist mit den dunklen Seiten nicht gut Kirschen essen. Es sind meistens bereits tote Seelen, die noch umhergewandert sind und sich dann an den neuge-borenen Gesandten vergreifen, weil sie übernatürlich gute Medien sind. Manche dieser Seelen werden bei dem Eintreten in den Körper des Gesandten selber wieder zu Neugeborenen und wachsen mit dem Gesandten wieder, auch wenn das an der Persönlichkeit der Seelen nichts ändert und sie am Ende genauso ruchlos wie zuvor werden. Andere dieser wandernden Seelen schaffen es aber auch in den Körper der Neugeborenen einzudringen, ohne dabei selber Schaden zu nehmen. Diese sind dann die Schlimmsten, weil sie bereits bei den Neugeborenen versuchen ständig die Kontrolle über den Körper zu übernehmen.“
Theresa starrte ihn entgeistert an.
„Du kannst dir sicher vorstellen, wie das vor allem für die Eltern ist, wenn auf einmal die Stimme eines beinahe Erwachsenen aus ihrem Baby spricht, das nun auch plötzlich laufen und springen kann“, sagte Nathaniel nur tonlos, „Und da die Babys eigentlich keinerlei Chance haben, sich aus eigener Kraft gegen ihre uneingeladenen Mitbewohner zu wehren, ist es nicht verwunderlich, dass sie früher oder später ihre eigene Lebenskraft verlieren und sterben. Manchmal stirbt ihr Körper mit ihnen und die zweite Seele geht wieder auf Wanderschaft oder der Körper bleibt am Leben und die zweite Seele erhält die uneingeschränkte Kontrolle über ihn. So war es jedenfalls während der ersten Generationen. Heute gibt es viele alte Magier, die in der Lage sind die zweite Seele im Körper eines Neugeborenen zu versiegeln. Aber dieses Siegel hält, je nach Stärke der verschlossenen Seele, nur eine bestimmte Zeit lang. Bei einigen hält es bis sie erwachsen sind und einigermaßen mit ihrem zweiten Bewohner leben können oder es besser gesagt müssen. Es gibt aber leider auch Fälle, in denen die zweite Seele einfach zu stark ist.“
Nathaniel sah zu Raymond und Theresa folgte seinem Blick. Raymond schien immer noch friedlich zu schlafen und nichts von ihrem Gespräch mitzubekommen.
„Raymond ist wohl das beste Beispiel hierfür“, sagte Nathaniel ernst, „Er hatte das Pech, dass ausgerechnet Ryszard, der schon sehr viele Gesandte umgebracht hat und unter uns bereits bekannt ist, sich auch in seinem Körper breit machte. Der Älteste von Raymonds Familie hat trotzdem versucht ihn zu versiegeln, doch wie erwar-tet hielt das Siegel nicht sehr lange. Ryszard erwachte wieder, als Raymond gerade mal fünf Jahre alt war. Ryszard hat natürlich sofort die Kontrolle übernommen und für ein ziemliches Chaos gesorgt. Tja, da ist dann meine Familie damals eingeschritten. Eigentlich hatten wir den Befehl Ryszard und mit ihm auch Raymond zu töten. Aber kurz bevor mein Vater den entscheidenden Angriff starten konnte, war Ryszard plötzlich einfach umgekippt. Wir waren zunächst alle verwirrt, doch kurz darauf wurde er wieder wach. Und rate mal, wer uns angegrinst hat.“
Theresa sah Nathaniel ungläubig an. „R-Raymond?“
„Korrekt“, sagte Nathaniel, „Seine Augen waren wieder gelb und er schien nicht viel von dem Kampf mitbekom-men zu haben. Zumindest weiß ich bis heute nicht, ob er damals wusste, dass er dem Tod nur haarscharf entronnen ist. Er grinste als ob gerade irgendwer einen guten Witz gemacht hätte und fragte uns, was denn hier los sei.“
Nathaniel schüttelte lächelnd den Kopf. „Er war schon damals unglaublich und mein Vater, sowie seine eigene Familie.. wir waren ziemlich erstaunt. Denn vor Raymond ist mir kein einziger Gesandter der Finsternis bekannt, der, nachdem Ryszard einmal die Kontrolle übernommen hatte, es alleine geschafft hat sich den eigenen Körper wieder zurückzuholen. Daher war ich auch damals nicht sehr verwundert, dass mein Vater beschlossen hatte Raymond zu trainieren. Normalerweise übernimmt jede Familie das ja selber, aber Raymonds Mutter war mit ihrem zweiten Kind schwanger und sein Vater hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dass Raymond in seiner Verfassung im Haus blieb. Daher kam er mit zu uns und er wurde so etwas wie ein Bruder für mich. Mein Vater trainierte uns beide, auch wenn das nicht ganz so einfach war. Raymond war im Umgang mit der Wind-magie nicht sehr geschickt, aber an einem regnerischen Tag wurde uns auch klar, warum. Er hatte das starke Talent Wasser zu kontrollieren.. Jetzt verstehst du vielleicht auch, was ich vorhin meinte, als ich sagte, dass Raymond eine Ausnahme ist. Während er ein begabter Wassermagier ist, ist Ryszard durch und durch ein Windmagier. Es gab noch nie einen Gesandten, der beide Seiten der Magie beherrschte, egal ob mit oder ohne zweite Seele im Körper. Na ja, nun hatte mein Vater noch einen Grund mehr ihn zu trainieren und er kontaktierte einen bekannten Wassermagier, den er noch von früher her kannte. Da die Familien über die Generationen hin immer sehr viel trainieren, ist es nicht verwunderlich, dass man dabei auch auf andere Familien trifft. Dieser Mann willigte ein Raymond zu trainieren. Sowohl in der Wassermagie als auch im Umgang mit Ryszard. Dabei war zweiteres die eindeutig schwierigere Aufgabe und Raymond ist selbst heute nicht in der Lage Ryszard vollständig in die Schranken zu weisen. Aber das Training hatte auch seine Erfolge, er lernte das Wasser zu kontrol-lieren und wie er Ryszard einigermaßen zurückhalten kann.“
Auf einmal wirkte Nathaniel jedoch fast schon traurig. „Aber trotzdem war er immer noch der Junge, der einen Serienmörder als zweite Seele in sich hatte. Denn Ryszard ist nichts anderes als ein Mörder...“
„Der außerdem noch auf schöne Mädchen steht. Du glaubst gar nicht, wie nervig das ist, wenn man sich das die ganze Zeit über anhören muss.“
Theresa und Nathaniel drehten sich erschrocken um. Raymond hatte sich aufgesetzt und sah die beiden an.
„Was denn?“, fragte er mit einer hochgezogenen Augen-braue, „Der Boden ist nicht gerade sehr bequem, also kein Wunder, dass ich schon seit einer Weile wach bin.“
„Wie lange ist bei dir eine Weile?“, fragte Nathaniel.
„So ungefähr als du gerade mit der alten Legende fertig warst, bin ich aufgewacht.“ Raymond zuckte mit den Schultern.
„Das ist eine etwas längere Weile“, bemerkte Nathaniel resigniert.
„Von mir aus auch das“, sagte Raymond, „Aber wie wäre es, wenn du das mit dem Gefühlskram überspringst? Ich.. es ist wohl besser, wenn wir sie nicht weiter nerven.“
Theresa wurde wieder bewusst, wie dumm sie vorhin gewesen war. Zwar war Nathaniel nicht bis zum Ende gekommen, doch mit jemandem wie Ryszard war es mit Sicherheit nicht sehr einfach. So etwas konnte sie sich nicht mal ansatzweise vorstellen und sie hatte keinerlei Ahnung davon, wie Raymond das wohl die ganze Zeit über aushielt und wie schwer es für ihn wohl gewesen war, mit so jemandem im eigenen Körper aufzuwachsen.
„Ich will das Ende hören“, sagte Theresa. Sie sah jedoch zu Boden, denn sie konnte Raymond nicht verdenken, dass er sauer auf sie war.
„Das ist sowieso nichts Besonderes. Nur das, was halt andere denken, wenn sie hören, dass man sich mit einem Mörder den Körper teilt und diesen nicht im Griff hat“, sagte er tonlos.
Nathaniel sah nur zwischen Raymond und Theresa hin und her, die sich beide unwohl zu fühlen schienen.
„Als eine tickende Zeitbombe“, sagte Theresa leise.
„Was?“ Raymond sah sie verwirrt an.
„Eine tickende Zeitbombe haben sie dich genannt“, sagte Theresa, „Jemand, der jederzeit gefährlich werden kann und den man besser meiden sollte. Habe ich recht?“
Raymond sah sie verwirrt, aber auch ein wenig erstaunt an.
„Auch wenn man unsere Gegebenheiten nicht so wirklich miteinander vergleichen kann“, sagte Theresa bedrückt, „Ich glaube, ein bisschen kann ich verstehen, wie einsam du damals gewesen sein musst.“
„Äh...“ Raymond schien regelrecht sprachlos zu sein. Er sah Theresa immer noch überrascht an. Dann lächelte er etwas schief. „Tja, sieht so aus als hättest du mich tatsächlich erwischt. Ich.. bin überrascht, das muss ich wohl zugeben...“
„Hör auf dich so zu verstellen, du Spinner“, sagte Nathaniel und stieß Raymond mit einer einfachen Hand-bewegung um, „Auch wenn das Verhältnis wirklich nicht ganz übereinstimmt, waren die Gefühle in euren beiden Situationen wohl dieselben.“
„Und wofür hast du mich jetzt umgestoßen?“, fragte Raymond resigniert und setzte sich wieder auf, „Ich hab dir nichts getan.“
„Doch, du hast schon wieder angefangen, dich so zu verstellen wie nach der Sache mit Fynn“, sagte Nathaniel streng, „Fängst du noch einmal so an, mach ich dir wirklich die Hölle heiß, also lass den Schwachsinn.“
„Schon gut Dad“, seufzte Raymond, „Ich bin ja brav.“
Dafür bekam er von Nathaniel einen nicht sehr sanften Faustschlag gegen den Kopf.
„Aua!“ Raymond rieb sich die schmerzende Stelle. „Du musst nicht gleich so doll zuhauen, ein bisschen leichter hätt´s auch getan.“
„Das wär bei deinem Dickschädel doch gar nicht bei dir angekommen“, erwiderte Nathaniel, „Und jetzt hör auf zu quaken wie ein Kleinkind, du bist siebzehn und keine fünf mehr.“
Raymond verzog beleidigt das Gesicht. Dann fiel sein Blick jedoch auf Theresa und er sah schnell in eine andere Richtung.
Theresa konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Nathaniel?“
„Ja?“
„Könntest du den Rest der Geschichte erzählen?“, fragte Theresa, „Ich möchte wissen, wie es weiter ging und was du eben mit der Sache mit Fynn gemeint hast.“ Theresa konnte sehen, wie Raymond bei Fynns Namen zusam-menzuckte. Doch sie wollte endlich wissen, was damals zwischen den beiden vorgefallen war. Und so eine gute Gelegenheit wie jetzt würde sie wahrscheinlich so schnell nicht wieder bekommen.
Nathaniel warf einen Blick zu Raymond. „Nur, wenn er einverstanden ist.“
Theresa sah zu Raymond. Dennoch war ihr klar, dass dieser wohl nein sagen würde. Da ihm das Thema so gar nicht zu behagen schien, konnte sie es ihm im Prinzip auch nicht verdenken.
„Tja, wenn ich jetzt nein sage, würdest du die Geschichte wohl von Fynn hören“, seufzte Raymond nur, „Und da das höchst wahrscheinlich nicht so unparteiisch wie von Nathaniel wäre, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dem zuzustimmen.“ Raymond drehte sich auf die andere Seite, sodass Theresa nur seinen Rücken ansehen konnte. „Außerdem hast du doch schon längst angefangen.“
„Na dann“, sagte Nathaniel.
Theresa wusste nicht so ganz, was sie davon halten sollte. Glaubte Raymond, dass Fynn die Geschichte vielleicht verdrehen würde? Dass er nicht die Wahrheit sagen würde? Sie konnte nur raten, was in ihm vorging. Inzwischen verstand sie Raymond noch weniger als zu dem Zeitpunkt, als sie nur seine aufgedrehte Seite kannte. So bedrückt kam er ihr komisch vor. Das passte irgendwie nicht zu ihm.
„Tja.. wenn du wach bist, ist es wesentlich schwerer die Geschichte zu erzählen, das ist dir hoffentlich klar“, sagte Nathaniel zu Raymond, nachdem er eine Weile nachdenk-lich geschwiegen hatte.
„Soll ich gehen?“, fragte Raymond nur.
Nathaniel seufzte und schien nicht ganz zu wissen, was er sagen sollte.
„Raymond?“ Theresa war zwar unsicher, aber es kam ihr komisch vor, über ihn zu reden, wenn er wach hinter ihnen lag.
„Was ist?“
„Kannst du die Geschichte nicht erzählen?“
Raymond drehte sich daraufhin um und sah sie ungläubig an. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich dabei nicht unparteiisch bleiben könnte und außerdem hasse ich die Vergangenheit.“
„Deswegen ja“, sagte Theresa leise und wurde dann aber wieder lauter, „Wem hast du die Geschichte bisher alles erzählt?“
„Niemandem“, sagte Raymond leicht verwirrt, „Nathaniel ist der einzige, der die Geschichte fast so gut kennt wie ich. Aber ich bin auch nicht blöd, es ist die Vergangenheit und damit fertig. Wen interessiert das denn heute noch?“
„Dich“, erwiderte Theresa nur verunsichert. Raymond war bereits lauter geworden und es war deutlich zu bemerken, dass er nicht darüber reden wollte.
Nathaniel stand unterdessen auf und ging in Richtung Internatsgebäude.
„Wo willst du denn jetzt hin?“, fragte Raymond. Er klang nicht sehr begeistert.
„Klärt das unter euch, ich misch mich da nicht ein.“ Damit war Nathaniel auch schon außer Hörweite.
„Und der will mein Freund sein.“
Theresa wusste, dass das nicht für ihre Ohren bestimmt war. „Ich denke schon.“
Raymond sah sie an, doch Theresa wich seinem Blick aus. Was hatte sie da eigentlich gemacht? Sie wusste doch im Prinzip gar nicht, wie sie Raymond helfen konnte und zurzeit schien er auch nicht in ihrer Nähe sein zu wollen. Und doch, Theresa hob den Kopf und sah ihm in die gelben Augen. „Ich glaube, du kannst dich glücklich schätzen, dass er dein Freund ist“, sagte sie, „Er ist vernünftig und soweit ich das sagen kann, versteht er dich sehr gut.“
„Wahrscheinlich“, sagte Raymond nur.
Eine Weile herrschte Schweigen.
„Manchmal hilft es über seine Probleme zu reden“, sagte Theresa, „Hätte ich vor einiger Zeit niemanden zum Reden gehabt, würde ich wahrscheinlich noch heute Amok laufen und andauernd irgendwelche Streiche aushecken. Ich glaube, das von damals bedrückt dich auch heute noch. Wenn du darüber reden willst.. ich höre dir zu.“
Raymond sah zur Seite und schwieg eine Zeit lang. „Warum willst du mir helfen?“, fragte er dann, „Ich bin dir doch die ganze Zeit über nur auf die Nerven gegangen, also warum willst du mir jetzt helfen?“
„Auch wenn es ein bisschen genervt hat und ich das Gefühl nicht los wurde, dass du mich nur veralbern willst“, sagte Theresa und lächelte leicht, „Hat es mir irgendwie auch geholfen.“
„Du hast also das Gefühl, dass du mir etwas schuldig bist“, sagte Raymond und sah wieder zur Seite, „Wenn das so ist, musst du nicht...“
„Ich bin auch der Meinung, dass diese deprimierte Stim-mung so ganz und gar nicht zu dir passt“, sagte Theresa lächelnd, „So bescheuert ich das auch finde, grinsend siehst du besser aus. Grins wieder wie ein abgedrehter Spinner und ich geh dir nicht mehr auf die Nerven.“
Raymond sah sie verwirrt an. „Du bist komisch. Und hast du eigentlich keine Angst, dass Ryszard gleich wieder übernimmt?“
Theresa zuckte mit den Schultern. „Vor Ryszard habe ich schon ein bisschen Angst, aber es war ja schon vorher deutlich zu sehen, als er die Kontrolle übernommen hat. Sollte das wieder passieren, laufe ich einfach weg und warte ab, bis du dich wieder durchsetzt.“
„Du vertraust wirklich darauf, dass ich die Kontrolle nicht so schnell verliere?“, stellte Raymond erstaunt fest und zog die Augenbrauen hoch.
„Nathaniel hat doch gesagt, dass du damit inzwischen ganz gut umgehen kannst“, sagte Theresa, „Außerdem halte ich dich für sehr stark. Wer so wie du grinsen kann, wenn er eine solche Vergangenheit hat, muss einfach was auf dem Kasten haben.“ Theresa fiel wieder einmal auf, wie leicht es ihr fiel in Raymonds Gegenwart sie selbst zu sein. Auch wenn sie mit den anderen inzwischen Frieden geschlossen hatte, war es immer noch schwer mit ihnen einfach so und ganz normal zu reden. Bei Raymond tat sie das ohne überhaupt nachzudenken. Dafür bewunderte sie ihn. Dass er bei so einer Vergangenheit eine solche Gabe hatte, die ihm scheinbar noch nicht mal bewusst war, war einfach unglaublich.
Raymond wirkte ziemlich überrascht und kratzte sich leicht verlegen an der Schläfe. „Da muss ich wohl wirklich aufpassen, dass ich dich und dein Vertrauen nicht enttäusche.“
„Ein bisschen Druck hilft manchmal auch“, bemerkte Theresa lächelnd.
„Du bist wirklich seltsam“, sagte er kopfschüttelnd, „Aber ich war schon immer jemand, der lieber gelächelt hat, als deprimiert dreinzublicken. Das hat sich auch nicht geändert, als das mit Ryszard herauskam. Ich war damals zwar ziemlich überrascht, aber auch nicht so sehr, dass es mich vollkommen von den Socken gehauen hat. Ich hatte es einfach hingenommen und ich glaube, meinem Vater hat das nicht ganz gepasst. Durch meine schwangere Mutter hatte er auch einen Grund mich aus dem Haus zu werfen und so war ich halt bei Nathaniel gelandet...“
Raymond schien kurz nachzudenken, ehe sich sein Gesicht ein bisschen verfinsterte. „Ich hatte damals auch einen sehr guten Freund. Seit wir vier waren, hatten wir miteinander gespielt und wir hatten uns geschworen für immer Freunde zu bleiben. Na ja, damals wussten wir noch nicht so viel von dem Kram mit den Gesandten. Als ich zu Nathaniel zog, erzählte ich meinem Freund nur, dass ich zu Hause ein paar kleine Probleme hatte und er sich keine Sorgen machen müsse.. Tja, wenig später erklärte mir mein Meister, der Wassermagier, von dem Nathaniel schon erzählt hat, was es mit den Gesandten und auch mit mir auf sich hatte. Etwa zur selben Zeit begann auch die Ausbildung meines Freundes, wir waren damals ungefähr sieben Jahre alt. Dadurch sahen wir uns eine Zeit lang nicht mehr und als wir das nächste Mal aufeinander trafen, waren wir beide in der Lage die Magie es anderen wahrzunehmen. Er gehörte zu den Gesandten des Lichts und ich war einer der Gesandten der Finsternis. Ich bin mir nicht mehr so ganz sicher, wie das damals wirklich abgelaufen ist, aber auf jeden Fall hätten wir uns wahrscheinlich bis zum Tod bekämpft, wären nicht sein Vater und mein Meister aufgetaucht.“
Raymond seufzte hörbar. „Nathaniel hatte den Streit wohl damals bemerkt und deswegen meinen Meister geholt, aber wie Fynns Vater das damals mitbekommen hatte, weiß ich ni...“
„Moment mal.. dein Freund von damals.. war Fynn?“, fragte Theresa ungläubig.
„Jap“, antwortete Raymond, „Wie gesagt, hatten wir zu Anfang kaum Ahnung von den Gesandten und ihrer Aufgabe. Daher war es uns nicht einmal in den Sinn gekommen, zu fragen, zu welcher Familie der jeweils andere eigentlich gehörte. Daher war es nicht verwun-derlich, dass wir es auf dem Wege herausgefunden haben.. Na ja, und so wie sich unsere Vorfahren schon gestritten haben, haben auch wir gleich angefangen. Wir können uns bis heute nicht leiden, obwohl ich noch nicht mal mehr weiß, warum wir damals eigentlich so heftig aneinander geraten waren. Aber Whitey scheint es nicht vergessen zu haben, deshalb darf er nicht merken, dass ich das inzwischen schon lange vergessen habe...“
„Gebt ihr euch diese komischen Spitznamen wegen eurer Herkunft?“ Theresa wusste, dass das vollkommen unpassend war, doch sie musste einfach fragen.
„Jo, genau deswegen“, sagte Raymond grinsend, „Und mit den Haaren passt es auch, daher fällt es niemandem weiter auf.“
„Aber euer Streit ist wirklich bescheuert“, bemerkte Theresa.
„Fang nicht so an wie Nathaniel“, sagte Raymond genervt, „Wir sind Gegner und haben keine andere Wahl. Selbst wenn wir es nicht wollten, müssten wir gegenein-ander kämpfen. Das wirst du noch verstehen. Wenn die Kämpfe erst losgehen.. spätestens dann werden auch deine Kräfte erwachen und du wirst wählen müssen.“
Theresa sah zu Boden. Sie war sich nicht sicher, ob sie das konnte. Wenn das alles, was ihr eben von Nathaniel und Raymond erzählt worden war, stimmte, gehörten wahrscheinlich auch Nicole und die anderen zu einer der beiden Gruppen. Dann würde sie, egal wie sie sich entschied, gegen einige von ihnen kämpfen müssen. Dann würde sie auch gegen Fynn oder Raymond kämpfen müssen. Und das wollte sie am allerwenigsten. Die beiden hatten so viel für sie getan, sie wollte nicht gegen einen von ihnen antreten müssen.
„Aber bis dahin ist noch Zeit“, sagte Raymond, „Zwar lässt sich von London aus nicht ganz so einfach sagen, wie weit der Planet der Vestroyen bereits vor der Sonne steht, aber die Kämpfe dürften eigentlich nicht vor Oktober losgehen, also haben wir noch Zeit, keine Sorge.“
„Man sieht mir wohl an, dass ich nicht kämpfen will“, sagte Theresa etwas unsicher.
„Ich seh´s jedenfalls“, sagte Raymond lächelnd.
„Erzähl weiter“, sagte Theresa, „Nathaniel hatte vorhin zu irgendetwas angesetzt, bevor du dich bemerkbar gemacht hast.“
„Ich wollte dir nur die völlig langweilige Gefühlsduselei ersparen“, bemerkte Raymond empört, „Das sollte ein Gefallen sein.“
„Den ich aber als Vorenthaltung ansehe“, erwiderte Theresa schmunzelnd.
„Undankbare Göre“, konterte Raymond grinsend.
„Da ist er ja wieder“, sagte Theresa lächelnd, „Der abgedrehte Spinner, den ich vermisst habe.“
„Tse.“ Raymond sah zur Seite. Dann seufzte er auf einmal.
„Was ist?“
„Wie lange will er uns eigentlich noch beobachten?“, fragte Raymond genervt.
„Wer?“, fragte Theresa stirnrunzelnd.
„Im zweiten Stock, das Fenster gleich geradeaus.“
„Hä?“ Theresa blickte verwirrt zu dem beschriebenen Fenster und erschrak ein wenig. Fynn stand dahinter und sah sie an. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass sein Blick eiskalt war.
„Mich würde ja mal eine Sache interessieren“, sagte Raymond ohne Theresa anzusehen, „Was macht ihm wohl mehr Sorgen? Dass ich dir etwas tun könnte oder dass Ryszard versuchen könnte etwas zu machen? Was glaubst du?“
Theresa sah ihn verwirrt an. Raymond klang nicht sehr beunruhigt, obwohl Fynns eisiger Blick eindeutig auf ihn gerichtet war.
Raymond seufzte und schüttelte den Kopf. „Früher hatte er noch nicht diesen gruseligen Blick drauf. Manchmal frage ich mich, wann er sich den angeeignet hat.“
Theresas Blick wurde überrascht. Angeblich konnten die beiden sich doch nicht ausstehen, aber Raymond machte gar nicht den Eindruck, als hasse er Fynn so abgrundtief, wie er allen immer weiß machen wollte. Eher so, als würde er etwas vermissen.
„Tja, aber er ist und bleibt ein dummer, blonder Strohkopf.“
Na ja, vielleicht so etwas Ähnliches wie vermissen. Theresa blickte resigniert wieder zu Fynn, der jedoch nicht mehr an dem Fenster stand. Theresa blinzelte verwirrt. Hätte Raymond ihn nicht auch gesehen, hätte sie Fynns Erscheinen auch für einen Streich ihrer Fantasie gehalten. Aber in einem Punkt hatte Raymond Recht. Wann hatte Fynn wohl diesen Blick bekommen? Das fragte sich auch Theresa schon die ganze Zeit über. Ob dafür auch ein schlimmes Erlebnis der Auslöser war, konnte sie nicht sagen.
Raymond beobachtete sie von der Seite, während sie auf das leere Fenster starrte. In seinen Augen lag ein leicht trauriger Ausdruck, doch dann begann sein linkes Auge zu zucken.
Theresa fiel dies auf und sie sah ihn wieder verwirrt an.
„Frag nicht“, sagte Raymond gereizt, „Ryszard legt es nur gerade wieder darauf an, mich wütend zu machen.“
„Wie jetzt?“, fragte Theresa stirnrunzelnd.
„Seit er gemerkt hat, dass ich nicht so einfach sterbe und mir von ihm auch nicht das Leben versauen lasse, hat er es sich zur Aufgabe gemacht mir auf den Geist zu gehen“, knurrte Raymond, „Bei schönen Mädchen ist es am schlimmsten, seine Gedanken zu hören bringt mich jedes Mal an den Rand des Wahnsinns.“
„Oje“, sagte Theresa mit einer hochgezogenen Augen-braue, „Also ein Mörder mit einem Hang zum Playboy.“
Raymond unterdrückte ein Kichern. „So in etwa ja.“
„Also so etwas ist mir auch noch nicht begegnet“, sagte Theresa resigniert, „Würden die Mädchen bei seiner Ausstrahlung nicht das Weite suchen?“
„Was glaubst du wohl, versuche ich ihm jedes Mal wieder klarzumachen?“, fragte Raymond, „Aber hört er auf mich? Nein. Wieso auch? Er ist ein perverser Idiot, dessen Gedanken ich hören und mit dem ich mir einen Körper teilen muss.“
„Das war bestimmt nicht leicht“, sagte Theresa betrübt.
Raymond lächelte kurz etwas schief, wurde dann aber auch wieder ernst. „Kann man so sagen“, seufzte er, „Ich konnte das früher bei weitem nicht so gut kontrollieren, deshalb hatten alle Angst, dass Ryszard jeden Moment übernehmen könnte. Nathaniel, sein Vater und mein Meister waren wahrscheinlich die Einzigen, die mich nicht.. wie sagtest du doch gleich? Die mich nicht für eine tickende Zeitbombe gehalten haben. Und wenn ich doch gegen Ryszard verloren hatte, haben sie aufgepasst, dass nichts passiert und abgewartet, bis ich das von alleine wieder in den Griff bekommen habe. Aber erklär das mal den anderen Leuten aus der Familie, die die Gerüchte um Ryszard kennen. Keiner hat geglaubt, dass ich es schaffen könnte Ryszard in den Griff zu bekommen. Entsprechend gering war die Anzahl an Freunde, die ich hatte, denn mein Meister und auch Nathaniels Familie konnten mich verständlicherweise auch nicht zu einer normalen gehen Schule lassen. Wenn Ryszard sich richtig auflehnt, so wie vorhin erst, habe ich selbst heute keine sehr große Chance ihn zurückzuhalten. Beinahe hätte er sogar dich ange-griffen, obwohl du noch nicht mal deine Kräfte besitzt...“
„Hör auf dir Vorwürfe zu machen“, sagte Theresa mitfühlend, „Du hast es doch geschafft, zu verhindern, dass er mich angreift.“
„Aber das war verdammt knapp“, warf Raymond ein, „Leider kann Ryszard schon seit einer Weile ziemlich gut bestimmen, wann ich am schwächsten bin und er es leicht hat die Kontrolle zu übernehmen.“
„Und wann ist das?“, fragte Theresa unsicher.
Raymond verdrehte die Augen. „Am schlimmsten ist es, wenn ich mich aufrege. Anscheinend lässt meine Konzen-tration dabei nach und Ryszard hat den Bogen schon ziemlich gut raus, mich an solchen Stellen in die Knie zu zwingen.“
„Wann wirst du denn wüten...“ Theresa brach die angesetzte Frage ab. Sie kannte die Antwort bereits.
„Fynn“, sagte Raymond nur herablassend, „Wenn ich ihn schon sehe, bekomme ich Lust, ihm eins auf´s Maul zu hauen.“
„Ah ja“, sagte Theresa. Dann gestaltete sich das wirklich schwierig, denn die beiden Streithähne hatten ja auch noch das Talent ständig aufeinander zu treffen. Und das bei so einem großen Internat, Theresa seufzte nur.
„Na ja, der Einzige, auf den ich eigentlich noch höre, wenn es um den alten Besserwisser geht, ist Nathaniel“, sagte Raymond, „Er war mir in den schwersten Jahren immer ein guter Freund und hat mich nie enttäuscht. Ich rege mich zwar auch gerne über ihn auf, aber im Grunde wüsste ich nicht, was ich ohne ihn machen würde.“
„Hab ich´s mir doch gedacht“, sagte Theresa lächelnd, „Ihr zwei seid wirklich gute Freunde.“
„Ist das so offensichtlich?“
„Für mich schon.“
„Komisch, wo du doch sonst nicht gerade die Hellste zu sein scheinst, was die Gefühle anderer Menschen angeht“, bemerkte Raymond nachdenklich.
„Hey!“, sagte Theresa empört, „Das hört sich ja gerade so an, als wüsstest du etwas, das mir entgangen ist.“
„Vielleicht“, sagte Raymond nur lächelnd. Er blickte jedoch auf einmal ein wenig traurig drein.
„W-Was hast du?“, fragte Theresa verwirrt.
„Nicht nur du sprichst nicht oft so offen mit anderen...“
Theresa war jetzt wirklich überrascht. Wie hatte er gemerkt, dass sie solch offene Gespräche nicht gewöhnt war?
„Ich mach das eigentlich auch nicht“, sagte Raymond und sah auf das Gras, „Jedenfalls schon seit ziemlich langer Zeit nicht mehr.“
Theresa blickte sich um. Die Stimmung war schon wieder den Bach runter gegangen. Irgendwie schien sie bei Raymond ein regelrechtes Talent dafür zu haben, die Stimmung zu versauen. Sie konnte sich aber auch denken, warum Raymond schon lange nicht mehr so offen mit anderen gesprochen hatte. Das lag wahrscheinlich an Ryszard. Und da Raymond diese lockere Art hatte, fiel es nicht weiter auf, dass er nicht über sich sprach.
„Schon komisch dass ausgerechnet ein eigentlich voll-kommen unwissendes Mädchen wie du mir zuhört“, sagte Raymond nachdenklich, „Andere hätten mich entweder für verrückt erklärt oder wären schreiend davongelaufen, weil sie sich vor Ryszard fürchten, wie alle aus meiner Familie. Und ausgerechnet du scheinst dich trotz deiner Gefü.. Ausgerechnet du hast Mitleid.“
Theresa sah ihn verwirrt an. Diese Miene hatte er vorhin schon gezogen, doch da hatte Nathaniel ihn zurechtge-wiesen.
„Ich bin echt erbärmlich...“
Theresa ballte die Faust und rammte sie ihm einfach von oben auf den Kopf.
„AUA!“ Raymond sah sie überrascht an. „Wofür war das denn jetzt?“
„Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich so betrübt und niedergeschlagen wie eben nicht ausstehen kann“, sagte Theresa streng, „Und da Nathaniel nicht hier ist, muss ich dich wohl stoppen. Also hör auf mit dem Schwachsinn, du bist keineswegs erbärmlich.“
„Wenn du wüsstest...“
„Willst du noch was auf die Glocke haben?“, fragte Theresa drohend und hob die Faust.
„Eh.. ich verzichte.“ Raymond wirkte ziemlich erstaunt.
„Gut, dann hör auf hier den Trauerkloß zu spielen“, sagte Theresa seufzend, „Ich hab zwar keine Ahnung, was du hast.. Mitleid habe ich vielleicht ein bisschen mit dir, aber falls du dir darum solch einen Kopf machst, allein aus Mitleid würde ich mich nicht in deiner Nähe aufhalten. Mir gefällt deine deprimierte Miene einfach nicht und ich will, dass du sofort aufhörst, so ein Gesicht zu ziehen. Ich wäre dir also sehr dankbar, wenn du meine Bemühungen nicht immer ins Leere laufen lassen würdest, sondern dich einfach damit abfindest, dass ich dir helfen will. Ist das denn so schwer für dich?“
Raymond sah sie eindringlich an. „Wenn ich gleich etwas mache, versuchst du dann wieder mich zu schlagen, wie bei unserem ersten Gespräch hier draußen?“
Theresa kam die Erinnerung sofort wieder in den Kopf. Er hatte sie aus heiterem Himmel geküsst und sie hatte daraufhin versucht ihn zu schlagen, doch er war ihr immer mit übermenschlicher Geschwindigkeit ausgewichen. Sie presste die Hand auf ihren Mund und starrte Raymond entgeistert an.
„Nicht so wie du gerade denkst“, sagte Raymond und sah zur Seite, „Aber vergiss es, ich kann dich verstehen.“
Theresa bekam aus einem ihr unbegreiflichen Grund sofort ein schlechtes Gewissen. Raymond schien nicht auf Späße aus zu sein und wirkte wirklich nicht sehr glück-lich. Er kam ihr irgendwie wie ein verlorenes Kind vor, das nicht wusste, wohin es sollte.
„Ich mach nichts“, sagte sie. Zwar konnte sie sich selbst nicht verstehen, doch das war ihr in dem Moment ziemlich egal. Man konnte sich auch um einen sorgen, wenn man einen anderen liebte.
Raymond sah sie verwirrt an. „I.. ist schon gut.“
„Es ist in Ordnung“, sagte Theresa lächelnd.
Raymond wirkte wirklich erstaunt und schien mit sich selber zu ringen. Oder aber mit Ryszard, wie Theresa in dem Moment in den Kopf kam. Dann beugte er sich auf einmal zur Seite und legte seine Arme um Theresa. Diese war vollkommen überrascht, als er sie sanft an sich zog. Sie hatte absolut keine Ahnung, was nun wieder los war, doch sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Haar und das Blut schoss ihr in die Wangen.
„W-Was?“
„Bleib einfach so“, flüsterte Raymond, „Nur eine Weile.“
Theresa wusste nicht, woher sie die Gewissheit nahm, doch sie wusste, dass Raymond die Augen geschlossen hatte. Und irgendwie fiel es auch ihr schwer, ihre Augen offen zu halten. Sie kannte dieses entspannende Gefühl nicht, doch es fiel ihr sehr schwer dagegen anzukommen. Ihr ganzer Körper wollte einfach nachgeben und seine Spannung aufgeben. Was zur Hölle war mit ihr los? Doch sie hatte Raymond ihr Wort gegeben nichts zu machen und das musste sie halten, also konnte sie auch nicht versuchen diesem Gefühl auf dem Wege zu entkommen. In dem Moment spürte sie aber, wie Raymond ihr sanft über das Haar strich. Dann ließ er sie los und stand auf.
Theresa sah ihm verwirrt nach, als er ohne ein Wort zum Internatsgebäude ging und es durch einen der Nebenein-gänge betrat. Das seltsame Gefühl ließ erst eine ganze Weile später wieder nach. Es war fast wie ein Schlafmittel. Wenn Theresa sich nur ein bisschen darauf einließ, wollte sie sich am liebsten zusammenrollen und schlafen. Und das Gefühl mit in ihre Träume nehmen. Theresa fragte sich, ob sie Fieber hatte. Ihr ganzer Kopf war heiß und sie war sie nicht sicher, ob die Röte bereits wieder gewichen war.
Als Theresa wieder in ihrem Zimmer war, war sie immer noch verwirrt. Aus Raymond wurde sie einfach nicht schlau. Er schaffte es immer wieder sie aufs Neue zu verwirren. Sie war aber auch über sich selber verwirrt. Warum hatte sie sich in seinen Armen auf einmal so wohl gefühlt? Was war nur los mit ihr? Außerdem war da auch noch die Sache mit den Gesandten des Lichts und der Finsternis. Sie hatte zwar so weit verstanden, was Nathaniel ihr da alles erzählt hatte, doch irgendwie konnte sie es trotzdem nicht so ganz begreifen. Dass an der Sache etwas dran war, hatten Nathaniel und Ryszard bereits bewiesen. Doch dass sie die Kyra sein und auch noch im Mittelpunkt des ganzen stehen sollte, konnte sie nicht glauben. Das war einfach unmöglich.
Am nächsten Morgen verkündete ihr Klassenlehrer Mr Jukashni, dass für nächste Woche ein Ausflug in die Innenstadt Londons angesetzt worden war. Einige aus der Klasse hatten zwar schon Gerüchte gehört, doch die Nachricht sorgte trotzdem für eine ziemliche Begeisterung unter den Mitschülern.
Theresa war da allerdings etwas weniger begeistert. Ihre Befürchtungen vom Vortag kamen ihr wieder in den Sinn. Die Gedanken, über die sie sich den Kopf zerbrochen hatte, bevor Raymond dazwischengefunkt und sie dann für den Rest des Tages abgelenkt hatte. Einerseits wollte sie Clare und Leah wiedersehen, doch andererseits fürchtete sie sich auch vor dem Aufeinandertreffen. Es war zwar gar nicht sicher, dass sie die beiden überhaupt treffen würde, doch es war durchaus möglich, da die beiden wahrschein-lich auch ohne Theresa gerne einkaufen gingen. Während ihre Mitschüler lauthals diskutierten, da Mr Jukashni den Klassenraum verlassen hatte, saß Theresa still auf ihrem Platz und starrte die Tischplatte an.
„Hey du trübe Tasse.“
Theresa sah verdutzt auf. Raymond stand vor ihr. Und von seinem gestrigen Trübsinn war anscheinend nichts mehr übrig. „Du siehst ja schon wieder aus wie sieben Tage Regenwetter“, stellte Raymond mit einer hochgezo-genen Augenbraue fest, „Und deine Bullaugen hast du auch wieder auf der Nase.. Was ist nur los mit dir?“
„Ä-Äh...“ Theresa war zu erstaunt, um sofort zu antwor-ten. Mit Raymonds Stimmungswechseln kam sie nicht mehr mit. Als sie ihn zu Letzt gesehen hatte, wirkte er ziemlich traurig und jetzt wieder aufgedreht wie eh und je. Wer sollte da noch mitkommen?
„Kannst du auch noch etwas anderes, als ‚äh‘ sagen?“, fragte Raymond lächelnd, „Oder ist das heute nicht möglich?“
„D-Doch“, sagte Theresa und versuchte dabei nicht allzu überrascht zu klingen.
„Und?“
Theresa sah lediglich ausweichend zur Seite.
Raymond seufzte daraufhin nur, nahm ihre Hand und zog sie kurzerhand mit sich mit.
„H-Hey!“ Theresa wich überrascht ihren Mitschülern und den Tischen und Stühlen aus. Die anderen sahen sie nur etwas verwirrt an, als Raymond Theresa einfach aus der Klasse zog. Er hielt auch erst ein Stück weiter den Gang hinauf an, als sie die Stimmen aus ihrer Klasse nur noch sehr leise hören konnten.
„Was soll das?“, fragte Theresa, „Mr Jukashni wird doch gleich...“
„Der kommt nicht so schnell wieder“, sagte Raymond grinsend, „Da er die Anmeldeformulare ausdrucken will, wird er eine ganze Weile beschäftigt sein. Das ist immer so. Er scheint seine Probleme mit dem Drucker zu haben, daher kann das ´ne Zeit lang dauern.“
„Ach so.“
„Und? Was bedrückt dich nun?“
Theresa sah wieder zur Seite. Sie wusste nicht, ob sie antworten sollte. Irgendwie hatte sie immer so eine Block-ade, wenn sie über ihre eigenen Gefühle reden wollte. Das fiel ihr verflixt schwer.
„Hey?“ Raymond beugte sich auf einmal vor und sah ihr so direkt in die Augen. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von Theresas entfernt und sie lief auf der Stelle rot an.
„Wenn du nicht bald mit der Sprache rausrückst, muss ich andere Seiten auffahren.. und die willst du nicht kennen lernen“, sagte Raymond und grinste gehässig.
„D-D-Du hast doch ´ne Macke“, stotterte Theresa und versuchte die Röte wieder zu verscheuchen.
„Vielleicht“, sagte er nur lächelnd, „Aber ich kann mich nicht beklagen. Und nun sag schon, ich werde den anderen schon nichts erzählen.“
„Aber.. du redest doch immer so locker mit jedem“, sagte Theresa unsicher. Sie erinnerte sich an gestern im Café. Dort hatte er auch sorglos mit einigen ihr unbekann-ten Mädchen geplappert.
„Bist du eifersüchtig?“
„Bist du denn jetzt vollkommen durchgeknallt?“, fragte Theresa entgeistert, „Nie im Leben.. es ist nur.. dir könnte doch unabsichtlich etwas herausrutschen...“
Raymond seufzte hörbar. „Ich hab in den vergangenen Jahren nun wirklich gelernt, wie man locker plaudert, aber gleichzeitig auch darauf achtet, nichts Falsches zu sagen.“
Er hatte wahrscheinlich Recht, das musste Theresa einräumen.
„Oder willst du lieber mit Fynn reden?“
Sie sah Raymond verwirrt an. Schon wieder fing er so an. Und dabei wirkte er jedes Mal so verdammt unglück-lich, wenn er so sprach. Wenn er von ihr und Fynn redete.
„Nein“, sagte Theresa klar, „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt mit jemanden darüber reden will. Das hat nichts mit dir oder Fynn zu tun.“
„Du bist einfach zu schüchtern.“
Theresa blieb glatt der Mund offen stehen. „Sag mal, wie schnell wechselt deine Stimmung eigentlich? Kannst du vielleicht mal irgendeinen Stimmungsbarometer an deiner Stirn befestigen, damit ich weiß, ob du fröhlich oder deprimiert bist?“
„Keine Lust“, sagte Raymond und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, „Aber wenn du nicht langsam mal redest, kommt M. Jukashni wirklich zurück bevor wir fertig sind.“
Theresa verdrehte die Augen. Sie wusste einfach nicht, ob sie darüber reden wollte oder nicht.
„Vielleicht hilft es dir ja darüber zu reden“, sagte Raymond, „Du hast gestern selber gesagt, dass es helfen kann, wenn man seine Sorgen teilt. Also was ist? Stehst du zu deinen Worten?“
Theresa sah ihn nur verdutzt an. „Hör auf meine eigenen Worte zu benutzen um mich zum Reden zu bringen!“
„Nö.“
„Du bist echt unglaublich“, sagte Theresa resigniert.
„Das fällt dir erst jetzt auf?“ Raymond grinste. „Und nun rede.“
„Sind wir hier bei einem Verhör?“
„Hör auf mir auszuweichen.“
„Nö.“
„Du freches Suppenstück.“
„Hör auf mich zu beleidigen“, sagte Theresa empört, „Ich hab dich doch auch nicht beleidigt.“
„Wer sagt denn, dass das eine Beleidigung war?“, fragte Raymond, „Darf ich dich nicht ein bisschen necken?“
„Nein, darfst du nicht“, sagte Theresa und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Tja, ich hatte aber nicht vor damit aufzuhören“, sagte Raymond lächelnd, „Also rede endlich.“
„Du gibst wohl nie auf“, seufzte Theresa.
„Nein. Nicht wenn es um jemanden geht, der mir wichtig ist“, bemerkte Raymond.
Sein warmes Lächeln löste in Theresa irgendwie ein eigenartiges Gefühl aus. Außerdem wurde ihr die Bedeu-tung seiner Worte klar, doch sie schüttelte den Kopf. Das konnte nun am allerwenigsten ein. „Schwachkopf“, sagte sie nur und blickte ausweichend zur Seite.
„Nun komm endlich“, sagte Raymond, „Sonst nerve ich dich diesen und die ganzen nächsten Tage, bis du endlich redest.“
„Das machst du nicht, das dauert viel zu lange.“
„Glaubst du wirklich?“, fragte Raymond grinsend, „Ich hab eine ziemliche Ausdauer, wenn ich will.“
„Oje...“ Theresa seufzte.
„Rede.“
„Nein.“
„Rede.“
„Nein.“
„Rede.“
„MAN!“ Theresa reichte es langsam wirklich. „Musst du mich auch noch ärgern? Das womögliche Wiedersehen mit Clare und Leah bereitet mir nun wirklich schon genug Kopfschmerzen...!“
Mist, jetzt hab ich doch angefangen
„Na also, den Anfang hätten wir.“ Raymonds Grinsen hätte nicht breiter sein können. „Fehlt nur noch der Rest.“
Theresa sah nur zur Seite. Warum musste sie sich nur immer verplappern?
„Wenn ich mich nicht täusche, sind Clare und Leah also deine Freundinnen“, überlegte Raymond, „Und wenn ich deine grüblerische Miene und dein anscheinend ziemlich angespanntes Verhalten richtig interpretiere, hast du aus irgendeinem Grund Angst davor, die beiden wiederzu-sehen.“
„Warum fragst du eigentlich, wenn du dir eh alles selber zusammenreimen kannst?“, fragte Theresa nur resigniert.
„Weil ich es von dir selber hören will“, sagte Raymond, „Und nun bitte ausführlich von dir.“
„Du bist wirklich ganz schön durchtrieben. Weißt du das?“
„Ja“, sagte Raymond nur lächelnd.
„Clare und Leah.. wenn wir nach London fahren, sehe ich womöglich meine alten Freundinnen wieder“, sagte Theresa betrübt, „Ich hatte nie eine Möglichkeit ihnen die Umstände zu erklären, warum ich auf dieses Internat musste, daher habe ich Angst davor sie wiederzusehen. Ich weiß nicht, was sie denken werden und ich weiß nicht, was ich sagen soll, wenn ich sie sehe. Schließlich bin ich, aus ihrer Sicht, plötzlich einfach nicht mehr aufgetaucht und ich bin mir nicht sicher, wie viel ihnen meine Mutter erzählt hat. Vielleicht hassen sie mich.. verdenken könnte ich es ihnen nicht. Schließlich habe ich alles versucht und bin trotzdem gescheitert. Ich tauge einfach zu nichts und habe es noch nicht mal geschafft, ihnen auch nur eine Karte zu schicken.. sie werden mir das nie verzeihen...“
Raymond sah sie kurz an, dann fing er plötzlich an zu lachen.
Theresa sah ihn vollkommen verwirrt an. „Was gibt es denn da bitteschön zu lachen?“
„Tut mir leid“, kicherte Raymond, „Aber du bist wirklich eine Marke, echt unglaublich.“
An Theresas verwirrter Miene hatte sich nichts geändert.
„Gott Mädchen.“ Raymond schüttelte nur grinsend den Kopf. „Glaubst du nicht, dass du deinen Freundinnen etwas mehr Vertrauen entgegenbringen solltest? Sie werden dich doch sicher auch wieder sehen wollen, also warum machst du dir so viele Gedanken? Ihr seid schließlich Freunde. Wenn eure Freundschaft so was wie das hier nicht aushält, war sie es nicht wert.“
Theresa starrte ihn verdattert an. Dennoch, wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte er wahrscheinlich Recht.
„Aber mach dir keine Sorgen“, sagte Raymond, „Eure Freundschaft scheint ja wirklich sehr tief zu sein und nicht nur oberflächlich. Ich kann es zwar nicht hundertprozentig sagen, da ich die anderen nicht kenne, aber so sehr wie du an ihr hängst, kann ich es mir eigentlich nicht anders vorstellen. Hab ein bisschen mehr Vertrauen in dich selbst und es wird schon alles gut werden. Du solltest dich darauf freuen, sie wiederzusehen, statt dich davor zu fürchten. Meinst du nicht auch?“
„Äh, ja“, sagte Theresa etwas überrascht, „Du.. hast vielleicht sogar Recht.“
„Vielleicht? Ich hab immer Recht“, grinste Raymond.
„Übertreib´s nicht“, sagte Theresa lediglich resigniert. Aber irgendwie stimmte es, er hatte ziemlich oft Recht. Außerdem hatte er ihr hiermit sehr geholfen. Nun hatte sie keine Angst mehr, Clare und Leah zu treffen. Im Gegen-teil, sie wollte sie wieder sehen. Unbedingt.
„Was macht ihr zwei hier?“
Theresa zuckte erschrocken zusammen und drehte sich ganz langsam um. Mr Jukashni stand hinter ihnen. In der einen Hand hatte er einen Stapel Zettel und die andere hatte er in die Hüfte gestemmt.
„Es ging um eine Aufgabe“, log Raymond einfach ohne mit der Wimper zu zucken, „Ich brauchte Hilfe, konnte mich aber in der Klasse nicht gut konzentrieren. Theresa war so nett und hat mir das hier draußen erklärt.“
„So?“ Mr Jukashni wirkte zwar nicht ganz überzeugt, aber gegen diese scheinbar ehrliche Aussage konnte er auch nichts sagen. „Gut, aber jetzt marsch zurück in die Klasse.“
„Jawohl.“ Raymond zwinkerte Theresa unauffällig zu und schritt voraus.
Theresa versuchte unterdessen nicht so auszusehen, als habe sie etwas verbrochen, und folgte wortlos Raymond.
In der Klasse kehrte schnell Ruhe ein und Mr Jukashni verteilte die Anmeldeformulare, die jeder Schüler ausfül-len und unterzeichnen musste. Jeder, bis auf Theresa. Sie hatte gar kein Formular erhalten.
„Mr Jukashni?“, fragte sie, als er gerade an ihr vorbei ging, „Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe noch kein Formular bekommen.“
„Hm.“ Der Lehrer drehte sich zu ihr um. „Es tut mir leid, aber das ist noch eine Folge deiner Streiche. Du wirst bei diesem Ausflug nicht mitkommen dürfen.“
„A-Ach so.“ Theresa blickte schon beinahe verstört auf die Tischplatte. Nun hatte sie plötzlich doch keine Chance mehr Clare und Leah zu treffen. Das Schicksal schien irgendwie gegen sie zu sein.
„Mach dir nichts draus“, sagte Mr Jukashni, „Beim nächsten Ausflug wirst du sicher mitkommen dürfen.“
„Das ist aber ungerecht“, warf Raymond auf einmal ein, „Wer hat gesagt, dass sie nicht mitkommen darf? Mit der Person würde ich gerne mal ein Wörtchen reden.“
„Die Sekretärin Mrs Fatilla und der Schulleiter höchst persönlich“, sagte Mr. Jukashni streng, „Mit ihm wirst du wohl kaum ein Wort reden.“
„Aber ich weiß, wen ich statt ihn sprechen kann“, sagte Raymond und sein Lächeln wurde finster.
Theresa wusste sofort, wen er meinte. Fynn. „Lass es“, sagte sie beschwichtigend, „So wichtig ist es nicht...“
„Und wie wichtig das ist“, erwiderte Raymond, „Wenn du etwas willst, musst du den Mund aufmachen. Versteck dich nicht immer, sondern sag, was du willst.“
Theresa sah zur Seite. Sie wusste, dass er Recht hatte. Doch sie konnte einfach nicht über ihren eigenen Schatten springen. Das konnte sie noch nie.
Auch einige andere Klassenkameraden versuchten noch Mr Jukashni dazu zu überreden, Theresa auch eines der Formulare zu geben, doch der Lehrer ließ nicht mit sich reden. Am Ende des Unterrichts verließ er das Klassen-zimmer auch recht schnell.
Theresa blieb auf ihrem Platz sitzen und seufzte. Da hatte sie endlich ihre Angst vor dem Treffen mit Clare und Leah überwunden, hatte aber nun keine Chance mehr sie zu sehen. Es war doch wirklich zum Heulen. Dabei schien eigentlich die Sonne, auch wenn einige Wolken über den Himmel wanderten, es schien zunächst so ein schöner Tag zu werden.
„Hier.“
Theresa zuckte erschrocken zusammen. Irgendjemand hielt ihr eines der Anmeldeformulare direkt vor die Nase.
„Bitte?“ Theresa schob den Zettel zur Seite und sah verblüfft, dass David mit den roten Haaren vor ihr stand.
„Du hast doch keines“, sagte David. Er sah dabei jedoch zur Seite. „Und ich kann mir jederzeit ein Neues besor-gen, also nimm schon.“
Theresa sah ihn etwas überrascht an. Aber da er keine Anstalten machte, sein Angebot zurückzuziehen, nahm sie zögerlich das Formular.
„Und das ist wirklich in Ordnung?“, fragte sie unsicher, „Bekommst du keinen Ärger?“
„Ach was“, wehrte David ab. Er sah aber immer noch zur Seite. „Ich kenn viel Schlimmeres.“
Einen Moment lang war Theresa noch überrascht, doch dann lächelte sie froh. „Vielen Dank“, sagte sie, „Du tust mir damit einen unheimlich großen Gefallen.“
Nun hatte David sie doch angesehen und war beinahe auf der Stelle leicht rot geworden.
„Hey hey heeeeey...“ Raymond tauchte auf einmal grinsend hinter David auf. „Du bist ja ein ganz schöner Casanova. Wirklich nett von dir, wo du sie doch am Anfang eigentlich nicht ausstehen konntest...“
„Halt die Klappe!“, sagte David schockiert, „Das ist doch alles völliger Schwachsinn!“
„Ach ja?“ Raymond grinste breit. „Und warum bist du dann so verlegen?“
„B-Bin ich doch gar nicht!“ David war inzwischen deutlich rot angelaufen und gestikulierte wild mit den Händen, während Raymonds Grinsen von Sekunde zu Sekunde breiter wurde und bald von einem Ohr bis zum anderen reichte.
Theresa konnte inzwischen nicht mehr an sich halten und lachte. Die beiden waren einfach zu komisch. Daraufhin hielten die beiden Jungen inne und sahen sie an.
„Hey, du lachst ja mal wieder“, stellte Raymond fest, „Eine richtige Seltenheit, in den Genuss kommt man nicht oft.“
„Spinner“, lachte Theresa, die sich noch nicht wieder beruhigt hatte.
Davids Kopf war zwar zur Seite gerichtet, doch aus den Augenwinkeln sah er sie an. Raymond fiel das natürlich augenblicklich auf.
„Den Anblick solltest du genießen“, flüsterte er David grinsend ins Ohr, „Sie findet bestimmt bald wieder was, worüber sie sich sorgen kann, also präge dir das Bild gut ein.“
„Hör auf mit dem Mist!“, sagte David überrascht.
„Was flüstert ihr da schon wieder?“, fragte Theresa schmunzelnd, „Welchen Schwachsinn heckt ihr diesmal aus?“
„Wieso Schwachsinn?“, fragte Raymond, „Bisher hatten doch alle Pläne Hände und Füße und haben funktioniert.“
„Na davon bin ich nicht so ganz überzeugt“, sagte Theresa.
„Ach ja?“
„Was soll dieses Grinsen schon wieder?“, fragte Theresa teils misstrauisch, teils resigniert. Irgendwas heckte er doch schon wieder aus.
David sah nur etwas verwirrt zwischen den beiden hin und her.
Theresa ging schließlich schnell zu ihrem Zimmer und füllte als erstes das Anmeldeformular aus. Danach ging sie zum Essen. Heute würde sie nicht mit Nicole, Jessica und Vanessa zusammen essen gehen, denn die Klasse der drei arbeitete anscheinend an einem Projekt und sie wussten nicht, wann sie Zeit zum Essen fanden. So war Theresa heute mal wieder für sich.
Doch als sie gerade an einem der schmaleren Gänge vorbei kam, die vom Hauptgang abzweigten, hielt sie inne. Fynn stand in der Mitte des Gangs und betrachtete ein Bild, das an der Wand hing. Dann drehte er jedoch den Kopf und sah sie an.
Theresa ging verwirrt auf ihn zu. „Was machst du hier? Müsstest du nicht schon mit Alicia im Café sein?“
„Nicht unbedingt“, sagte Fynn nur.
„Was ist los?“, fragte sie etwas verwirrt. Fynn wirkte irgendwie betrübt und schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Das kannte sie von ihm gar nicht.
„Nichts.. wieso?“
„Weil du komisch bist“, sagte Theresa unverblümt.
Fynn blickte jedoch über ihren Kopf hinweg und schien irgendetwas anzusehen.
Theresa drehte sich daraufhin verwirrt um, doch sie konnte nichts entdecken. Dann legte Fynn auf einmal seine Arme um sie und zog sie an sich, sodass Theresa mit dem Rücken an seiner Brust lehnte. Sie starrte nur verwirrt auf den roten Teppich. Was war denn jetzt los?
„F-Fynn?“ Theresa spürte sofort wie sie rot anlief. Diese plötzliche und vollkommen unerwartete Geste verwirrte sie komplett. Und doch wollte sie sich am liebsten entspannen und einfach an seine Brust lehnen, sie wollte dem angenehmen Gefühl nachgeben.
„Halt dich von Raymond fern“, sagte Fynn leise, aber eindringlich, „Er ist gefährlich.“
Theresas Augen weiteten sich ein Stück.
„Bitte, er ist unberechenbar und ich will nicht, dass dir etwas zustößt“, flüsterte Fynn eindringlich.
Theresa wusste nicht, was sie denken sollte. Durch seine plötzliche Nähe war sie außerstande klar zu denken. Es war schwer überhaupt etwas zu denken. Dann zog Fynn sie auf einmal noch näher an sich und Theresa gab den Versuch auf, den Faden wiederzufinden. Es hatte sowieso keinen Zweck. Sie legte den Kopf nach hinten an seine Brust und schloss einfach die Augen. Sie kam sich vor wie in einem wunderbaren Traum.
Dann waren jedoch plötzlich Schritte zu hören und als Theresa es endlich schaffte ihre Augen zu öffnen, sah sie Raymond. Er stand am Anfang des Ganges und starrte sie und Fynn an. Er wirkte vollkommen fassungslos. Theresa spürte im selben Moment, wie sich Fynns Griff um sie versteifte und sie wusste, dass er Raymond feindselig anstarrte.
Eine Weile herrschte Schweigen, dann klärte sich Raymonds entgeistertes Gesicht. Ein herablassendes und vor allem feindseliges Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit. „Was ist?“, fragte er, „Störe ich?“
Theresa erschrak bei seiner Stimme. So feindselig hatte er noch nie geklungen. Ihr sträubten sich beinahe schon die Nackenhaare.
„Was willst du?“, fragte Fynn drohend und ohne Theresa loszulassen.
„Hm, lass mich nachdenken“, sagte Raymond verächt-lich, „Wie wäre es mit deinem Verschwinden?“
„Abgelehnt“, sagte Fynn eiskalt, „Wenn du sonst nichts willst, kannst du genauso gut verschwinden.“
„Du weißt, was ich will“, erwiderte Raymond. Im selben Moment zuckte er jedoch zusammen und atmete schwer.
„Abgelehnt“, wiederholte Fynn kalt.
Raymond verzog das Gesicht und rang nach Atem. Er schien etwas erwidern zu wollen, doch er krümmte sich vor Schmerz.
„Hör auf Raymond!“, rief Theresa nur entgeistert. Wenn das so weiterging, würde Ryszard gleich übernehmen und das würde unter Garantie kein gutes Ende nehmen.
Raymond schüttelte nur den Kopf, während er versuchte ruhig zu atmen.
„So etwas Bescheuertes habe ich wirklich schon lange nicht mehr gesehen“, sagte Fynn auf einmal verachtend, „Kennt seine eigenen Grenzen nicht und bringt damit andere in Gefahr. Wie töricht muss man eigentlich sein, um so wie du zu enden?“
„Verfluchter Bastard!“, keuchte Raymond und fasste sich krampfhaft an die Brust.
„Hör auf!“
„Dass sie dich damals nicht umgebracht haben, wundert mich wirklich“, sagte Fynn nur.
Raymond zuckte erneut heftig und Theresa konnte deutlich sehen, wie sehr ihm das wehgetan haben musste. Solche Worte von einem ehemaligen Freund, dieser Schmerz war kaum nachvollziehbar. Dann ging Raymond in die Knie und atmete nur noch stoßweise.
„Verschwinde endlich!“, rief Theresa. Ihr war durchaus klar, dass sie Raymonds Wunde damit nur noch ver-größerte, doch sie wusste einfach nicht, wie sie ihn sonst aufhalten sollte.
Raymond sah sie einen schrecklich langen Augenblick lang an. Ihre Blicke trafen sich und die eine Sekunde kam Theresa mehr wie eine ganze Minute vor. Sie flehte stumm, dass er aufhören sollte, sich selber so zuzurichten. Dabei vergaß sie nur, in wessen Armen sie sich befand und wie das Ganze damit für Raymond aussehen musste.
Dann verzog sich Raymonds rechter Mundwinkel und so etwas Ähnliches wie ein schiefes Lächeln entstand. Schließlich kam er schwankend wieder auf die Füße und sah sie noch einmal kurz an. Theresa hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und getröstet, so ein verzweifeltes Gesicht hatte sie noch nie gesehen, doch Fynn hielt sie immer noch fest. Dann drehte Raymond sich um und ging taumelnd zurück in den Hauptgang, wo er um eine Ecke bog und aus Theresas Blickfeld verschwand.
Sie kam sich in dem Augenblick so mies vor, obwohl sie noch nicht einmal genau wusste, warum sie immer so ein schlechtes Gewissen bekam, wenn sie Raymond wehtat. Es war fast so als würde sie jedes Mal auch sich selber ein Messer in die Brust rammen. Es tat weh. Furchtbar weh.
„Komm ihm nicht zu nahe“, sagte Fynn leise, „Er ist eine Gefahr für uns alle. Besonders für dich...“
„Warum?“, fragte Theresa, „Warum ist er gefährlich?“
„Ich kann es dir nicht erklären“, sagte Fynn nur, „Aber wenn er sich so benimmt wie eben, musst du verschwin-den. Versprich es mir.“
Theresa war etwas verwirrt, dann fiel ihr wieder ein, dass Fynn nicht bewusst war, dass sie bescheid wusste. Dass sie inzwischen wusste, was an diesem Internat vorging.
„Er hat es doch soweit ganz gut unter Kontrolle“, sagte Theresa tonlos, „Ich denke nicht, dass es so gefährlich ist, wie du denkst.“ Sie befreite sich aus Fynns Armen und sah ihn an. „Warum hasst du Raymond so sehr?“
Fynn wirkte überrascht angesichts ihrer Frage. „W-Warum ich ihn hasse?“
Theresa nickte nur.
„Dafür gibt es viele Gründe“, sagte Fynn nur auswei-chend, „Aber das Schlimmste ist noch, dass er alle hier mit seinem Leichtsinn in Gefahr bringt. Wenn er nicht bald vernünftiger wird, werde ich ihm das nicht mehr durchgehen lassen können.“
Theresa wurde langsam klar, dass Fynn seine Meinung nicht ändern würde. Egal was sie sagte. Er schien aus irgendeinem Grund furchtbar verbittert zu sein, nicht bereit seine Meinung zu ändern. In dem Moment kamen ihr seine Worte wieder in den Kopf. Dass sie ihren eigenen Weg finden musste, um aus dem Internat zu ver-schwinden. Theresa musste einen Weg finden Fynn und Raymond wieder miteinander zu versöhnen. Sie musste ihren Weg finden und bevor sie aus dem Internat verschwand, konnte sie ja auch noch versuchen ein paar Dinge gerade zu biegen.
„Na dann“, sagte Theresa schließlich, „Mein Magen knurrt schon, ich gehe mal etwas essen.“
„Eh.. mach das“, sagte Fynn leicht überrascht.
Theresa betrat daraufhin wieder den Hauptgang. Als sie um die Ecke bog, sah sie noch, dass Fynn wieder das Bild an der Wand betrachtete. Es zeigte einen grünen Garten und einen strahlend blauen Himmel, doch vor der Sonne war ein dunkler Schatten. Ein etwas kleinerer, runder, schwarzer Schatten. Nach der Erzählung von Nathaniel, konnte Theresa bereits ahnen, um was es sich bei dem Schatten handelte. Um den Planet der Vestroyen.
Als Theresa aus dem Blickfeld von Fynn war, lief sie los. Sie rannte zur nächsten Treppe und sprang diese nach unten, auch wenn es ein wenig schwer war immer genau auf den Stufen zu landen und nicht auf den Kannten. Wo konnte Raymond hingegangen sein? Sie musste sich unbedingt bei ihm entschuldigen, ihr schlechtes Gewissen machte sie sonst noch verrückt. In seiner Verfassung würde er sich höchst wahrscheinlich von belebteren Plätzen fern halten und eher irgendwo hin gehen, wo nicht so viele Menschen waren. Theresa fiel eigentlich nur ein Ort ein, außer dem eigenen Zimmer. Sie rannte runter ins Erdgeschoss und lief durch einen der Seiteneingänge nach draußen. Dort sah sie sich um. Da Raymond nach rechts gegangen war, sie aber nach links gemusst hatte, da dort das Café war, befand er sich vielleicht irgendwo weiter rechts von ihr. Daher ging Theresa langsam in die Richtung und sah sich um. Sie fragte sich zwar auch, was sie da eigentlich machte, doch die Antwort wusste sie ja selber nicht. Eigentlich liebte sie Fynn, auch wenn dieser ihr in letzter Zeit immer fremder wurde, doch sie brachte es auch nicht fertig Raymond so verletzt zu sehen. Sie wusste nicht, warum das so war, aber ändern konnte sie es auch nicht. Also musste sie ihn finden.
Und tatsächlich lag er bei einer Baumgruppe etwas weiter hinten im Gras. Neben ihm saß Nathaniel und die beiden schienen sich zu unterhalten. Da Theresa von hinten kam und sich auch vorerst hinter einem Baum knapp fünf Meter hinter ihnen verbarg, war es nicht ver-wunderlich, dass die beiden Jungen sie nicht entdeckten.
„Du hast es wirklich übertrieben“, sagte Nathaniel, „Du konntest dir doch denken, was passiert.“
„Konnte ich das?“, fragte Raymond, „Oder habe ich es verdrängt?“
„Das weißt du besser als ich“, bemerkte Nathaniel.
„Stimmt wohl“, seufzte Raymond. Er klang ganz schön deprimiert.
Eine Weile herrschte Schweigen, in der Theresa sich fragte, ob sie raus kommen sollte oder nicht.
„Du solltest mal nachdenken bevor du handelst“, sagte Nathaniel schließlich, „Du weißt doch, dass Ryszard eine ziemliche Macht hat.“
Raymond schien einen Augenblick nachzudenken. „Ja, ich weiß es.“
„Warum musst du es dann immer wieder darauf anlegen?“
„Du weißt es doch, es wird erwartet, dass ich die Kyra auf unsere Seite ziehe“, sagte Raymond und lächelte verachtend.
Theresa blieb der Mund offen stehen. Sie hatte zwar gewusst, dass alle glaubten, sie würde entscheiden, welche Gesandten den Kampf gewannen, doch Nathaniel hatte nicht erwähnt, dass auch einige versuchen würden, sie auf ihre Seite zu holen. Sie hatte nicht erwartet, dass man versuchen würde, sie absichtlich auf eine Seite zu ziehen und sie vielleicht sogar manipulieren würde.
„Aber es ist echt zum Heulen“, seufzte Raymond und blickte gequält drein.
„Was?“, fragte Nathaniel.
„Ich kann das nicht“, antwortete Raymond nur.
Nathaniel sah ihn daraufhin verdattert an. „Du weißt, dass das höchst wahrscheinlich der einzige Weg ist wieder von deiner Familie aufgenommen zu werden. Dein Vater hat doch gesagt, dass er dich nur akzeptiert, wenn du die Kyra für dich gewinnst und damit auch den Sieg für die Gesandten der Finsternis sicherst.“
„Ich hab doch gesagt, dass das echt zum Heulen ist“, sagte Raymond, „Bei jedem anderen Mädchen hätte ich es wahrscheinlich ohne schlechtes Gewissen gemacht.. aber nicht bei ihr. Seit ich Theresas deprimiertes Gesicht gesehen habe, will ich einfach nur, dass sie lächelt. Ich will nicht, dass sie leidet. Und wenn Fynn nun mal derjenige ist, der sie glücklich macht, werde ich das akzeptieren müssen. Solange sie glücklich ist, werde ich es ertragen.“
Theresa starrte ihn völlig verdattert an. Er wollte die Chance verstreichen lassen, wieder bei seiner Familie aufgenommen zu werden? Nur damit sie glücklich war? Das war doch vollkommen absurd und bescheuert.
„Du weißt hoffentlich, dass du dich damit zugrunde richten wirst“, sagte Nathaniel bedenklich und ein wenig betrübt zugleich.
„Und wie mir das klar ist“, sagte Raymond und lächelte schief, „Aber du weißt doch, ich bin ein abgedrehter Spinner.“
Nathaniel schüttelte den Kopf. „Du machst wirklich immer genau das, mit dem kein Mensch rechnet. Selbst nach so vielen Jahren verstehe ich dich an einigen Stellen immer noch nicht. Ich dachte, Meister Tekai hätte dir gesagt, dass du DAS auf keinen Fall tun darfst.“
„Was meinst du?“, fragte Raymond mit einer hochge-zogenen Augenbraue.
Nathaniel verdrehte die Augen. „Dass du dich nicht in die Kyra verlieben darfst.“
Theresa blieb beim Wort „verlieben“ schon wieder der Mund offen stehen. Da hatte sie sich doch verhört. Raymond hatte sich doch nie und nimmer ausgerechnet in sie verliebt? Oder?
„Oh, da habe ich wohl mal wieder mit offenen Augen geschlafen“, sagte Raymond nachdenklich.
„Du bist echt unglaublich.“
Theresa stand hinter dem Baum und war sprachlos. Er meinte es tatsächlich ernst. Er meinte alles ernst...
„Was soll´s, ändern kann ich es sowieso nicht“, bemerkte Raymond und schloss die Augen, „Ich bin schon zufrieden, wenn sie lächeln kann, also vergiss es einfach.“
„Und was willst du machen?“, fragte Nathaniel.
„Na was wohl?“, fragte Raymond grinsend, „So einfach werde ich es Whitey natürlich nicht machen. Der soll erst beweisen, wie viel ihm wirklich an ihr liegt, vorher sehe ich gar nicht ein aufzuhören.“
„Du bist wirklich unberechenbar“, sagte Nathaniel, „Und hast du Ryszard vergessen?“
„Nein“, sagte Raymond resigniert, „Wie sollte ich das lautstarke etwas in meinem Kopf denn vergessen können? Der erklärt mich gerade für nicht ganz dicht und den bescheuertsten Jungen der ganzen Welt. Wenn ich ein Mann sei, sollte ich gefälligst um die kämpfen, die ich liebe...“
„Er hat dir einen Ratschlag gegeben?“, fragte Nathaniel nur mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Das fällt ihm auch gerade auf“, sagte Raymond schief grinsend, „Und er verflucht sich selbst dafür. Du solltest die Flüche wirklich mal hören, ein paar ziemlich Ausge-fallene sind dabei.“
„Nein danke“, sagte Nathaniel, „Aber du scheinst dich ja ganz gut mit ihm zu verstehen.“
„Manchmal ja, manchmal nein“, sagte Raymond, „Ganz verstehen werden wir uns unter Garantie nie, aber man lernt mit ihm zu leben.“
Nathaniel seufzte.
„Aber Fynn wird sich anstrengen müssen“, sagte Raymond lächelnd, „Ganz aufgegeben habe ich nicht und bis ich nicht sicher bin, dass er sie gut behandeln wird, werde ich nicht locker lassen.“
„Wie war das doch?“, fragte Nathaniel nachdenklich, „Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, ziehst du es auch durch. Und wenn du zum Mond reisen wollen würdest, würdest du wahrscheinlich auch irgendwann dort ankommen.“
„Ganz genau“, sagte Raymond grinsend, „Man kann alles, wenn man es nur will. Das denke ich zumindest.“
Nathaniel schüttelte wieder den Kopf.
„Aber, sollte ich den Kampf überleben, werde ich mit meinem Urgroßvater reden“, sagte Raymond, „Vielleicht kann ich Ryszard selbst versiegeln.“
„Du bist doch wahnsinnig“, sagte Nathaniel, „Weißt du eigentlich, wie viele das schon versucht haben und am Ende gescheitert sind? Und was der Preis für ihren Versuch war?“
„Dann wird es doch höchste Zeit, dass es jemand schafft“, grinste Raymond.
„Willst du es wirklich so sehr darauf anlegen?“, fragte Nathaniel. Er sah seinen Freund beunruhigt an.
„Was hätte ich schon zu verlieren?“, fragte Raymond im Gegenzug.
„Eine ganze Menge, wenn du mich fragst“, erwiderte Nathaniel.
„Da sind unsere Ansichten wohl unterschiedlich.“
„Aber erst kommt der Kampf, den wir anscheinend verlieren werden“, seufzte Nathaniel, „Wenn du stirbst, wird SIE nicht gerade sehr begeistert sein.“
„Hör mir bloß auf mit der“, sagte Raymond, der auf einmal ziemlich entnervt klang, „Wenn ich nur an sie denke, gruselt es mich.“
„Deinen Vater werde ich nie verstehen“, sagte Nathaniel kopfschüttelnd, „Er will einerseits, dass du die Kyra für uns gewinnst, und andererseits hat er auch noch das arrangiert. Was denkt der sich dabei eigentlich?“
„Das frage ich mich schon lange.“
„Aber SIE wird bald auch hier her kommen, denn ich vermute, dass sie sich langsam auch von ihrem Infekt erholt hat“, sagte Nathaniel und er klang nicht sehr begeistert.
„Ich weiß schon, warum ich das bis eben vergessen habe“, bemerkte Raymond nur resigniert, „Warum muss sie ausgerechnet auf dieses Internat kommen?“
Theresa fragte sich unterdessen, von wem die beiden Jungen sprachen. Wie es aussah, ging es um ein Mädchen, das beide anscheinend nicht leiden konnten. Das wunderte Theresa allerdings. Eigentlich hatten die beiden doch kein Problem mit Mädchen. Was an ihr wohl so abschreckend war? So ganz hatte Theresa die Erkenntnis von eben auch noch nicht verkraftet, doch sie verdrängte die Gedanken lieber.
Auf einmal sah sie allerdings einen Schatten, der ein Stück neben ihrem war. Irgendjemand stand hinter ihr. Als sie sich umdrehte, tippte dieser jemand ihr kräftig gegen die Schläfe. Theresa konnte den Jungen vor sich nur noch schemenhaft erkennen, dann sank sie schon bewusstlos in sich zusammen.
Fynn fing sie allerdings auf und nahm sie seufzend auf den Arm. Wie viel auch immer Theresa gehört hatte, es war zu gefährlich für sie in Raymonds Nähe. Sie durfte nicht hier bleiben. Durch Ryszard war Raymond einfach zu gefährlich. Auch heute konnte Fynn immer noch nicht glauben, dass Raymond seine Mitschüler einer solchen Gefahr aussetzte. Er war so ein Idiot, der ohne nachzu-denken alle auf diesem Internat in Gefahr brachte. Denn auch die Gesandten des Lichts wussten um Ryszard und seine dunklen Absichten. Er war eine absolut gefährliche Seele, die jederzeit Amok laufen konnte. Theresa durfte nicht in seiner Nähe bleiben, wenigstens bis ihre Kräfte endlich erwacht waren. Eigentlich hätte das auch schon längst der Fall sein müssen, doch sie schien eine Spätzünderin zu sein. Sie durfte nicht in Raymonds Hände fallen. Sie war so verletzlich und mit Ryszard war nicht zu spaßen. Außerdem war auch Raymond nicht gerade sehr vertrauenerweckend. Er würde Theresa doch ohne mit der Wimper zu zucken sitzen lassen. Vielleicht waren er und Raymond einmal Freunde gewesen, doch das war lange her. Er konnte Raymond nicht mehr vertrauen. Die Gesandten der Finsternis galten als unberechenbar und auch durchaus gefährlich durch die dunklen Seiten, die manche von ihnen besaßen. Fynn konnte nicht genau sagen, ob Theresas Freunde nun zu den Gesandten des Lichts oder der Finsternis gehörten, doch sie schienen nicht gefährlich zu sein. Ob sie zu den einen oder zu den anderen gehörten, konnte Fynn leider erst nach einem Kampf sagen. Und früher als unbedingt nötig wollte er eigentlich keinen Kampf auslösen. Kämpfen würden sie noch genug. Besonders Theresa würde noch mit sich selbst und der Entscheidung zu kämpfen haben, für welche Seite sie sich entschied.
Fynn betrat durch einen der Nebeneingänge das riesige Schulgebäude und brachte Theresa zu ihrem Zimmer.
Auf keinen Fall aber konnte er sie Leuten wie Raymond überlassen. Nathaniel war der einzige Gesandte der Finsternis, dem Fynn noch ein wenig Verstand zutraute. Er schien recht vernünftig zu sein und war wahrscheinlich der Einzige, der Raymond zu Not wieder ausbremsen konnte. Aber leider auch nur unzureichend. Fynn war klar, dass er Raymond bei dem großen Kampf gegenüberstehen würde. Und er würde es sein, der Raymond besiegte. Das hatte er sich bereits in den Kopf gesetzt, als sie herausge-funden hatten zu welchen Gesandten der jeweils andere gehörte. Er musste ihn besiegen, damit Raymond nicht noch jemanden ernsthaft in Gefahr brachte, der sich nicht wehren konnte. Und wenn nicht Fynn, dann würde hoffentlich Theresa an seiner Seite sein und das erledigen. Vielleicht war das sogar das noch bessere Ende. Wenn sie, die Raymond eigentlich hatte auf seine Seite ziehen sollen, sich gegen ihn wendete.
Fynn lächelte schief. Seine Gedanken klangen wie die eines Verrückten. Wie die von jemandem, der sich an seinem Erzfeind rechen wollte. Vielleicht war es auch so, doch Fynn wusste selber nicht so genau, warum er seit einiger Zeit solche Gedanken hatte. Warum er Raymond so etwas wünschte, obwohl er doch eigentlich nur wollte, dass dieser aufhörte andere in Gefahr zu bringen.
Fynn hatte eine Vermutung, doch diese lag in seinen Armen und war noch immer bewusstlos. Einige ihrer goldbraunen Strähnen waren ihr ins Gesicht gerutscht und ließen sie nur noch schöner aussehen. Fynn konnte nicht anders, er beugte sich runter und küsste sie. Er konnte einfach nichts gegen seine Gefühle machen.