Ein Mädchen und zwei Jungen mit zwei Fraktionen - die Gesandten des Lichts und die Gesandten der Finsternis. Die Entscheidung für den einen bedeuted den Untergang für den anderen und seine Fraktion und andersherum genauso. Wie wird diese schwere Entscheidung der Kyra lauten? Und was steckt hinter diesem Kampf, der eine der beiden Gesandtengruppen sehr wahrscheinlich das Leben kosten wird? Welchen Weg wird Theresa einschlagen? Enthält: Kapitel 5: durchschaut Kapitel 6: Streithähne Kapitel 7: wachsende Gefühle Kapitel 8: unfassbare Freude und eine erschreckende Entdeckung
„Was meinst du mit „schon wieder“?“, fragte Vanessa leicht verwirrt und blickte wieder in die Richtung, aus der das Gezanke kam.
„Jedes Mal, wenn die beiden aufeinander treffen, scheinen sie sich zu streiten“, sagte Theresa, „Zumindest vergehen kaum zwei Minuten, in denen sie sich nicht irgendwie angiften.“
„Auch nicht schlecht“, kicherte Jessica, „Die beiden Prinzen der Schule können sich nicht ausstehen, das wäre doch mal was für die Schülerzeitung.“
„Besser nicht“, sagte Nicole, „Die beiden hören sich nicht gerade sehr freundlich an.“
„Hoffentlich geht Nathaniel dazwischen, bevor die sich in Stücke reißen“, sagte Theresa nur schmunzelnd.
„Du kennst auch Nathaniel?“, fragte Vanessa.
„Flüchtig“, sagte Theresa, „Ich kenne alle drei nur flüch-tig.. na vier, Alicia muss ich ja auch noch hinzurechnen.“
„Ich finde, du erzählst uns jetzt mal ein bisschen was von dir“, sagte Jessica, „Du machst uns langsam wirklich neugierig.“
„Aber wo soll ich anfangen?“, fragte Theresa.
„Wie du hier her gekommen bist, zum Beispiel“, schlug Nicole vor.
„Ah, die Geschichte“, sagte Theresa nur. Doch irgend-wie gewöhnte sie sich langsam daran darüber ausgefragt zu werden. Außerdem hatte sie scheinbar endlich den Anschluss gefunden, nach dem sie sich so gesehnt hatte. Und sie hatte es alleine geschafft. Daher erzählte sie erneut die Geschichte, wie Smoother und Shikowski damals plötzlich in ihrer Wohnung aufgetaucht waren und ihre Mutter das Formular unterzeichnet hatte; dass sie damals noch absolut keine Ahnung gehabt hatte, was vor sich gegangen war. Sie berichtete, wie ihre eigene Mutter sie dazu gezwungen hatte mitzugehen und wie sie dann in diesem Internat angekommen war. Sie erzählte den drein den wahren Grund für ihre Streiche und kam so schließ-lich zu der Zeit, in der Fynn sie mehrmals vor dem Zorn ihrer Mitschüler bewahrt hatte; wie sie schließlich den Entschluss gefasst hatte sich zu ändern und mit den Streichen aufzuhören. Letztlich kam sie dann bei gestern an, wo sie Raymond das erste Mal getroffen hatte. Von den Plänen von Fynn und Alicia erzählte sie aber erstmal lieber nichts, denn sie war sich nicht sicher, was die drei davon halten würden. Auch dass Raymond sie geküsst hatte, verschwieg sie. Das war ihr weiß Gott zu peinlich, um es den anderen zu erzählen.
„Wie ich´s mir gedacht habe“, sagte Jessica schließlich lächelnd, „Eine wirklich sehr interessante Geschichte.“
„Aber dass das mit dem Rausschmiss nicht funktioniert hat, ist ziemlich merkwürdig“, stellte Nicole fest, „Die scheinen dich ja partout nicht gehen lassen zu wollen.“
„Dabei haben sie einige andere schon wegen viel klein-eren Streichen vom Internat geschmissen“, sagte Vanessa nachdenklich und zog ihren Pferdeschwanz wieder fest, „Aber auch nicht alle. Hier ist es an einigen Stellen wirklich sehr komisch, das muss ich schon sagen.“
„Ich bin deiner Meinung“, sagte Jessica, doch sie wirkte auf einmal ein wenig unsicher, „Vielleicht geht hier irgendetwas vor sich.“
Nicole und Jessica sahen einander unauffällig an. Beide wirkten unsicher und auch Vanessa schien über etwas nachzudenken, auch wenn sie nur eines der Bücherregale anstarrte.
Theresa wurde das Gefühl nicht los, dass hier wirklich etwas vor sich ging, doch sie konnte sich das nicht erklären. Anscheinend wussten die drei sogar etwas, aber sie wollten es eindeutig nicht sagen. Warum nur?
Schließlich trennten die vier sich wieder, doch Nicole hatte Theresa dazu überredet, ihr und den anderen beiden am nächsten Tag im Café Gesellschaft zu leisten. Zwar war Theresa zuerst unsicher gewesen, aber Nicole hatte sie irgendwie überzeugt und ihr versichert, dass sie aufpassen würden, wer in ihre Nähe kam. Schließlich war Theresa noch immer Freiwild.
Inzwischen hatte Theresa aber auch angefangen zu hoffen. Vielleicht war sie noch nicht bei allen unten durch und man würde auch weiterhin Gnade walten lassen. Nur vor Jungen hatte sie noch eine leichte Angst. Nicht zu Letzt wegen dem Vorfall mit David. Das brachte sie wieder zurück zu einer ihrer Hauptfragen: Warum half ein Junge wie Fynn ihr? War es wirklich aus Interesse? Oder aus einem anderen Grund? Sie musste auch wieder an den ganzen Tratsch denken und auch daran, dass sie den wahrscheinlich beliebtesten Jungen der Schule auf ihrer Seite hatte. Irgendwie machte sie das sogar ein wenig stolz und sie fasste auch Mut. Außerdem war Fynn wirklich so nett, wie es ihm nachgesagt wurde. Irgendwie konnte sie die Schwärmereien der anderen Mädchen schon verstehen, auch wenn sie immer noch nicht nachvollziehen konnte, warum immer gleich alle sagten, dass sie ihn liebten. Woher wollten die das denn so genau wissen? Woran erkannten sie denn, dass sie in ihn verliebt waren? Oder besser, woran glaubten sie zu erkennen, dass sie ihn liebten? Theresa war schon lange klar geworden, dass es die wirkliche Liebe wohl nur sehr selten gab. Es gehörte schon eine Menge Glück dazu genau den zu finden, der zu einem passte. Und Theresa war auch klar, dass sie das Glück wohl nie haben würde. Aber wenn doch, dann musste es wohl jemand wie Fynn sein. Jemand nettes und fürsorgliches, der sie nicht gleich für alles verdammte und sie erstmal anhörte, bevor er sich seine Meinung bildete.
Vielleicht ist es sogar Fynn
Bei den Gedanken lief Theresa rot an und sie ließ sich mit dem Rücken auf ihre Matratze fallen. Dennoch hatte sie Fynn so vieles zu verdanken. Ohne ihn wäre die Sache mit David hundertprozentig viel schlimmer ausgegangen; ohne ihn würde sie wahrscheinlich immer noch Streiche aushecken, auch wenn es nichts brachte; ohne ihn wäre vielleicht nie irgendwer auf die Frage gekommen, ob Theresa vielleicht auch anders war. Denn, hätte Fynn nicht angefangen einen Teil seiner Zeit mit ihr zu verbringen und Interesse an ihr zu zeigen, hätte wohl niemand mal ernsthaft über sie nachgedacht. Fynn war wirklich ihr Retter. Zu ihm passte die Bezeichnung „Prinz“ tatsächlich, denn er war einer. Es fehlte zwar das weiße Ross, doch er strahlte auch so etwas aus. Etwas Edles und ebenso etwas, das ihn fast unerreichbar erscheinen ließ. Theresa konnte nicht sagen, was es war, aber es war auf jeden Fall immer da. Ob er nun der Sohn des Internatsinhabers war oder nicht, Respekt würden ihm die anderen Schüler höchst wahrscheinlich auch entgegenbringen, wenn er aus einem ganz normalen Haus kommen würde. Dessen war Theresa sich sicher.
„Verflucht“, murmelte sie, „Jetzt fange ich schon genauso an wie Elisabeth und die anderen, das kann doch nicht wahr sein.“
Am nächsten Morgen stand sie auf, während die anderen drei sich ebenfalls fertig machten. Ihre Gedanken von gestern spukten immer noch durch ihren Kopf, doch sie verdrängte sie so gut es ging. Das gestrige Erlebnis in der Bibliothek hatte ihr jedoch etwas mehr Selbstvertrauen eingebracht, weshalb sie heute auch nicht mehr so ängstlich drein schaute, sondern einfach normal und schon beinahe gelassen. Im Innern war sie zwar noch lange nicht gelassen, doch das würde wohl noch eine ganze Weile dauern.
Wie jeden Morgen waren die Jungen bereits fast voll-ständig versammelt und Theresa war das erste Mädchen. Doch kaum hatte sie den Klassenraum betreten, bekam sie schon Gesellschaft.
„Och nein, ich hab dir doch gestern schon gesagt, dass du deine Bullaugen nicht aufsetzen sollst“, sagte Raymond lächelnd und trat neben sie.
„Lass mich doch“, erwiderte Theresa genervt, auch wenn sie ein wenig überrascht war.
„Kommt gar nicht in die Tüte!“, grinste Raymond. Er war mit einem Schritt direkt neben Theresa, zog ihr die Brille blitzschnell von der Nase und hielt sie hoch.
„Gib sie her!“, rief Theresa daraufhin erschrocken. Sie sprang hoch, doch sie kam nicht heran. „Bitte Raymond!“
„Nein“, sagte er lächelnd, „Nun komm endlich, du musst dich wegen deiner Augen nicht schämen.“
„Tu ich auch nicht!“, rief Theresa, „Aber.. aber...“
Raymond lächelte nur breit. „Du bist ja schon wieder sprachlos.“
Theresa sah unsicher zur Seite. Die ganzen anderen Jungen beobachteten das Schauspiel und wirkten ziemlich erstaunt. Theresa schluckte nur und versuchte keinen von ihnen direkt anzusehen. Vielleicht fiel ihnen der Unter-schied ihrer Augen ja gar nicht auf.
„Raymond?“
Theresa erkannte Davids Stimme und sah instinktiv auf, gleichzeitig berührte sie mit einer Hand ihren Hals. Dieses Erlebnis konnte sie einfach nicht vergessen, so sehr sie es auch verdrängte, gegen die Angst kam sie nicht an.
„Was ist de...“ David schien Theresas ängstlicher Blick aufgefallen zu sein und auch, dass es schon fast so aussah, als wollte sie sich hinter Raymond verstecken. „Deine Augen“, sagte David dann verblüfft.
Theresa senkte daraufhin erschrocken den Blick und sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um. Konnte sie dieser Situation denn nicht irgendwie entfliehen?
„Wie wäre es eigentlich, wenn du dich mal bei ihr entschuldigst?“ Raymond sah David mahnend an. „Ich bin der Meinung, du könntest dich langsam mal für damals entschuldigen, denn Angst hat sie jetzt vor dir, das hast du damit jedenfalls erreicht.“
Theresa sah Raymond verwirrt an. Glaubte er denn im Ernst, dass David sich entschuldigen würde?
„Ihr alle könntet euch übrigens auch mal wenigstens eine Frage stellen“, sagte Raymond laut, „Hat einer von euch mal überlegt, warum sie das mit den Streichen gemacht hat? Ist es einem von euch mal in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht ganz anders ist als ihr denkt? Hat...“
„Hör sofort auf!“, sagte Theresa erschrocken. Er sprach jetzt tatsächlich all die Fragen aus, die sie sich die ganze Zeit über im Stillen gefragt hatte. Doch sie wollte das gar nicht. Das war genau einer von den Wegen, die Fynn und Alicia vorgeschlagen hatten und die sie für absolut unmöglich erklärt hatte.
Einen Moment lang herrschte Stille in der Klasse. Auch wenn Raymond nicht fertig geworden war, hatte er bereits genug gesagt. Die Jungen hatten erstmal was zum Nach-denken bekommen. Inzwischen waren auch ein paar der Mädchen eingetroffen und wurden leise über den Stand der Dinge informiert. Über das, was hier gerade vor sich ging.
„Hey“, sagte David.
Theresa starrte Raymond immer noch entgeistert an. Was hatte er da nur getan?
„HEY“, wiederholte David.
„Sie hat auch einen Namen“, sagte Raymond zu David, „Vielleicht solltest du es mal mit dem versuchen.“
„Theresa“, sagte David daraufhin etwas unsicher.
Diese sah ihn erst jetzt an und war ein wenig verwirrt. Dann kehrten die Befürchtungen zurück und sich wich einen Schritt zurück.
David wirkte daraufhin ernsthaft verwirrt. Dann wurde er selbst wieder etwas unsicher. „Ähm.. hör mal.. das.. das von dem Tag da tut mir leid.“
Theresa sagte nichts dazu, doch so ganz konnte sie ihm nicht glauben. Sie war sich nicht sicher, ob er das nur sagte, weil Raymond es verlangte. Denn wenn es so war, konnte er sich das sparen. Dann würde er es doch jederzeit wieder tun und genau das befürchtete sie.
Theresa wollte weiter zurückweichen, doch da legte Raymond ihr auf einmal einen Arm um die Schultern und hielt sie fest. „Nicht weglaufen“, sagte er leise, „Dir tut niemand etwas.“
Theresa schüttelte nur langsam den Kopf. Wie sollte sie ihm das auch glauben? Die anderen hatten doch noch immer einen Groll gegen sie und sie hatten schon einmal versucht ihr etwas anzutun. Warum sollten sie es also nicht noch mal versuchen?
„Hat.. Hat sie Angst vor uns?“, fragte David stirnrun-zelnd.
„Wie wäre es, wenn du mit IHR sprechen würdest?“, fragte Raymond nur, „Wenn du etwas über sie wissen willst, musst du schon selber mit ihr reden. Beißen wird sie dich unter Garantie nicht.“
David wirkte irgendwie etwas unsicher und er schien nicht sehr glücklich darüber zu sein, mit Theresa reden zu müssen. Jedenfalls sah er nicht so aus. Dann aber gab er sich anscheinend doch einen Ruck. „Hast du Angst vor uns?“, fragte er Theresa und sah sie dabei leicht unsicher an.
Theresa zögerte. Was würde auf ihre Antwort wohl folgen? Der Mut, den sie zuvor gehabt hatte, hatte sie inzwischen wieder verlassen. Dann spürte sie allerdings einen leichten Druck an ihrer Schulter und sie sah Raymond verwirrt an. Dieser lächelte nur und nickte leicht. Theresa fixierte einen der Tische neben ihnen und antwortete beinahe flüsternd auf Davids Frage. „Ja.“
David und auch die anderen Jungen, die sie verstanden hatten, wirkten nun eindeutig erstaunt und etwas verwirrt zugleich.
„W-Warum denn?“, fragte David perplex.
Theresa war verdattert. „Das fragst du noch?!“
David wirkte nicht schlauer als vorher.
„Du hast mich fast erwürgt, ich höre ewig etwas von Plänen mir die Hölle wer weiß wie heiß zu machen und noch ganz andere Drohungen!“, sagte Theresa lauter als beabsichtigt, „Und du fragst warum ich Angst vor euch habe?! Hast du eigentlich eine Ahnung wie ich über solche Drohungen denke?! Glaubst du, ich nehme das einfach auf die leichte Schulter? Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das ist, wenn man immer nur schief angesehen und nur schlecht über einen geredet wird, weil man versucht irgendwie von hier zu verschwinden...?!“
Erst in dem Moment fiel Theresa auf, wie laut sie wirklich geworden war. Ihre männlichen und weiblichen Klassenkameraden starrten sie verdattert an. Erschrocken wollte sie sich umdrehen, doch Raymond hielt sie immer noch fest. Verzweifelt sah sie ihn an und flehte stumm um Erbarmen, doch er lächelte nur ermutigend und ließ nicht locker.
Eine ganze Weile herrschte Schweigen, bis Mrs Heilshe das Klassenzimmer betrat und sich alle setzen mussten. Nun hatte Theresa vorerst eine Verschnaufpause, doch nach dem Unterricht musste sie das Treffen mit Nicole, Jessica und Vanessa im Café wohl schwänzen. Und sie hatte sich so darauf gefreut. Nur wegen Raymond, der auf einmal damit anfangen musste ihr noch mehr Probleme zu bereiten! Sie konnte ihn nicht ausstehen!
„Denk noch nicht mal daran, nicht ins Café zu gehen.“
Theresa blickte erschrocken nach rechts. Raymond hatte anscheinend mit Wendy den Platz getauscht, die eigentlich neben ihr saß.
„W-Woher weißt du das?“, fragte Theresa verwirrt. Nur mit Mühe hatte sie es geschafft ihre Stimme leise zu halten, Mrs Heilshe konnte ziemlich sauer werden, wenn man ihren Unterricht störte.
„Wie du gestern wahrscheinlich gehört hast, waren Fynn und ich auch kurz in der Bibliothek“, flüsterte Raymond lächelnd, „Im Gegensatz zu dem Blindfisch von einem Blondschopf habe ich dich entdeckt. Deine Freundinnen scheinen ja ganz nett zu sein. Ich bin länger dort geblieben und hab euch ein wenig zugehört, hinter dem Regal hinter Vanessa habt ihr mich ja nicht bemerkt, und ich hab auch Nicoles Einladung gehört. Du wirst dahin gehen.“
„Bestimmt nicht“, widersprach Theresa, „Die anderen hier reißen mich doch in Stücke, wenn ich mich hier irgendwo blicken lasse.“
„Für was für Unmenschen hältst du uns eigentlich?“, fragte Raymond mit einer hochgezogenen Augenbraue, „Zwar denken einige sogar noch weniger nach als ich, aber eigentlich sind hier alle ganz in Ordnung. Nur weil du diese Seite von ihnen bisher noch nicht kennst, heißt es doch nicht, dass hier alle nicht auch nett sein können.“
Theresa sah zur Seite. Da hatte Raymond wahrscheinlich sogar Recht, dennoch fiel es ihr schwer, das zu glauben. Und noch schwerer fiel es ihr darauf zu vertrauen, dass die anderen Mensch genug waren sie nicht auseinanderzuneh-men.
„Vertrau mir“, sagte Raymond, „Deine Ansage eben hat allen hier imponiert. Ich glaube nicht, dass irgendwer dir noch etwas tut. Sie haben doch auch gar keinen Grund mehr dazu.“
„David schon“, murmelte Theresa nur, „Ich hab ihn angeschrien.“
„Das kann der ab“, sagte Raymond und lachte leise, „Der bekommt oft genug was auf den Deckel. Eine Standpauke mehr wird ihn nicht umhauen. Nur zum Nachdenken bringen, da sie ausnahmsweise mal von dir kommt.“
„Glaubst du das?“, fragte Theresa unsicher. Sie wollte Nicole und die anderen beiden unbedingt wieder im Café treffen. Sie waren schließlich die ersten Freunde, die Theresa seit langem wieder als solche benennen konnte.
„Vertrau mir einfach.“
„Ich weiß nicht“, sagte Theresa. Sie war immer noch zwischen der Angst vor ihren Klassenkameraden und dem Wunsch nach dem Wiedersehen von Nicole, Jessica und Vanessa hin und her gerissen.
Auf einmal beugte Raymond sich zu Theresa herüber, die nur entgeistert in sein Gesicht starrte, mit dem er ihrem sehr nahe war. „Wenn du nicht zu ihnen gehst.. ich glaube, du weißt, was ich dann mache“, sagte Raymond grinsend.
Theresa stieg die Röte ins Gesicht, als sie an den plötzlichen Kuss dachte. Sie versuchte näher ans Fenster zu rücken, doch er beugte sich immer weiter zur Seite und blieb ihr so ziemlich nahe. Bis Theresa gerade mit dem Stuhl gegen die Wand stieß. Im selben Moment rutschten die beiden Stuhlbeine weg, auf denen der Stuhl nur noch gestanden hatte, weil Raymond sich so weit zur Seite gelehnt hatte, und der Junge landete mit einem dumpfen Geräusch seitlich auf dem harten Boden.
Theresa fiel erst in dem Moment auf, dass ihre Mit-schüler sie ohnehin schon die ganze Zeit über angestarrt hatten. Jetzt sah auch Mrs Heilshe zu ihnen und ihr linkes Auge schien schon fast zu zucken. Anscheinend hatte sie das Geflüster schon gehört. Und da das Bild, in dem Theresa direkt an die Wand gequetscht saß und Raymond grinsend auf dem Boden lag und eindeutig versuchte sich ein Lachen zu verkneifen, ziemlich eindeutig war, war ihr Urteil nicht verwunderlich.
„Raymond, zehn Minuten vor die Tür!“
Raymond selbst seufzte nur grinsend und stand wieder auf. Er stellte den Stuhl richtig hin und warf Theresa noch einen vielsagenden Blick zu, dann verließ er unter den Jubelrufen einiger Jungen und dem Geklatsche etlicher Mädchen das Klassenzimmer.
Theresa sah ihm nur verwirrt hinterher. Das hatte er doch vorhin nicht etwa ernst gemeint? Dass er sie küssen würde, wenn sie nicht zu dem Treffen mit Nicole und den anderen beiden gehen würde? Und wie konnte er nach dem Rausschmiss aus dem Klassenzimmer überhaupt noch grinsen? Dieser Junge wurde ihr von Tag zu Tag suspekter.
Nach dem Unterricht lief Theresa im Eilschritt ins Café. Letztlich hatte sie sich entschieden, zu riskieren, dass ihre Klassenkameraden sie erwischten. Dem war aber glück-licherweise nicht so. Theresa war schnell genug gewesen, daher wartete sie neben dem Eingang im Café. Lange ließen Nicole, Jessica und Vanessa auch nicht auf sich warten. Gemeinsam holten sie sich ihr Mittagessen und setzten sich an einen der freien Plätze in der Nähe vom Fenster. Nicole und Jessica erzählten eifrig von der Mathearbeit, bei der sie ausnahmsweise mal beinahe alles gewusst hatten. Dank Theresas Nachhilfe, wie Nicole immer wieder betonte. Vanessa war etwas stiller und daher ein ganzes Stück schneller mit dem Essen fertig als die anderen drei. Sie leistete ihnen jedoch Gesellschaft und hörte sich alles an, auch wenn sie gelegentlich nur den Kopf schüttelte. Theresa selbst fühlte sich wie im Himmel. Wie sie mit den drein redete, erinnerte sie sehr an die schöne Zeit mit Clare und Leah. Sie wollte zurück zu den beiden. Auch wenn es lange dauern würde, würde sie wieder zu ihnen kommen und mit ihnen die Schulbank drücken. Eines Tages.
Die Zeit verging wie im Flug und die vier verließen das Café erst nach dem Abendessen wieder. Theresa war so entspannt wie schon lange nicht mehr. Inzwischen glaubte auch sie daran, dass es langsam aber stetig bergauf ging. Jetzt musste sie nur noch versuchen die Angst vor ihren Mitschülern zu überwinden, dann würde sie es hier vorübergehend vielleicht sogar ganz gut aushalten.
„Theresa.“
Sie drehte sich verwirrt um und erblickte Fynn, der sie lächelnd ansah. Ihr kamen jedoch ihre letzten Überlegun-gen wieder in den Kopf und sie versuchte zu verhindern, dass sie rot anlief. Irgendwie fiel es ihr nun schwer ihn als normalen Mitschüler anzusehen.
„Irgendwie haben wir uns schon eine Weile nicht mehr gesehen“, stellte Fynn nachdenklich fest, „Ich vermisse langsam deine Gesellschaft.“
Theresa wollte etwas sagen, doch sie spürte, dass sie wohl nur krächzen würde. Aus irgendeinem Grund fehlte ihr ausgerechnet jetzt die Sprache.
„Wo kommst du eigentlich gerade her?“, fragte Fynn dann stirnrunzelnd, „In der Richtung liegt doch das Café.“
„Ich.. ich hab e-ein paar Freundinnen getroffen“, stotterte Theresa. Verwirrt und verzweifelt zugleich drehte sie sich um. Warum gab sie in Fynns Gegenwart auf einmal nur noch solch ein Gestotter von sich? Das würde ihm doch unter Garantie auffallen und wenn er nach dem Grund dafür fragen würde, Theresa wollte gar nicht erst daran denken.
Fynn wirkte allerdings reichlich überrascht. „Tut mir leid, hab ich mir das gerade eingebildet oder hast du wirklich ‚Freundinnen‘ gesagt?“
„Hab ich“, sagte Theresa etwas kleinlaut.
Daraufhin lächelte Fynn wieder und schüttelte nur schmunzelnd den Kopf. „Wie ich sehe, brauchst du unsere Hilfe gar nicht. Alicia hat sich also ganz umsonst den Kopf zerbrochen, da wird sie ja ganz schön sauer sein.“
„Das tut mir leid.“
„Ach was“, sagte Fynn, „Das Gequake werde ich aushalten und irgendwann wird sie sich ja auch wieder beruhigen.“
„Trotzdem hätte ich es euch sagen sollen“, sagte Theresa betrübt, „Schließlich macht ihr euch solche Gedanken um mich und ich erzähl euch das mit Nicole, Jessica und Vanessa noch nicht mal. Es tut mir leid.“
„Du musst dich nicht entschuldigen“, sagte Fynn lächelnd, „Es freut mich, dass du endlich Freundinnen gefunden hast.“
„Mich auch“, sagte Theresa lächelnd. Fynn schien Gott sei Dank nicht sauer zu sein. Was für ein Glück hatte Theresa doch. Sie war so froh.
„Du siehst schön aus, wenn du lächelst“, bemerkte Fynn auf einmal, „Bleib so und dir werden alle zu Füßen liegen, glaub mir.“
„Hör auf“, wehrte Theresa leicht verlegen ab, „Ich sehe bescheuert aus, wenn ich lächle.“
„Ganz und gar nicht“, widersprach Fynn schmunzelnd, „Du siehst ganz bezaubernd aus.“
Theresa konnte die Röte dieses Mal nicht stoppen. Das Kompliment brachte sie fast auf Wolke sieben. Sie war glücklich. Und dabei hatte sie nach dem Treffen mit Nicole und den anderen schon gedacht, dass der Tag nicht noch schöner werden könnte. „D-Danke“, brachte sie verlegen hervor.
„Wofür denn?“, fragte Fynn und beugte sich auf einmal ein Stück vor. Er sah Theresa genau in die Augen und sie spürte, wie sich ihr Gesicht endgültig knallrot färbte.
„Äh.. na.. na für...“, stotterte Theresa, brach dann aber ab. Seine unglaublich schönen, nussbraunen Augen sahen aus wie dunkle Kristalle und untermalten das leichte Lächeln auf seinen Lippen in einer unbeschreiblichen Weise. Theresa verlor vollkommen den Faden und hatte keine Ahnung, was sie sagen wollte.
„FYNN!“
Erschrocken sah Theresa zur Seite. Alicia kam ange-laufen und war keine paar Sekunden später schon neben ihnen.
„Tut mir ja leid euch stören zu müssen“, sagte Alicia grinsend, „Aber unser Vater möchte dich sprechen, Fynn. Es ist dringend und er scheint gerade nicht bei bester Laune zu sein.“
„Oje“, seufzte Fynn nur, „Was läuft denn jetzt schon wieder nicht nach seiner Mütze? Tut mir leid Theresa, aber wir reden später noch.“
Damit zog Alicia ihn auch schon mit sich und Theresa sah den beiden leicht verwundert hinterher. Ihr Herz beruhigte sich langsam auch wieder. Zwischenzeitlich hatte sie beinahe das Gefühl gehabt, es würde ihr gleich aus der Brust springen. Fynn hatte sie eben ganz schön überrascht, doch Theresa war auch in ihrem Zimmer noch in voller Höchststimmung und hatte ziemliche Lust den Kleiderständer zum Tanzen aufzufordern, aber sie verkniff es sich gerade noch.
„Fynn ist wirklich der.. einfach der Größte“, seufzte sie und ließ sich rücklings auf ihre Matratze fallen. Ihr fielen einfach keine Worte ein, die Fynn gerecht wurden. Er war unbeschreiblich.
„Seltsam nur, dass diese Grippe ausgerechnet so kurz vor Ablauf der Zeit kam“, sagte Fynn auf einmal.
„Was willst du damit sagen?“, fragte Raymond. Er klang gereizt.
„Wer weiß...?“ Fynn sah nur in den Himmel, der noch immer von grauen Wolken verdeckt wurde.
Theresa sah verwirrt zwischen den beiden Jungen hin und her. Sie sagte lieber nichts, das wäre wahrscheinlich nicht sehr klug. Dennoch fand sie es ganz schön komisch, wie die Stimmung auf einmal dramatisch gefallen war. Außerdem waren die beiden sonst ganz anders. Nicht so feindselig.
„Unausstehlich wie immer“, sagte Raymond verachtend.
„Das sagt der Richtige.“ Fynn klang nicht weniger herablassend. „Wer zieht denn hier vor allen so eine Show ab und erwartet Applaus von seinem Publikum?“
„Willst du es drauf anlegen?“
„Dich kann man so leicht provozieren“, stellte Fynn nur verachtend fest, „Das ist wirklich lächerlich.“
„Tu nicht so als ob du der Bessere wärst“, erwiderte Raymond gereizt.
„Ich bin besser.“
„Du...“ Raymond zuckte jedoch auf einmal und fasste sich an die Brust. Er atmete schwer und wirkte ziemlich erschrocken.
„Hast du das immer noch nicht im Griff?“, fragte Fynn und lächelte verächtlich, „So was unbegabtes wie dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Es ist traurig, dass deine Verbündeten jemanden wie dich mit sich herumschleppen müssen. Sie tun mir richtig leid.“
„Bastard!“, zischte Raymond und sein Kiefer spannte sich deutlich an. Sein Gesicht war jedoch seltsam verzerrt.
Theresa schien es für einen Augenblick sogar so, als würden seine Augen kurz rot aufglühen, doch noch nicht mal einen Wimpernschlag später waren sie wieder gelb. Allerdings war sein ganzer Körper angespannt und mit seiner einen Hand fasste er sich noch immer krampfhaft an die Brust. Was war los?
Auf einmal aber wehte ein lauer Wind über den Rasen und ein Junge kam mit schnellen Schritten näher. Er trug die Uniform des Internats und seine fast schulterlangen, dunkelbraunen Haare wiegten im Wind. Er war noch ein Stück größer als Raymond, der Theresa schon um fast einen Kopf überragte.
„Lasst es sein ihr zwei“, sagte er zwar gelassen, doch es klang fast wie ein Befehl.
„Halt dich da raus Nathaniel“, zischte Raymond nur mit zusammengebissenen Zähnen.
Fynn sah den Jungen mit Namen Nathaniel zwar dro-hend an, doch er sagte nichts und trat einen Schritt zurück.
Raymonds Unterkiefer spannte sich noch mehr an, doch Nathaniel trat direkt vor ihn und sah ihn warnend an. Daraufhin atmete Raymond tief ein, auch wenn es etwas ungleichmäßig war. Schließlich entspannte er sich wieder etwas und ließ seine Hand sinken, die er bis dahin an der Brust in seinen Blazer gekrallt hatte.
Als Theresa sich umsah, war Fynn bereits wieder verschwunden.
„Hey.“
Theresa sah wieder zu den beiden Jungen. Es war das erste Mal, dass Nathaniel das Wort an sie richtete.
„Alles klar bei dir?“, fragte Nathaniel, „Die beiden Streithähne darfst du nicht zu ernst nehmen, das geht schon lange so.“
„Lass das“, sagte Raymond, „Du tust ja gerade so, als wäre das etwas absolut Außergewöhnliches.“
„Für jemanden, der das zum ersten Mal mitbekommt, ist das aber vielleicht ein klein wenig verstörend“, bemerkte Nathaniel ungerührt, „Denk mal nach, bevor du handelst.“
„Hör auf wie dein Vater zu klingen.“
„Manchmal lässt du mir ja keine andere Wahl, du alter Hitzkopf.“
„Ja ja, lass dich nur über mich aus“, sagte Raymond genervt und verdrehte die Augen.
Theresa musste irgendwie lächeln. Die beiden erinnerten an Brüder und waren mit Sicherheit sehr gute Freunde. Die angespannte Stimmung war so schnell verschwunden, wie sie aufgekommen war.
„Hey, du lächelst ja wieder“, sagte Raymond auf einmal etwas verwundert, „Wie kommen wir denn zu der Ehre?“
„Spinner“, sagte Theresa nur und versuchte dabei nicht zu grinsen.
„Da gebe ich dir recht“, sagte Nathaniel lächelnd, „Und der Spinner sollte langsam mal mitkommen, er wird sehnlichst erwartet.“
„Vorher gibt er mir aber bitte noch meine Brille wieder.“ Theresa streckte die Hand aus.
„Ich hab dir doch gesagt, dass du das Ding nicht aufsetzen sollst“, sagte Raymond nur und hielt die Brille hoch. Doch da nahm Nathaniel sie ihm einfach weg und reichte sie Theresa.
„Danke“, sagte diese nur etwas überrascht.
„Sag bescheid, wenn er dich wieder ärgern sollte“, sagte Nathaniel nur lächelnd, „Ich weiß, wie man das übermü-tige Etwas bändigt.“
„Verräter“, knurrte Raymond beleidigt.
Nathaniel schüttelte den Kopf und ging wieder in Richtung Nebeneingang.
Theresa setzte unterdessen wieder ihre Brille auf und seufzte lautlos.
„Kommst du nicht mit?“, fragte Raymond, der eigentlich auch hatte gehen wollen.
„Nein danke.“
„Komm schon...“
„Verzieh dich endlich“, sagte Theresa nur.
„Wie eure Hochwohlgeboren mir befehlen“, seufzte Raymond und verbeugte sich grinsend.
„Verschwinde!“, rief Theresa und lief zwei Schritte auf ihn zu.
Raymond lief daraufhin nur lachend hinter Nathaniel her und holte ihn an der Tür wieder ein.
Theresa sah den beiden lächelnd hinterher. Sie konnte es kaum glauben. Noch am Morgen hatte sie Raymond für eine regelrechte Bedrohung gehalten und nun hatte er sich zwar als nervig, aber eigentlich ganz nett entpuppt. Eine angenehme Überraschung. Allerdings kam ihr sein und Fynns Verhalten, als die beiden miteinander gesprochen hatten, höchst seltsam vor. Es hatte auf jeden Fall den Anschein gehabt, dass die beiden sich von früher kannten. Und sie schienen sich nicht gerade zu mögen.
Schließlich wagte Theresa sich wieder in das Internats-gebäude und machte sich auf dem Weg zu ihrem Zimmer, doch sie wurde unterwegs abgefangen.
„Du willst doch wohl nicht schon wieder den ganzen Tag lang in deinem Zimmer sitzen?“, fragte Fynn seufzend.
„Äh.. doch“, antwortete Theresa leicht überrascht. Auf einmal schien Fynn wieder ganz der Alte zu sein, von der Feindseligkeit von vorhin war nichts mehr übrig.
„Kommt gar nicht in die Tüte“, sagte Alicia, die auf einmal aus einem Zimmer neben ihnen kam, „Du kommst heute mal mit ins Café. Es kann ja nicht angehen, dass du den Rest deiner Zeit hier auf dem Internat in diesem kleinen Zimmer verbringst.“
„Eh...“
„Keine Sorge“, sagte Fynn lächelnd, „Wir passen schon auf, dass nichts passiert.“
„Sollten sie dir zu nahe kommen“, sagte Alicia grinsend, „Bekommen sie was auf die Rübe. Austeilen kann ich gut.“
„Dafür sieht´s mit dem Einstecken nicht so brillant aus“, bemerkte Fynn nur resigniert.
„Häh bä bäää.“ Alicia streckte ihm nur die Zunge raus und hackte sich bei Theresa ein. „Vergiss den Idioten neben uns, wir gehen.“
Damit zog sie Theresa mit sich mit und so sehr diese sich auch wehrte, sie konnte nicht verhindern, dass Alicia sie zum Café zog. Fynn ging hinter den beiden her und betrat dann gemeinsam mit ihnen das Café im neunten Stock.
Es widerstrebte Theresa zwar, doch sie sah sich erstaunt um. Hier oben waren auf den Tischen sogar Tischdecken und die Stühle sahen um einiges teurer aus. Durch die riesigen Fenster kam, wie auch unten, zwar recht viel Licht rein, doch eben nicht genug um auch die hinteren Ecken zu erleuchten. Im Gegensatz zum siebten und wahrscheinlich auch achten Stock, hingen hier nicht zu verachtende Kronleuchter von der Decke und verliehen dem riesigen Raum ein edles Ambiente. Außerdem hörte Theresa aus den Gesprächen sofort heraus, dass hier die höheren und vor allem einflussreicheren Schüler saßen. Diese verstummten nun jedoch nach und nach und sahen Theresa und die andern beiden an.
Theresa wäre am liebsten im Boden versunken und erst im sonst wievielten Untergeschoss wieder rausgekommen. Sie gehörte hier nicht her, das spürte sie sofort. Anschein-end kannte hier wirklich jeder ihre Geschichte. Das sah nicht gerade gut für sie aus.
In dem Moment jedoch zog Alicia sie einfach mit sich und Fynn blieb direkt hinter ihnen. Während sie an den verschiedenen Tischen vorbeigingen, wurden sie von mehr als fünfzig Augenpaaren verfolgt und Theresa schrumpfte immer mehr in sich zusammen. Dann kamen sie an einem leeren Tisch an und Alicia setzte Theresa einfach auf einen der Stühle, ehe sie sich selber setzte. Auch Fynn nahm zu Theresas Linken Platz und warf den anderen Schülern nur einen kurzen Blick zu. Daraufhin setzten die Gespräche auf einmal wieder ein, wenn auch nicht mehr so angeregt und viele sahen immer noch in ihre Richtung. Dann erhob sich auf einmal ein Junge von einem Tisch in ihrer unmittelbaren Nähe, doch Theresa bemerkte ihn erst, als er bereits hinter ihr stand.
„Du bist ja doch hier“, stellte Raymond grinsend fest, doch dann fiel sein Blick auf ihren Nachbarn und sein Grinsen wurde wieder herablassend.
„Ja, das ist sie“, sagte Fynn nur und er klang auf einmal schon fast drohend.
Raymonds Augen wurden schmal und die beiden Jungen sahen einander finster an, während über fünfzig Schüler sie gespannt beobachteten. In dem Moment aber stellte Nathaniel, der am Tisch gleich nebenan saß, sein Glas geräuschvoll auf den Tisch. Daraufhin lächelten die beiden Streithähne nur verbissen.
„Oje“, sagte Alicia nur, „Here we go again.“ Sie zuckte mit den Schultern und sah Theresa lächelnd an. „Und?“, fragte sie dann, „Wie hast du dich inzwischen eingelebt?“
Theresa sah sie nur überrascht an, während auch die anderen Schüler ihre Gespräche wieder aufnahmen und sich ihren eigenen Nachbarn widmeten.
„Äh.. ich.. ich weiß nicht“, stammelte Theresa verwirrt und überrascht zugleich.
„Na ja, alle Neuen haben es hier am Anfang meistens etwas schwer“, sagte Alicia grinsend, „Aber für gewöhn-lich hält das nicht lange an. Bisher hat hier noch jeder seine Freunde gefunden, also ist es langsam auch mal höchste Zeit, dass du dich mal traust von dir aus auf die anderen zuzugehen.“
„Aber...“
„Kein aber, wenn die anderen sich nicht trauen, musst du eben den ersten Schritt machen. Keine Angst, wir werden dir dabei natürlich helfen.“
„Vielleicht traut sie aber sich selber nicht“, bemerkte Raymond auf einmal.
„Und was geht dich das an?“, fragte Fynn gereizt.
„Eine ganze Menge, du arroganter Strohkopf“, erwiderte Raymond gereizt.
„J-Jungs“, sagte Theresa zaghaft, „Hört doch bitte auf zu streiten.“
„Tut mir ja leid“, sagte Fynn und es war deutlich zu hören, dass er sich nur schwer beherrschen konnte, „Aber mit dem Hitzkopf ist das leider nicht möglich.“
„Du behauptest doch, dass dich niemand übertreffen kann“, sagte Raymond genervt, „Da solltest du dich nicht wundern, dass nicht alle deiner Meinung sind.“
„Ich kann mich wenigstens beherrschen“, sagte Fynn, „Im Gegensatz zu jemand anderem hier.“
„Würdet ihr zwei mal aufhören schlechte Laune zu verbreiten“, sagte Nathaniel plötzlich und stand auf, „Das ist ja nicht zum Aushalten mit euch beiden. Ihr solltet wenigstens mal etwas Rücksicht auf eure Nachbarinnen nehmen.“
„Dafür wäre ich euch wirklich dankbar“, sagte Alicia und seufzte, „Auch wenn das wahrscheinlich nur funktio-niert, wenn wir den einen in die eine Ecke und den anderen in die andere Ecke setzen.“
„Spart euch das“, stöhnte Raymond nur. Dann setzte er ein etwas freundlicheres Gesicht auf und wandte sich an Theresa. „Du musst nichts machen, was du nicht möch-test. Lass dir ja nichts einreden, du wirst das schon machen.“
„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir versuchen ihr zu helfen“, sagte Fynn mühsam beherrscht, „Wir wären dir also dankbar, wenn du nicht ewig dazwischenfunken würdest.“
„Wollt ihr ihr ´ne Gehirnwäsche verpassen oder was?“, fragte Raymond, machte sich jedoch wieder auf den Weg zu seinem Tisch, „Wenn ihr ihr helfen wollt, lasst ihr doch einfach die Zeit alleine zu entscheiden, wann sie versuchen will Anschluss zu finden.“
Er setzte sich mit Nathaniel wieder an den Tisch in unmittelbarer Nähe von Theresas und redete leise mit ihm und David, der ebenfalls an dem Tisch saß und das zuvor Geschehene nur vollkommen gespannt beobachtet hatte.
„Der Kerl will es einfach nicht verstehen“, seufzte Fynn, „Manchmal geht eben nicht alles von alleine. Du solltest nicht auf ihn eingehen, wir werden dir schon helfen.“
Theresa schwirrte so langsam der Kopf. Das schoss bei weitem über ihre Vorstellungen hinaus. Die beiden hatten zwei komplett verschiedene Vorstellungen und wollten ihr beide helfen. Das konnte doch nicht gut gehen.
„Wofür haltet ihr sie eigentlich?“, fragte Raymond auf einmal von hinten, „Ihr tut ja gerade so, als könnte sie nichts alleine. Ihr seid nicht ihre Babysitter, wenn sie eure Hilfe benötigt, wird sie doch wohl was sagen.“
„Himmel noch mal, halt endlich den Mund Blacky“, sagte Fynn nur entnervt, „Du hast doch keine Ahnung. Manchmal weiß man selber nicht, ob man Hilfe braucht oder nicht. Nicht immer kennen sich alle so gut wie du.“
Raymond schien gar nicht zugehört zu haben. Er unterhielt sich mit David und Nathaniel.
Fynn verdrehte vollkommen entnervt die Augen. „Das hasse ich.“
„Dann hört doch einfach auf“, sagte Alicia und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, „Wenigstens eine kleine Pause könnte euch beiden nicht schaden.“
„Glaubst du etwa, dass das funktionieren würde?“, fragte Fynn, „Nicht mit diesem hyperaktiven Etwas da hinten. Das hat doch noch nicht mal eine Ahnung, was das Wort Pause überhaupt bedeutet.“
Theresa kam sich irgendwie ein wenig fehl am Platz vor. Nicht wegen des Umstands, dass sie im obersten Stock des Cafés saß, wo eigentlich die einflussreicheren Schüler speisten, sondern weil sie das Gefühl nicht mehr los wurde, in etwas hineingezogen zu werden, das über die Streitereien der beiden Jungen hinaus ging. Und dabei war das Gezanke der beiden auch nicht sehr angenehm. Jedenfalls nicht, wenn man direkt daneben saß.
„Ich habe eher das Gefühl, dass ein anderer hier nicht aufhören kann“, sagte Raymond genervt, „Du...“
Nathaniel hatte ihm einfach ein belegtes Brötchen in den Mund gestopft.
„Vielen Dank“, seufzte Alicia nur zu Nathaniel.
„Geschieht ihm re...“, setzte Fynn an, doch da kniff seine Schwester ihm kräftig in den Arm.
„Irgendwann ist auch mal gut“, sagte sie streng.
Theresa schüttelte nur den Kopf. Durch die Streiterei der Jungen vergaß sie allmählich sogar ihre Furcht vor den anderen des Internats. Vielleicht würde sie sich ja wirklich auch mal während ihrer Freizeit außerhalb ihres Zimmers aufhalten. Schon lange hatte sie mal die internatseigene Bibliothek aufsuchen wollen, auch wenn dort vielleicht keine interessanten Bücher waren. Und den Innenhof hatte sie auch noch nie wirklich gesehen. Es gab wirklich vieles, das sie noch nicht kannte.
Nach einer etwas ruhigeren Weile, in der Fynn und Alicia Theresa verschiedene Pläne erzählten, wie sie gedachten sie in die Klasse einzugliedern, ging Theresa schließlich. Sie hatte den beiden gesagt, dass sie sich das mit den Plänen überlegen würde. In ihrem Zimmer war sie wie immer alleine. Theresa hoffte allerdings, dass nicht morgen gleich die ganze Schule wusste, dass Alicia und Fynn sie in den neunten Stock des Cafés geschleppt hatten. Das würde nur wieder unschöne Gerüchte geben. Allerdings bereiteten ihr die Pläne der Geschwister beinahe noch größeres Kopfzerbrechen. Es war ja nett gemeint und einige der Vorschläge hatten auch wirklich was, aber das ging Theresa irgendwie alles ein bisschen schnell. Sie wollte sich gerne mit den anderen aus ihrer Klasse anfreunden, doch sie war sich nicht sicher, ob die anderen das auch wollten. Und genau das glaubte sie nicht, jedenfalls nicht mit dem Wissen, das sie derzeitig nur über Theresa hatten. Sie galt schließlich immer noch als tickende Zeitbombe und wer wollte schon mit jemandem befreundet sein, der vor nicht allzu langer Zeit noch Wände mit Kreide beschmiert und andauernd den Unterricht gestört hatte? Theresa kannte niemanden, der so etwas wollte.
Am nächsten Morgen verlief der Unterricht ganz normal. Sie saß still auf ihrem Platz und meldete sich bei jeder Frage, auch wenn sie noch immer nicht dran genommen wurde. Gelegentlich wanderten leicht misstrauische Blicke zu ihr, doch daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Nach dem Unterricht schlug sie einen anderen Weg zu ihrem Zimmer ein. Sie nahm einen Umweg, um nicht Alicia und Fynn in die Arme zu laufen. Denn sie hatte sich noch immer nicht überlegt, ob sie einen der Pläne auspro-bieren sollte. Sie war einfach noch zu unsicher. Dennoch wollte sie sich heute ein Herz fassen und in die Bibliothek gehen, das hatte sie sich während des Unterrichts überlegt.
Nachdem sie auf Umwegen im untersten Stock des Cafés ihr Mittagessen verspeist hatte, schlug sie den Weg zur Bibliothek ein. Diese befand sich jedoch im achten Stock des Ostflügels und es dauerte eine Weile, bis Theresa dort ankam. Zwar wurde sie auch hier von vielen Blicken verfolgt, doch das war eigentlich schon alles. Darüber war sie ziemlich erleichtert und sie sah sich in der großen Bibliothek um. Die hohen Regale waren alle aus dunklem Holz und auch hier war der rote Samtteppich verlegt. Durch die recht großen Fenster an der östlichen Wand kam recht viel Licht, doch da es auch heute wieder bedeckt war und nieselte, waren auch die unzähligen Leuchtstoffröhren an der Decke angeschaltet. Es gab anscheinend verschiedene Abteilungen, doch Theresa achtete nicht auf die Beschriftungen und sah sich einfach ein wenig um. Doch alle Bücher handelten mehr oder weniger von einer der Fachrichtungen an dieser Schule und waren daher nicht ganz so interessant. Dann bog sie um eines der Regale und stand plötzlich vor einem Mädchen mit ziemlich vielen Büchern im Arm. Es hatte Theresa anscheinend nicht bemerkt, denn noch ehe Theresa ausweichen konnte, stießen sie zusammen und es regnete Bücher.
„Au, au.. tut mir sehr leid“, entschuldigte sich das Mädchen sofort. Die kupferfarbenen Haare fielen ihm über die Schultern und sie rückte kurz ihre Brille zurecht.
Theresa richtete auch schnell ihre eigene Brille. „Nicht schlimm, ist ja nichts passiert.“
Sie half dem Mädchen beim Aufsammeln der Bücher.
„Moment mal“, sagte das Mädchen dann auf einmal und Theresa zuckte merklich zusammen, „Bist du nicht die Theresa, die in letzter Zeit für die ganzen Unruhen gesorgt hat?“
„Äh.. ich.. ja“, stammelte Theresa verunsichert und reichte dem Mädchen die aufgesammelten Bücher.
„Komisch, ich hab mir dich irgendwie anders vorge-stellt.“
„Gut möglich.“ Theresa versuchte über ihre eigene Unsicherheit hinwegzusehen und einfach sie selbst zu sein. Da sowieso niemand irgendwelche Erwartungen an sie hatte, konnte sie es ja mal versuchen und das Mädchen schien eigentlich recht nett zu sein.
„Na ja, ist ja eigentlich auch egal“, sagte das Mädchen lächelnd, „Danke dass du mir beim Aufsammeln geholfen hast. Ich bin übrigens Nicole.“
„Wieso hast du eigentlich so viele Bücher?“, fragte Theresa stirnrunzelnd.
„Tja, Vanessa, Jessica und ich sind in Mathe absolute Nieten und morgen steht der Test bei Mrs Monice an, wir brauchen den Stoff einfach.“
„Und du holst gerade die Bücher für euch drei?“, fragte Theresa und sah den gefährlich schwankenden Bücher-turm in Nicoles Armen zweifelnd an.
„Ja.“
„Ich helf dir lieber“, sagte Theresa und nahm die oberen Bücher von dem Stapel.
„Danke, das ist wirklich sehr nett“, sagte Nicole und lächelte schief, „Die anderen beiden kommen nämlich gleich vom Essen und es wäre wahrscheinlich nicht so gut, wenn ich alle zwei Schritte die Bücher wieder einsammeln muss.“
„Kein Problem.“
Sie gingen zu einem großen Tisch und legten die Bücher ab. Theresa überflog die Titel. Es waren tatsächlich alles Mathematikbücher. Von Flächenberechnung, über Geome-trie und Pythagoras war wirklich alles dabei.
„Wenn mich nicht alles täuscht, geht ihr doch in eine meiner Parallelklassen“, sagte Theresa.
„Stimmt“, sagte Nicole lächelnd, „Eigentlich sind wir auch gar nicht so dumm, aber wenn es um Mathe geht, sind wir absolute Versager.“
„Das kenne ich doch irgendwo her“, murmelte Theresa nur schmunzelnd. Clare und Leah waren auch totale Nieten, wenn es um Mathe ging. Theresa fragte sich, ob die beiden ihre Schwäche wohl inzwischen überwunden hatten. Wahrscheinlich aber nicht, so wie sie die zwei kannte.
„Wirklich?“, fragte Nicole, „Bist du in Mathe auch nicht gut?“
„Das nicht, aber zwei alten Freundinnen musste ich in Mathe auch immer helfen, daher kommt mir das bekannt vor.“
„Wie heißen sie denn? Vielleicht kenne ich sie ja“, sagte Nicole neugierig.
„Wohl kaum.“ Theresa konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme immer trauriger wurde. „Sie gingen auf meine alte Schule und ich habe sie seit über zwei Monaten nicht mehr gesehen.“
„Das tut mir leid“, sagte Nicole mitfühlend.
In dem Moment kamen zwei andere Mädchen zu ihnen. Beide sahen ein wenig verwundert aus.
„Wen hast du denn da aufgegabelt Nicole?“, fragte das eine Mädchen. Es hatte die langen, mahagonifarbenen Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und ihre dunkelbraunen Augen musterten Theresa argwöhnisch.
Das andere musterte Theresa ebenfalls, doch eher neugierig und die hellen Augen glänzten schon fast von alleine. Ihre weizenfarbenen Haare reichten ihr bis knapp über die Schultern und es hatte sie mit zwei Haarklam-mern nach hinten gesteckt.
„Das sind Vanessa und Jessica“, sagte Nicole erstmal zu Theresa und wandte sich erst dann an ihre beiden Freundinnen, „Und das ist Theresa.“
„Aha.. halt, etwa die Theresa?“, fragte Vanessa und ihre dunkelbraunen Augen weiteten sich.
Theresa schrumpfte wieder in sich zusammen, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Da musste sie jetzt wohl durch, schließlich hatte sie es sich ja selber eingebrockt.
„Ja, aber warte doch erstmal“, sagte Nicole und fuhr sich mit einer Hand durch ihr kupferfarbenes Haar, „Sie ist gar nicht so übel, zumindest kann ich nichts gegen sie sagen.“
„Trotzdem.“ Vanessa klang eisern. „Wenn wir uns mit ihr blicken lassen, kommen wir auch noch in diesen Trubel aus Gerüchten...“
„Aber wer weiß“, sagte Jessica auf einmal spitz, „Bisher weiß niemand, warum sie das macht und außerdem wird die ganze Sache doch langsam richtig spannend.“ Sie sah Theresa schmunzelnd an. „Ich nehme mal an, dass an dem Gerücht ein Hauch von Wahrheit ist, dass Fynn Interesse an dir gezeigt hat. Oder?“
„Äh.. So kann man das nun wirklich nicht sagen“, sagte Theresa unsicher und zugleich leicht überrascht, „Er und seine Schwester wollen mir nur helfen hier Anschluss zu finden. Mehr ist da nicht.“
„Ich habe aber gehört, dass auch Raymond schon mehrmals mit dir gesprochen hat“, sagte Vanessa.
„Das klingt doch mal interessant“, sagte Jessica nur grinsend, „Wie wäre es denn, wenn du uns heute beim Lernen Gesellschaft leistest? Mich würde nämlich mal interessieren, was an den ganzen Geschichten nun wahr ist und was nicht.“
„Ja.. aber...“ Theresa sah unsicher zu Vanessa.
Diese seufzte in dem Moment und ließ sich auf einen der Stühle sinken. „Von mir aus. Es wäre wohl wirklich nicht schlecht mal zu wissen, was an den ganzen Gerüchten nun dran ist und was frei erfunden wurde.“
„Schön, dann setz dich doch“, sagte Nicole lächelnd und deutete auf den Stuhl, der gegenüber von ihr an dem Tisch stand.
Einen Augenblick lang zögerte Theresa noch, doch dann rang sie sich ein hoffnungsvolles Lächeln ab und setzte sich auf den Platz neben Jessica. Ihr Blick streifte wieder die Mathebücher, die auf dem Tisch verteilt waren und sie musste schief lächeln.
„Was ist?“, fragte Jessica auch sofort neugierig, als sie Theresas leicht schiefes Lächeln sah.
„Soll ich euch vielleicht vorher bei euren Problemen in Mathe helfen, bevor ich von mir erzähle?“, fragte Theresa, „Ich bin darin nämlich gar nicht so schlecht.“
„Na ob das...“, setzte Vanessa an.
„Hört sich doch prima an“, sagte Nicole sofort freudig, „Vielleicht bist du ja unsere Rettung. Noch einen Miss-erfolg in Mathe können wir uns nämlich nicht leisten.“
So kam es, dass Theresa den drein Nachhilfe in Mathe gab. Nachdem sie Nicole und Jessica erfolgreich bei gleich mehreren Aufgaben geholfen hatte und diese die Rechnungen verstanden hatten, ließ sich auch Vanessa von Theresa helfen. Trotz der Ansage, dass die drei nicht gut in Mathe waren, lernten sie in Theresas Augen sehr schnell und um halb fünf legten sie eine Pause ein. Anscheinend auch gerade richtig, denn es wurde auf einmal recht laut. Theresa hörte dem Streitgespräch eine Weile zu, dann schüttelte sie ungläubig den Kopf.
„Was ist denn, Theresa?“, fragte Nicole verwundert.
„Fynn und Raymond streiten sich schon wieder“, seufzte Theresa nur und lächelte schief.
Auch die nächsten Tage kam Theresa immer gerade eben vor Unterrichtsbeginn in die Klasse und war nach dem Unterricht die erste, die aus der Klasse verschwand. Während der Stunden arbeitete sie weiterhin mit und auch so, dass die Lehrer es sehen konnten. Während der Unterrichtsstunden verirrten sich immer wieder irritierte Blicke ihrer Mitschüler zu ihr. Wahrscheinlich hielten sie Theresa für eine tickende Zeitbombe, die jederzeit explo-dieren und wieder Stress machen konnte. Doch Theresa arbeitete still und tapfer weiter, auch wenn sich das ein wenig schwieriger gestaltete, als sie erwartet hatte. Dadurch, dass sie sich außerhalb des Unterrichts nicht aus dem Zimmer wagte, bekam sie weder Frühstück, noch Mittag- oder Abendessen und ihr Magen knurrte von Tag zu Tag lauter, bis er sich schließlich mit der Leere abzufinden schien und aufhörte zu murren. Doch Theresa bemerkte es trotzdem, denn ihr wurde immer öfter schwindelig und es fiel ihr schwer aufmerksam zu sein.
Schließlich war es dann so weit. Sie wollte nach dem Unterricht so schnell wie möglich wieder in ihr Zimmer und ging schnellen Schritts in Richtung Treppe. Dann tanzten ihr wieder schwarze Punkte vor den Augen, doch sie ignorierte das Schwindelgefühl. An der Treppe stoppte sie dann abrupt, denn sie sah fast nichts mehr außer den schwarzen Punkten vor ihren Augen und schwankte gefährlich. Sie hörte von Fern die verwirrten Stimmen einiger anderer Schüler, aber sie wusste nicht, warum sie so verwirrt und erschrocken klangen. Dann verlor sie end-gültig das Gleichgewicht und kippte nach vorne, der Treppe, die runter in den vierten Stock führte, entgegen.
Als Theresa wieder wach wurde, wunderte sie sich zunächst. Sie hatte erwartet mit höllischen Schmerzen aufzuwachen. Sie war doch die Treppe runter gefallen, wie konnte ihr Körper da nicht wehtun? Probehalber bewegte sie den Kopf auf dem weichen Kissen, doch sie spürte immer noch keinen Schmerz. Irgendetwas stimmte doch nicht. War sie vielleicht schon tot? Hatte sie sich so schwer verletzt, dass sie gestorben war? Es war einerseits ein beruhigender Gedanke, aber andererseits auch ziemlich erschreckend.
Doch dann hörte sie gedämpfte Stimmen, die von weiter hinten kamen. Erst jetzt nahm Theresa auch die Matratze, die Decke und das Kissen richtig war. Aber das konnte auch nur eine Einbildung sein. Da sie keine Lust hatte weiter zu rätseln, sprach sie ihre Frage einfach aus.
„Bin ich tot?“ Sie hatte keine Ahnung, ob ihr irgendwer antworten würde, aber sie musste einfach fragen.
„Nein, du bist lebendig.“
„Fynn?“ Theresa war sich nicht ganz sicher, doch die Stimme klang genau wie Fynns.
„Ja.“
Theresa reichte diese Blindheit nun langsam und sie schlug die Augen auf. Sie sah sich um. War das ihr Schlaf-raum? Aber wie war sie hier hergekommen? Theresa setzte sich mühsam auf und fasste sich an den Kopf, der doch ein wenig wehtat.
„Alles in Ordnung?“, fragte Fynn. Er saß neben ihrem Bett auf einem der Stühle und sah sie an.
„Ja“, sagte Theresa verwirrt. Sie hatte sich den Sturz doch nicht eingebildet oder wurde sie langsam verrückt? Vorstellen konnte sie es sich. Dann entdeckte sie ihre Brille neben ihrem Kopfkissen. Erschrocken griff sie nach ihr und setzte sie sich schnell auf die Nase.
„Du hast verdammt viel Glück gehabt“, sagte auf einmal ein anderes Mädchen, das hinter Fynn hervorkam.
Theresa sah sie überrascht an. Sie war allerdings noch viel zu verwirrt und zu verschlafen um Angst oder böse Vorahnungen zu bekommen. Das ältere Mädchen trug die Uniform des Internats und hatte lange, schwarze Haare. Ihre hellgrünen Augen ließen sie freundlich aussehen.
„Hätte er dich nicht noch mitten im Fall erwischt, wärst du die Treppe runter gefallen und hättest dir bei dem harten Marmor höchst wahrscheinlich noch einen glatten Schädelbruch geholt“, sagte das Mädchen.
„Schade, dass es nicht so gekommen ist“, murmelte Theresa und ließ sich in die Kissen zurücksinken.
„Wo bist du denn drauf?“, fragte das Mädchen und stemmte die Hände in die Hüften, „Warum bist du so verstört?“
Theresa sah es verdattert an. Das fragte die noch?
Fynn seufzte und verzog resigniert das Gesicht. „Tut mir leid Theresa, Alicia ist ein bisschen direkt und hat von dem ganzen Theater nicht so viel mitbekommen.“
Theresa nickte nur und starrte an die Decke. Plötzlich knurrte ihr Magen. Daraufhin drehte Theresa sich schnell auf die andere Seite.
„Sag mal Theresa“, sagte Alicia, „Kann es sein, dass du Hunger hast?“
„Apropos, wann hast du eigentlich das letzte Mal was gegessen?“, fragte Fynn auf einmal.
„Ja, ich habe Hunger“, antwortete Theresa mürrisch, „Und keine Ahnung wann ich das letzte Mal was im Magen hatte. Vielleicht Sonntag oder so, frag mich nicht.“
Fynn schüttelte den Kopf.
„Warum denn nicht?“, fragte Alicia verwirrt.
„Ich nehme mal an, du wolltest den anderen aus dem Weg gehen“, sagte Fynn.
Theresa nickte nur wortlos. Im Stillen wunderte sie sich allerdings über gleich mehrere Sachen. Alicia hatte sie bei ihrem richtigen Namen genannt und klang auch wirklich besorgt. Und Fynn hatte ihre Abwesenheit beim Essen bemerkt. Stand die ganze Welt langsam Kopf oder was? Theresa kam mit dem plötzlichen Wechsel nicht so wirklich klar. Irgendetwas wurde hier doch gespielt.
„Das wird ja noch schwieriger als erwartet“, seufzte Fynn und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Was wird noch schwieriger?“, fragte Theresa misstrau-isch.
„Dich miteinzubeziehen“, antwortete Alicia und legte den Kopf schief, „Warum gehst du den anderen denn aus dem Weg?“
„Dich haben sie ja auch nicht fast erwürgt“, sagte Theresa nur schnippisch. Was war so plötzlich in Alicia gefahren? Und was sollte das überhaupt? Es war doch wohl klar, dass es zum Miteinbeziehen von Theresa längst zu spät war. Niemand würde das wollen. Jedenfalls niemand, den sie irgendwie vom Sehen her kannte.
„Hör auf so schwarz zu sehen“, sagte Alicia lächelnd, „Schlimmer kann es schließlich nicht mehr werden, also gibt es nur noch den Weg zur Besserung.. Ich hol dir mal was zu essen, sonst kippst du uns gleich wieder aus den Latschen.“
Noch ehe Theresa etwas erwidern konnte, war Alicia schon aus dem Zimmer verschwunden.
„Tut mir wirklich leid“, seufzte Fynn, „Meine Schwester ist manchmal etwas aufgedreht...“
„Deine Schwester?“, fragte Theresa stirnrunzelnd.
„Ja, sie ist meine ein Jahr ältere Schwester“, antwortete Fynn lächelnd, „Wir ähneln uns allerdings nicht sehr, wie dir wahrscheinlich aufgefallen ist.“
Theresa nickte nur.
„Du bist mir aber wirklich eine“, sagte Fynn dann, „Du musst zum Essen, das auf der Treppe hätte um einiges weniger glimpflich ausgehen können.“
Theresa sagte nichts dazu. Recht hatte er ja, aber ihre Angst war einfach größer gewesen.
„Außerdem werden wir schon dafür sorgen, dass sich deine Situation endlich mal ändert“, sagte Fynn lächelnd, „Du hast deinen Teil dazu beigesteuert, langsam wird es Zeit, dass die anderen sich auch ein bisschen ändern.“
„Das werden sie nicht“, erwiderte Theresa und setzte sich wieder auf. Sie zog die Beine an und stützte ihr Kinn auf ihre Knie. „Dazu ist es viel zu spät.“
„Wenn sie dich erstmal ein bisschen kennen lernen, wird das schon. Aber dazu musst du auch mal nach draußen kommen, wenn kein Unterricht ist.“
„Ich bin doch nicht lebensmüde“, erwiderte Theresa nur.
Fynn seufzte. „Ein wenig kann ich dir helfen, aber du musst schon alleine aus dir herauskommen. Dabei kann ich dir nicht helfen.“
In dem Moment betrat Alicia wieder das Zimmer. In der Hand hatte sie ein recht großes Tablett, das mit vielen verschiedenen Speisen beladen war. Sie zog einen zweiten Stuhl heran und stellte ihn neben das Bett, dann stellte sie das Tablett auf dem Stuhl ab.
„Was möchtest du?“, fragte Alicia lächelnd.
„Gar nichts“, antwortete Theresa, „Wo sind eigentlich Elisabeth und die anderen beiden?“
„Sie konnten der Einladung nicht widerstehen“, sagte Alicia und schmunzelte vergnügt, „Als Fynn ihnen ange-boten hat, heute seinen und meinen Platz am Tisch oben einzunehmen, haben sie ohne weiteres zugestimmt.“
„Man muss nur wissen wie“, sagte Fynn, „Vor heute Abend werden sie nicht wieder hier her kommen.“
„Beruhigend“, murmelte Theresa nur.
Wenig später gingen Fynn und Alicia auch, nachdem Theresa sie mehr oder weniger freundlich abgewiesen hatte. Sie wollte erstmal alleine sein. Das war sie seit den letzten zwei Monaten zwar eigentlich immer, aber diese plötzliche Freundlichkeit verunsicherte sie nur noch mehr. Außerdem wollte sie nicht, dass die anderen lediglich freundlich zu ihr waren, weil Fynn es so wollte. Es war sicher nett gemeint und Theresa war froh jemanden wie ihn zu haben, aber auf diesem Weg würde sie auch nicht weiter kommen. Wenn die anderen gezwungen wurden freundlich zu ihr zu sein, würde das nicht gut enden. Sie würden Theresa wahrscheinlich nur noch mehr verachten.
Am nächsten Morgen wurde sie schon recht früh wach. Rasch zog sie sich an und machte sich fertig, dann verließ sie das Zimmer. Sie wanderte ein wenig umher, bis sie schließlich zur Klasse ging. Komischerweise nur waren die Jungen noch gar nicht da, obwohl es schon viertel vor acht war. Der Umstand beruhigte sie etwas, denn die anderen Mädchen kamen auch erst auf den letzten Drücker. Zusammen mit den Jungen betraten sie das Klassenzimmer und kaum zehn Sekunden später betrat auch schon Mr Munski das Klassenzimmer.
„Ich glaube, ich muss ihn gar nicht mehr vorstellen“, sagte Mr Munski ein wenig resigniert, als sich alle gesetzt hatten, „Ihr habt Raymond ja schon lauthals begrüßt.“
Als wäre dies das Stichwort gewesen, betrat nun ein Junge das Klassenzimmer. Er war hochgewachsen und trug die Uniform des Internats. Seine kurzen schwarzen Haare waren ziemlich durcheinander und seine gelben Augen leuchteten. „Hey Leute!“, rief er grinsend.
Zur Antwort erklang Jubel von den Jungen und die Mädchen klatschten ebenfalls begeistert. Theresa sah nur aus dem Fenster. Da dieser Junge eindeutig zu den belieb-teren Schülern gehörte, wollte sie lieber gar nicht erst wissen, was noch auf sie zukam. Wenn er von ihren ganzen Streichen hörte, würde es wahrscheinlich wieder brenzlig werden. Er schien ein ziemlicher Draufgänger zu sein, so wie er sich benahm. Und solch grinsende Typen waren meistens unberechenbar.
„Hey!“
Theresa blickte verwirrt nach vorne. Der Junge stand direkt vor ihr und sah sie an.
„Seit wann bist du denn auf der Schule?“, fragte er grinsend, „Dich kenne ich ja gar nicht.“
Theresa überlegte einen Moment, blickte dann aber wieder aus dem Fenster. Aus den Augenwinkeln sah sie nur, wie der Junge mit den Schultern zuckte und sich dann vor David setzte, der sie vor nicht allzu langer Zeit beinahe erwürgt hätte. Sie hörte auch wie David dem anderen etwas zuflüsterte.
„Freunde dich lieber nicht mir ihr an, Raymond“, flüsterte David, „Sie ist eine alte Unruhestifterin und man weiß nie, was sie gerade wieder ausheckt.“
„Es scheint ja einiges passiert zu sein, als ich nicht da war“, stellte Raymond leise, aber lächelnd fest, „Erzähl mir die Details nach dem Unterricht.“
„Roger“, sagte David grinsend.
Theresa seufzte hörbar und verzog gequält das Gesicht. In dem Moment konnte sie einfach nicht anders.
Nach dem Unterricht war sie in Rekordzeit im Café und schlang ihr Mittagessen herunter. Als gerade eine größere Gruppe Jungen und Mädchen rein kam, verließ sie das Café wieder. Zuerst lief sie schleunigst in ihr Zimmer, doch dann sah sie aus dem Fenster. Irgendwie hatte Fynn ja recht gehabt. Sie konnte sich nicht immer im Zimmer verstecken. Auch wenn sie sich hier einigermaßen sicher fühlte, das Zimmer war keine dauerhafte Lösung. Sie konnte nicht ewig vor ihren Problemen davonlaufen.
So verließ sie schließlich wieder ihr Zimmer und stand einen Moment lang unschlüssig im Gang. Dann seufzte sie und ging nach unten. Im Erdgeschoss verließ sie das Gebäude durch einen Nebeneingang und betrat den Rasen. Es war trocken, auch wenn der Himmel bedeckt war und es nur wenige Flecken gab, an denen das Blau des Himmels nicht von grauen Wolken verdeckt war. Theresa ging langsam über das kurze, grüne Gras. Was sollte sie eigentlich machen? Sie wollte hier raus, musste aber einen anderen Weg finden, als den bisherigen. Wie Leah und Clare aussahen, konnte sie sich inzwischen nur noch ausmalen. Ihre Gesichter waren von einem dichten Nebel verschleiert, der sich einfach nicht lichten wollte. Egal was Theresa versuchte, sie kam nicht gegen den Schleier des Vergessens an.
„Hey.“
Theresa drehte sich erschrocken um. Raymond stand hinter ihr und sah sie leicht verwundert an.
„Warum weinst du?“, fragte er sichtlich verwundert.
„Eh?“ Theresa hatte nicht gemerkt, dass sie angefangen hatte zu weinen. Verwirrt drehte sie sich um und wischte die Tränen unter der Brille weg. Das Ding nervte manch-mal wirklich, auch wenn es leider nötig war.
„Was machst du so alleine hier draußen?“, fragte Raymond auf einmal.
„Das geht dich gar nichts an!“, erwiderte Theresa schnippisch. Auch wenn sie damit einen neuen Krieg anzettelte, diesem Jungen konnte sie auf keinem Fall trauen.
„Du bist ja ganz schön frech.“
Theresa sagte nichts dazu und sah ihn über ihre Schulter nur misstrauisch an.
Raymond erwiderte lächelnd ihren Blick.
„Was soll das werden?“, fragte sie schließlich misstrau-isch.
„Wenn du mir sagst, was du meinst, antworte ich gerne“, bemerkte Raymond mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Was habt ihr ausgeheckt?“, fragte Theresa nun direkter und bereitete sich auf eine Flucht vor.
„Du bist ganz schön misstrauisch“, stellte er fest.
„Das wäre wohl jeder an meiner Stelle“, erwiderte Theresa nur.
„Soweit ich weiß, planen die anderen nur etwas zu machen, wenn du noch mal etwas anstellen solltest“, sagte Raymond und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, „Dann wollen sie dir wohl so richtig die Hölle heiß machen. Ich hab aber nicht so genau zugehört, als sie sich beraten haben.“
„Warum sagst du immer nur ‚sie‘ und ‚die anderen‘?“, fragte Theresa verwirrt.
„Weil ich nicht geplant hatte, da mitzumachen“, antwortete Raymond und lächelte leicht, „Wie könnte ich einem ohnehin schon so mitgenommenen Mädchen noch mehr antun?“
Theresa entglitten beinahe die Gesichtszüge. „Wie meinst du das denn schon wieder?“
„So wie es sage.“
„Das ist keine Antwort!“
„Wenn mich nicht alles täuscht, hast du doch einen Grund für dein Handeln“, sagte Raymond, „Und wenn ich nicht allzu daneben liege, willst du das Internat wieder verlassen.“
„W-W-Wie kommst du denn darauf?“, fragte Theresa vollkommen überrascht.
„An normalen Schulen wird man für so ein Verhalten rausgeschmissen und da du bis vor gut einer Woche immer so weitergemacht hast, ist es doch naheliegend, dass dein Ziel der Rausschmiss ist“, sagte Raymond und zuckte mit den Schultern, „Ich kann zwar nur vermuten, warum du so unbedingt von hier weg willst, aber da du das so lange durchgezogen hast, ist es wohl ein ziemlich ernster Grund.“
„Es kann doch auch sein, dass ich einfach so bin“, ent-gegnete Theresa gereizt. Sie wusste selber nicht so genau, warum sie plötzlich das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. Raymond verwirrte sie. Noch mehr als Fynn sogar. Schon nach einem Gespräch mit den anderen Jungen, die gewiss alles ganz anders sahen als sie, wusste Raymond so viel über sie und konnte sich so vieles zusammenreimen. Das war beinahe schon unheimlich.
„Das glaube ich nicht“, sagte Raymond lächelnd, „Dafür bist du viel zu unsicher und außerdem haben solche Leute eine ganz andere Haltung als du. Das würde ich einigen anderen viel eher zutrauen.“
„Woher willst du das alles wissen?“
„Ich weiß vieles“, sagte Raymond nur, „Wenn die anderen nicht allzu viel dazu gedichtet haben, kann ich dich, denke ich, ganz gut einschätzen.“
„Das glaubst auch nur du“, erwiderte Theresa genervt. Allerdings war sie auch etwas verunsichert. Im Gegensatz zu ihr, war dieser Junge vollkommen sicher und schien nicht an sich zu zweifeln. Wie sollte so jemand also ihre Lage verstehen? Und wie sollte sie gegen so jemanden ankommen?
„Du wünscht dir jemanden, dem du vertrauen kannst“, sagte Raymond plötzlich.
Theresa starrte ihn entgeistert an.
„Und du hältst Fynn für den Richtigen“, fügte er noch hinzu.
Nun entgleisten Theresa wirklich die Gesichtszüge. Er traf tatsächlich den Nagel auf den Kopf.
„Ich habe recht“, stellte Raymond nun auf einmal fest, „Den letzten Teil habe ich übrigens nur geraten, aber deinem Gesicht nach zu urteilen, habe ich recht.“
Theresa erwiderte nichts. Das musste sie jetzt erstmal verkraften.
„Tut mir leid, für diese Gabe kann ich nichts.“
„Für.. welche Gabe?“, brachte Theresa hervor.
„Für meine Menschenkenntnis“, sagte Raymond und lächelte schief, „Ich muss den Menschen nur eine gewisse Zeit lang beobachten oder etwas über ihn hören, dann kann ich ziemlich leicht sagen, was dieser eigentlich will oder wie er sich fühlt. Es fällt mir nicht sehr schwer das zu erkennen.“
„Aber das musst du mir ja nicht noch unter die Nase reiben“, erwiderte Theresa trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie versuchte ihre Verwirrung zu ver-drängen. Zurzeit konnte sie sie absolut nicht gebrauchen.
„Warum denn nicht? Ich find sie klasse“, bemerkte Raymond grinsend.
„Arroganter Mistkerl“, murmelte Theresa aufgebracht. Dieser Typ verwirrte sie, kannte sie viel zu gut und war obendrein auch noch so dreist ihr das unter die Nase zu reiben. Solche Jungen waren wirklich das Letzte.
„Das habe ich gehört“, sagte Raymond nur, ohne dass sein Grinsen wich, „Wenn du wütend bist, siehst du ja noch süßer aus.“
Theresa entgleisten schon wieder die Gesichtszüge. Dieser ziemlich rasante Themenwechsel brachte sie nun endgültig aus dem Konzept.
Raymond kicherte unterdessen und sah sie amüsiert an. „Du müsstest dich jetzt mal im Spiegel sehen, du siehst wirklich gut aus.“
„Das war doch eben nicht etwa ernst gemeint?“, fragte Theresa etwas verblüfft. Ihre Gesichtszüge hatte sie wieder einigermaßen eingesammelt.
„Darf ich einem schönen Mädchen keine Komplimente machen?“, fragte er und legte den Kopf schief.
„Mir jedenfalls nicht, such dir jemand anderen, dem du auf den Geist gehen kannst“, antwortete Theresa entnervt. Ihr fiel in dem Moment aber auf, dass auch ihre Stimmung sich verändert hatte. Sie fühlte sich seltsamerweise nicht mehr im Geringsten angegriffen oder gefährdet. Außer-dem war sie auch ziemlich verwirrt. In ihren sechzehn Lebensjahren hatte ihr noch nie jemand außer ihren Eltern gesagt, dass sie schön oder süß aussah.
Raymond schien von ihrer Abfuhr nicht mal ansatzweise beleidigt zu sein. Er lachte lediglich leise. „Du bist wirk-lich mal eine ganz andere Nummer.“
„Was soll das schon wieder heißen?“, fragte Theresa. So langsam aber sicher kam ihr allerdings eine Frage in den Sinn. Wie machte er das? Irgendwie fiel es ihr inzwischen schon ziemlich schwer, ihm gegenüber misstrauisch zu sein. Er war so locker drauf, dass es beinahe ansteckend war.
„Dir muss man alles regelrecht aus der Nase ziehen, bis du freiwillig mit einem redest“, sagte er grinsend, „Dabei scheinst du doch gar nicht so übel zu sein. Warum versuchst du nicht einfach, mit den anderen zu reden?“
„Sag mal, kannst du mich mal vorwarnen, wenn du das Thema wechselst?“, fragte Theresa etwas verdattert, „Ich komm langsam nicht mehr mit.“
„Dann bist du ganz schön langsam.“ Raymond lächelte spitz. „Dabei sahst du im Unterricht eigentlich gar nicht so aus, als hättest du ein Problem mit schnellen Themen-wechseln.“
„Das ist ja auch was anderes“, sagte Theresa resigniert. Einerseits nervte er sie, aber irgendwie auch nicht. Es war seit langem das erste Mal, dass sie sich so normal und schon fast unbeschwert fühlte. Raymond behandelte sie ganz normal, nicht wie jemanden, den man trösten musste oder jemanden, der etwas ausgefressen hatte. Und das tat ihr gut.
„Ach ja. Warum hast du eigentlich die Brille auf der Nase?“
Theresa sparte sich den Kommentar zu dem plötzlichen Wechsel, denn das schien sowieso keinen Sinn zu haben. „Ich habe eine Sehschwäche. Warum sollte ich auch sonst eine tragen?“
Da war es wieder, Raymonds spitzes Grinsen. „Hmm.. vielleicht um etwas zu verstecken“, riet er, „Die Gläser sind leicht getönt.“
Theresa verzog das Gesicht. Er hatte viel zu gute Augen. „Das bildest du dir nur ein.“
„Hmmmm.“
„Was?“
„Ich glaube nicht“, sagte Raymond und kam auf sie zu. Noch ehe Theresa überhaupt reagieren konnte, hatte er ihr die Brille von der Nase gezogen und hielt sie hoch.
„Gib sie wieder her!“, rief Theresa erschrocken und versuchte nach der Brille zu greifen, doch Raymond war schneller und hielt sie so hoch, dass Theresa nicht an sie heran kam.
„Ich hatte recht“, sagte Raymond und sah sie an.
Theresa blickte schnell zur Seite und wollte verhindern, dass er bemerkte, dass ihre Augen unterschiedliche Farben hatten. Jedenfalls unterschiedliche Blautöne. Doch auf einmal legte er eine Hand auf ihre Wange und drehte ihren Kopf, bis sie ihn ansah.
„Warum versteckst du sie?“, fragte Raymond lächelnd, „Mit so schönen Augen solltest du angeben, die hat nun wirklich nicht jeder.“
Theresa starrte ihn entgeistert an. „Hast du eine Ahnung, wie die mich ansehen würden?“
„Im ersten Moment vielleicht etwas verwirrt“, sagte er grinsend, „Aber sie würden mir zustimmen. Die schönsten Schattierungen, die Blau aufweisen kann, hast du in deinen Augen. Also zeig sie auch.“
Theresa konnte nicht verhindern, dass ihr das Blut in den Kopf stieg. Sie wich einen Schritt zurück und sah ihn verwirrt an.
Raymond hatte indessen schon wieder ein Grinsen im Gesicht. „Na langsam wird das doch was, wie ich mir dachte.“
„Was?“ Theresa versuchte die Röte wieder aus ihrem Gesicht zu vertreiben, doch mit so was hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu kämpfen gehabt. Entsprechend gering waren die Auswirkungen ihrer Bemühungen.
„Du bist einfach nur verunsichert und hast Angst aus dir herauszukommen“, erklärte er schmunzelnd, „Und wenn du dich nicht mehr fürchtest, bist du ein ganz normales Mädchen.“
„Ganz normal bin ich nun auch nicht“, bemerkte Theresa.
„Warum nicht?“
„Ich bin nicht in den Schminktopf gefallen.“
Raymond prustete los und fing an laut zu lachen, während selbst Theresa grinsen musste.
„Na also“, kicherte Raymond dann plötzlich, „Ein Lächeln steht dir viel besser, das solltest du öfter machen.“
Theresa sah ihn überrascht an. „Hör auf mit dem Schwachsinn“, sagte sie dann nur und sah zur Seite. Sie konnte es selber noch nicht so ganz glauben. Wie lange war es eigentlich her, dass sie einfach aus Freude gelächelt hatte?
„Sag mal“, sagte Raymond auf einmal nachdenklich, „Was würdest du eigentlich machen, wenn ich dir sage, dass ich das eben Geforderte nicht vor habe?“
„Dann würde ich dir einen kräftigen Tritt verpassen und dir sagen, dass du dich dahin scheren sollst, wo der Pfeffer wächst“, knurrte Theresa und versuchte ihre Stimme abweisend klingen zu lassen. Ganz so einfach konnte das Ganze doch nicht sein. Da war vielleicht doch ein versteckter Haken.
„Und wenn ich es dir ein wenig anders sage?“
Theresas Augen wurden schmal. „Käme ganz drauf an.. auf welche Art willst du hinaus?“
Raymonds Lächeln wurde spitz. „Ich kann es dir nicht einfach so sagen.. aber zeigen.“ Er sah sie herausfordernd an und sein Blick verriet, was er dachte: Sie wird sich nicht trauen.
Da hatte er die Rechnung aber ohne Theresa gemacht, so was ließ sich dann doch nicht auf sich sitzen. „Gut, dann zeig es mir eben“, sagte sie und sah ihn angriffslustig an.
„Bist du sicher?“, fragte Raymond und sein Lächeln wurde schief, „Ich glaube nicht, dass du weißt, wie ich das meine...“
„Hast DU etwa Angst es mir zu zeigen?“ Theresa sah ihn herausfordernd an.
„Sag aber hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, sagte er nur lächelnd, „Du hast es nicht anders gewollt.“ Damit trat er direkt vor sie und ein eigenartiger Glanz lag in seinen Augen. Theresa war ein wenig unsicher, hatte aber nicht vor zurückzuweichen. Das würde sie diesem Spinner nicht gönnen. Doch dann legte er ihr plötzlich eine Hand auf den Hinterkopf und beugte sich zu ihr runter. Noch ehe Theresa wusste wie ihr geschah, berühr-ten sich ihre Lippen und sie sah, wie Raymond seine Augen schloss.
Hä? Was? Wie?
Theresa spürte, wie ihr Herz auf einmal schneller schlug, während sie ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Ein seltsam angenehmes Gefühl wollte sich in ihr breit machen, doch sie ließ es gar nicht erst nicht zu. Unter Aufbringung all ihrer Willenskraft holte sie aus und verpasste Raymond eine schallende Ohrfeige, die ihn von ihr löste. Sie starrte ihn nur entgeistert an. Das war gerade ihr erster Kuss gewesen!
„Wie gesagt, ich hab dich vorgewarnt“, sagte Raymond lächelnd und berührte kurz seine schmerzende Wange, „Du wolltest es, also hör auf mich so anzusehen, als wolltest du mich am liebsten erwürgen.“
Theresa lief vor Wut knallrot an und stapfte mit geballten Fäusten auf ihn zu. „Wieso?“, fragte sie mühsam beherrscht, „Du wolltest doch wissen, was ich dann mache.“ Sie schlug einfach zu. Es war ihr egal, wo sie ihn traf, Hauptsache es tat ihm richtig weh. Doch ihre Faust ging seltsamerweise ins Leere, Raymond war auf einmal verschwunden.
„Hä?“ Theresa blinzelte verwirrt. Dann schnippte ihr jedoch jemand gegen den Hinterkopf und sie drehte sich verwirrt um. Aber da war niemand.
„Wo guckst du denn hin?“
Theresa drehte sich um und holte dabei aus, doch schon wieder ging ihre Faust ins Leere.
„Na na, Mädchen schlagen sich doch nicht“, sagte Raymond, der nun neben ihr stand.
Theresas linkes Auge zuckte leicht, dann holte sie wieder aus, doch auch dieses Mal traf sie nichts.
„Dir muss man wirklich noch ein paar Manieren beibringen.“
Theresa schlug nach schräg hinten, aber wie erwartet war ihr Ziel auch dieses Mal weg, bevor ihre Faust ankam. Sie seufzte und ließ die Schultern hängen. Das gab es doch wirklich nicht.
„Tut mir ja leid, aber ich lasse mich nicht gerne von einem Mädchen verprügeln“, bemerkte Raymond.
Theresa drehte sich um und holte ein letztes Mal aus. Dieses Mal traf ihre Faust wenigstens auf etwas, doch Raymond hatte ihren Schlag mühelos abgeblockt.
„Wie machst du das verdammt nochmal?“, fragte Theresa klagend. Er hatte zwar haushoch gewonnen, aber den Kuss würde sie ihm trotzdem nicht vergeben. Irgend-wann würden sie abrechnen. Doch da ihre Wut verraucht war, musste sie nun aufpassen, dass ihr bei der Erinnerung nicht das Blut in den Kopf stieg.
Raymond grinste nur spitz und ließ seine Hand sinken.
„Du hast dich nicht verändert, Blacky, immer noch genauso stürmisch wie früher“, sagte auf einmal Fynn, der an einem nahen Baum lehnte und sie mit ausdruckslosen Augen ansah.
„Du dich anscheinend auch nicht, Whitey, nur dass ich dieses Mal derjenige bin, der spät dran ist“, sagte Raymond, ohne dass sein Lächeln abnahm. Es wurde nur um eine Spur herablassender.
„Wie kommt´s eigentlich?“, fragte Fynn tonlos.
„Tja, wegen einer kleinen Sommergrippe musste ich leider zu Hause bleiben, da ließ man leider nicht mit sich reden“, antwortete Raymond nur schulterzuckend, „Des-wegen bin ich leider ein bisschen spät dran.“
Fynns Augen wurden schmal, doch er nickte kurz.
Theresa verstand indessen gar nichts mehr. Kannten die beiden Jungen sich? Hatte Fynn etwa die ganze Zeit schon da gestanden? Und warum diese komischen Spitznamen? Was ging hier plötzlich vor sich?
Theresa war auch am nächsten Morgen noch immer auf Wolke sieben, zumindest bis sie vor ihrem Klassenzimmer stand. Da wurde ihr dann doch etwas mulmig zu mute. Aber plötzlich griff jemand um sie und Theresa stand ohne ihre Brille da. Erschrocken drehte sie sich um und erblickte den grinsenden Raymond hinter sich. Er wedelte mit ihrer Brille.
„Wenn du das Ding jetzt nicht bald in deinem Zimmer lässt, verarbeite ich es zu Kleinholz“, versprach er nur.
„Wehe!“ Theresa versuchte nach ihrer Brille zu greifen, doch wie immer war er ihr einen Schritt voraus. Er lief flink um sie herum und verschwand im Klassenzimmer. Theresa hastete hinter ihm her. Das war doch echt nicht zu fassen, das wievielte Mal hatte ihr jetzt schon ihre Brille geklaut? Vielleicht sollte sie sie demnächst mal festbinden oder auf ihrer Nase festkleben.
Als sie um die Ecke bog, blieb sie jedoch wie ange-wurzelt stehen. Die komplette Klasse schien sich hier versammelt zu haben und alle standen in einem weiten Halbkreis um die Tür. Raymond stand direkt in ihrer Mitte und sah sie grinsend an. Er warf den anderen nur einen kurzen Blick zu.
„Herzlich willkommen im Windhall Internat, Theresa“, sagten alle gleichzeitig.
Theresa starrte sie nur fassungslos an. Was war denn hier auf einmal los?
„Tut uns leid, dass das erst so spät kommt“, sagte Melin.
„Wir hätten dich schon viel früher willkommen heißen müssen“, bemerkte Elric, der mit seinen kurzen blonden Haaren recht pfiffig aussah.
„Aber irgendwie ist das ein bisschen schief gelaufen“, sagte David, „Darum holen wir das jetzt nach.“
Theresa war unfähig ihren Mund wieder zu schließen. Von den verwirrten und vor allem feindseligen Mienen ihrer Klassenkameraden war keine Spur mehr. Sie waren wie ausgewechselt. „Aber das.. das kann doch nicht...“, stammelte Theresa und suchte verzweifelt nach irgend-welchen Worten, die ihre Verwirrung und gleichzeitig ihr Erstaunen zum Ausdruck brachten.
„Raymond hat uns schon vorgewarnt“, sagte David dann auf einmal, „Aber du kannst uns wirklich glauben, wir werden dir nichts tun.“
„Hä? Äh.. aber wieso?“, fragte Theresa vollkommen verwirrt.
„Na ja...“ Rebecca spielte verlegen mit ihren kurzen rotbraunen Haaren. „Wir haben keinerlei Grund. Du hast dich schließlich vollkommen verändert.. so sehr, dass wir, um ehrlich zu sein, in letzter Zeit gar mehr nicht wussten, wie wir dich behandeln sollten. Und nachdem erst Fynn angefangen hat häufiger mit dir zu reden und Raymond jetzt auch noch solch komische Andeutungen über dich gemacht hat, haben wir beschlossen mit dir Frieden zu schließen.. oder wie auch immer man das nennen soll. Aber ich glaube, du weißt was ich meine. Wollen wir nicht von jetzt an Freunde sein?“
Theresa entgleisten die Gesichtszüge. Sie starrte Rebecca und die anderen nur verdattert an.
Als Theresa nach mehreren Minuten immer noch kein Wort herausbrachte, grinste Raymond amüsiert. „Nur nicht so schüchtern, nun sag schon zu, du sprachloses Etwas.“
Sie sah Raymond verdattert an. „H-Hast du das angeleiert?“
„Ich hab dem Zug nur einen kleinen Stoß gegeben“, sagte er grinsend, „Ins Rollen gekommen ist er, dank dir selbst, schließlich auch alleine.“
Theresa wusste schon wieder nicht, was sie sagen sollte. Da wirklich niemand mehr auch nur ansatzweise feind-selig aussah, konnte sie das Unmögliche wohl glauben. Die anderen hatten sie tatsächlich aufgenommen und akzeptiert, trotz ihrer ganzen Streiche und dem anderen Kram. Theresa war so glücklich, dass ihr glatt die Tränen kamen.
„Äh? W-Warum weinst du denn jetzt?“, fragte Raymond verwirrt und trat leicht unsicher neben sie, „Hab ich was Falsches gesagt?“
Theresa musste lächeln und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dieses Mal behinderte sie keine Brille, da Raymond diese immer noch in der Hand hatte. „Ich bin so froh...“, sagte sie und lächelte glücklich, „Ich.. ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...“
Die Jungen wirkten nun auf einmal etwas verlegen und sahen sie leicht erstaunt an. Die Mädchen hingegen lächelten freundlich und wirkten erfreut.
„Warum müsst ihr Mädchen eigentlich immer gleich heulen?“, fragte Raymond nur mit einer hochgezogenen Augenbraue, „Da weiß man ja gar nicht, was ihr nun gut und was ihr schlecht findet.“
„Pech gehabt“, sagte Theresa, „Bis jetzt hab ich eigen-tlich auch noch nie geweint, wenn ich froh war, aber jetzt.. bin ich so glücklich, ich kann nicht anders.“
„Süß...“
Theresa sah David leicht verwirrt an, der daraufhin ziemlich rot wurde. Raymond schien dies auch gehört zu haben, denn er grinste auf einmal breit.
„Na mein Freund“, sagte er und legte David einen Arm um die Schulter, „Ich hab euch doch gesagt, dass sie süß ist, wenn sie glücklich ist.“
„Bitte?“ Theresa sah ihn verdattert an. „Das hast du doch nicht wirklich?“
„Doch“, grinste Raymond, „Ein bisschen ködern muss man zu Anfang, ansonsten dauert es Jahre.“
„Du.. du.. warte nur, bis mir was Passendes eingefallen ist“, sagte Theresa aufgebracht, doch irgendwie musste sie gleichzeitig auch breit lächeln. Sie war einfach so froh, dass sie nicht lange wütend sein konnte.
„Na ob ich so lange Zeit habe?“
„Du abgedrehter Spinner!“, sagte Theresa und war froh wenigstens etwas einigermaßen Passendes gefunden zu haben.
„Das passt wirklich“, bemerkte David resigniert und schob Raymonds Arm von seinen Schultern.
„Fällt dir denn nichts Fantasievolleres ein?“, fragte Raymond beleidigt, „So einfach bin ich nun auch nicht gestrickt.“
„Das passt wie angegossen“, entgegnete Nathaniel, der plötzlich in der Tür aufgetaucht war und eigentlich in die Klasse gleich nebenan ging.
„Nicht du auch noch“, seufzte Raymond und verdrehte die Augen.
„Oh doch mein Freund“, sagte Nathaniel lächelnd.
„Da fällt mir was ein“, sagte Raymond auf einmal und hielt Theresa ihre Brille hin, „Das Ding passt mir sowieso nicht, also behalt es.“
Theresa schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Abgedrehter Spinner.“ Sie nahm die Brille und steckte sie einfach in die Tasche ihres Rocks. Dort war sie sicher aufgehoben.
„Du setzt sie nicht auf?“, fragte Raymond erstaunt.
„Nein, die brauche ich wohl nicht mehr“, antwortete Theresa lächelnd.
Nach dem Unterricht ging sie federnden Schritts zum Café, um sich dort wieder mit Nicole, Jessica und Vanessa zu treffen. Auf halbem Weg jedoch lief sie Fynn in die Arme. Sie stießen beinahe zusammen, da Theresa gerade um die Ecke bog und die Treppe hoch wollte, von der Fynn gerade kam.
„Hoppla“, sagte er lächelnd, „Du bist ja ganz schön stürmisch heute.“
„T-Tut mir leid“, sagte Theresa und kämpfte verzweifelt gegen die aufsteigende Röte.
„Ist irgendetwas Schönes passiert oder warum siehst du so glücklich aus?“, fragte Fynn. Er sah auch heute wieder bezaubernd aus, wie Theresa fand.
„Äh.. ja, irgendwie schon“, sagte Theresa, die das Geschehene vom Morgen selber noch nicht ganz fassen konnte.
„Und was?“, fragte Fynn lächelnd, „Was bringt dich so zum Strahlen?“
Theresa konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde. „Na ja, die anderen aus meiner Klasse.. die.. wir haben Frieden geschlossen. Sie scheinen auf einmal nichts mehr gegen mich zu haben und wir haben uns angefreundet.“
„Das sind wirklich schöne Neuigkeiten“, sagte Fynn, „Warum leistest du uns heute keine Gesellschaft?“
„Äh? Wie jetzt?“
„Komm heute im Café mit an unseren Tisch“, sagte Fynn lächelnd, „Wir haben immer einen freien Platz für dich.“
„D-Das kommt jetzt ganz schön plötzlich“, stammelte Theresa, die auf diese Einladung hin vollkommen von der Rolle war, „I-Ich bin eigentlich mit Nicole und den anderen beiden verabredet...“
„Kein Problem, bring sie doch einfach mit.“
Theresa sah Fynn überrascht an. Doch sie wusste, dass auch Nicole, Jessica und sogar Vanessa was für Fynn übrig hatten, daher war ihre Antwort auch nicht schwer zu erraten. „Okay.. wenn es euch nichts ausmacht, bringe ich die anderen dann mit...“ Sie wartete ab, ob Fynn vielleicht doch widersprechen würde, doch er nickte nur lächelnd.
„Am selben Tisch wie beim letzten Mal“, sagte er, „Ich glaube nicht, dass du uns verfehlen wirst.“ Er hob die Hand und ging an ihr vorbei.
Theresa war zwar schleierhaft, wo er jetzt noch hin wollte, doch sie traute sich auch nicht, ihn danach zu fragen. Stattdessen machte sie sich auf den Weg zum Café. Dort musste sie heute etwas länger warten, doch schließ-lich trafen Nicole, Jessica und Vanessa ein. Sie erzählte den drein von Fynns Einladung und diese wurde mit Begeisterung angenommen. Daher gingen sie nach dem Mittagessen in den neunten Stock hoch. Theresa verstand auch bald, warum Fynn gesagt hatte, dass sein Tisch ziemlich leicht zu finden sei. Bestimmt zehn Mädchen umringten einen Tisch und redeten aufgeregt auf die beiden Personen ein, die an diesem saßen. Im Nähertreten konnte Theresa auch zwischen den Mädchen hindurch-sehen und erkannte Fynn und Alicia, wobei das Interesse der Mädchen eindeutig Fynn galt.
Theresas Blick verirrte sich auch kurz etwas weiter nach links, wo einige Mädchen einen zweiten Tisch umringten. Im Gegensatz zu den beiden Personen am ersten Tisch, redete einer der beiden am zweiten angeregt mit den Mädchen, die ganz aus dem Häuschen zu sein schienen. Theresa erkannte auch den Jungen, der da scheinbar kein Problem mit den Mädchen hatte. Es war Raymond, der neben dem eher stummen Nathaniel saß. Dieser wirkte ziemlich genervt, hatte jedoch ein Buch vor der Nase und schien zu versuchen, irgendwie das laute Geplapper zu überhören, das von allen Seiten kam.
Dann wanderte Theresas Blick jedoch wieder nach links, da Alicia aufgestanden war.
„Es freut meinen Bruder ja sehr, dass ihr alle so wild darauf seid mit ihm zu reden, aber wir erwarten Gäste, die ihr nicht gleich wieder verschrecken müsst“, sagte Alicia ohne dabei besonders freundlich zu klingen.
„Hä? Was willst du denn?“, fragte eines der Mädchen.
„Fynn kann für sich selber sprechen!“, sagte ein anderes.
„Wir gehen dir doch nicht auf die Nerven?“, fragte ein drittes, das sich allerdings eindeutig eine freundliche Verneinung ihrer Frage zu erhoffen schien.
„Tut mir leid, aber ich wäre euch wirklich sehr dankbar, wenn ihr jetzt gehen würdet“, sagte Fynn schlicht.
„Was?“
„Bitte Fynn!“
„Nur noch ein paar Minuten...“
„Nein“, sagte Fynn nun deutlich, „Ich möchte, dass ihr jetzt geht.“
Die Mädchen schienen ziemlich enttäuscht zu sein und zogen mit betrübten Mienen ab. Theresa und ihre drei Freundinnen sahen einander kurz unschlüssig an, dann gingen sie langsam zu Fynn.
„Ah, da seid ihr ja!“, sagte Alicia freudig, als sie Theresa und ihre Begleiterinnen entdeckte.
„Wir haben euch schon erwartet“, sagte Fynn nun lächelnd und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Theresa blickte unsicher in die Richtung, in die die Mädchen vorhin gegangen waren. „Aber, die Mädchen eben...“
„Hör bloß auf“, seufzte Alicia und verdrehte die Augen, „Das nervt wirklich, wenn man das so gut wie jeden Tag erlebt.“
„Aber ist es wirklich in Ordnung, dass wir...?“, setzte Nicole an.
„Keine Sorge“, sagte Fynn, „Wir wollten euch sowieso schon gerne mal kennen lernen, da bot sich das heute doch an. Oder meint ihr nicht?“
„Nun setzt euch doch“, sagte Alicia und deutete auf die vier leeren Stühle, die um den recht großen runden Tisch standen.
Theresa konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass Fynn ihr und jetzt auch ihren Freundinnen gegenüber nett war, aber anderen nur die kalte Schulter zeigte. Das verwirrte sie auch heute noch. Trotzdem war es nun mal so und irgendwann würde Theresa vielleicht auch den Mut haben Fynn nach dem Grund für sein etwas komisches Verhalten zu fragen, doch nicht heute. Darum setzte sie sich auf einen der freien Stühle neben Alicia und neigte den Kopf in die Richtung der freien Stühle, damit auch ihre drei Freundinnen sich endlich setzten. Nicole und Jessica wirkten etwas unsicher, doch Vanessa ergriff die Initiative und setzte sich auf einen freien Stuhl neben Fynn. Daraufhin schienen auch Nicole und Jessica Mut zu fassen, denn sie setzten sich auf die beiden restlichen Stühle neben Theresa.
„Na, wie habt ihr euch denn kennengelernt?“, fragte Alicia neugierig, „Ich bin schon sehr gespannt, Theresa hat uns das bisher noch nicht erzählt.“
„Tja...“, sagte Nicole etwas unsicher, „Ich hab sie in der Bibliothek beinahe mit einem großen Stapel Bücher erschlagen.“
„Unsinn“, sagte Theresa, „Ich hätte besser aufpassen müssen.“
„Ich hätte nicht versuchen sollen alle Bücher auf einmal zu tragen“, warf Nicole ein, „Es war meine Schuld...“
Jessica fing auf einmal an zu lachen und auch Fynn und Alicia lächelten.
„Wieso streitet ihr euch eigentlich jedes Mal darum, wer die Schuld hat, wenn das Thema aufkommt?“, fragte Jessica lachend.
„Äh?“ Theresa und Nicole sahen sich etwas unschlüssig an.
„Tja, ihr habt euch sofort verstanden“, bemerkte Vanessa schmunzelnd, „Aber mal kurz was anderes. Stimmt es, dass du und Raymond euch jedes Mal streitet, wenn ihr aufeinander trefft? Wir haben euch nämlich an dem Nachmittag in der Bibliothek gehört und Theresa hat euch sofort erkannt.“
Fynn wirkte etwas überrascht und kurz sogar nachdenk-lich, dann sah er eher ziemlich genervt aus. „Ja, Raymond und ich verstehen uns nicht sonderlich gut. Da ist durchaus was dran.“
„Verstehen uns nicht sonderlich gut? Das ist bei weitem untertrieben“, sagte Alicia nur resigniert, „Und irre nervtötend.“
„Ich fang nicht an“, sagte Fynn.
„Ihr fangt beide gerne an“, korrigierte Alicia, „Und ohne Nathaniel wüsste ich manchmal wirklich nicht, wie man euch zum Schweigen bringen soll.“
Fynn seufzte nur.
Theresa fühlte sich währenddessen ziemlich unwohl. Das war das vollkommen falsche Thema. Und Raymond war auch noch in der Nähe. Wenn er das hören würde, käme es sicher gleich wieder zum Streit. Schnell sah Theresa nach hinten, doch ihre Befürchtungen schienen ganz umsonst gewesen zu sein. Raymond unterhielt sich immer noch mit den Mädchen, die ihm vollkommen sie Sicht versperrten und auch dafür sorgten, dass er nichts von ihrem Gespräch hier hören konnte. Glück musste der Mensch haben.
„Ist etwas, Theresa?“, fragte Fynn stirnrunzelnd.
„Eh?“ Theresa drehte sich überrascht um und sah ihn leicht unsicher an. „N-Nein. Wie kommst du darauf?“
„Nur so ein Gedanke“, sagte Fynn. Er wirkte jedoch recht nachdenklich.
Theresa überlegte unterdessen fieberhaft nach einem weniger heiklen Thema. Worüber konnten sie bloß reden?
„Sag mal Fynn, wann findet eigentlich der nächste Ausflug statt?“, fragte Nicole auf einmal, „Ich hab gehört, dass die Internatsleitung dabei ist einen zu planen. Weißt du vielleicht, wo es hingehen soll?“
Fynn wirkte leicht überrascht, während Theresa Nicole innerlich am liebsten umarmen wollte. Mit so einem Thema konnte man wirklich nicht viel verkehrt machen.
„Lass mich mal kurz überlegen“, sagte Fynn, „Der müsste wirklich demnächst angesetzt werden. Da das Wetter zurzeit nicht allzu schlecht ist, sollte der Ausflug direkt in die Innenstadt gehen.“
„Also nach London?“, fragte Nicole überrascht.
„Klasse“, sagte Jessica freudig, „Dann können wir mal wieder richtig Schoppen gehen.“
„Ich bräuchte auch mal ein paar neue Schuhe“, dachte Vanessa laut nach.
Fynn sah Theresa an, die etwas geschockt aussah.
Theresa starrte die Tischplatte an. Direkt nach London sollte der nächste Ausflug gehen. Das hieß, dass sie möglicherweise endlich Clare und Leah sehen und auch ihre Familie besuchen konnte. Das war doch eigentlich ein Grund sich zu freuen. Doch Theresa empfand fast so etwas wie Angst. Was sollte sie zu Clare und Leah sagen, wenn sie sich sahen? Und was würde ihre Mutter überhaupt denken, wenn sie auf einmal wieder auftauchte, nachdem sie sie erst vor wenigen Monaten regelrecht aus der Wohnung geworfen hatte? Wie sollte sie ihrer Familie und ihren Freunden gegenübertreten? Darüber hatte sie bisher nie nachgedacht. Sie war so hinter dem Raus-schmiss her gewesen, um ihre Freundinnen wiederzusehen und endlich wieder ihrer Mutter in die Arme fallen zu können, dass sie nicht einen Gedanken daran verschwen-det hatte, was sie eigentlich sagen wollte.
„Alles in Ordnung Theresa?“, fragte Nicole auf einmal, „Du siehst plötzlich so blass aus.“
„Ähm.. ich...“, stotterte Theresa aus der Bahn geworfen, „Ich fühl mich nicht ganz wohl.. ich geh besser in mein Zimmer.“ Sie stand auf.
„Warte, wir begleiten dich“, sagte Alicia leicht verwirrt und stand ebenfalls auf.
„Nein lass nur“, sagte Theresa und lief los.
Alicia wollte ihr folgen und auch die andern drei Mädchen wollten aufstehen, doch Fynn hielt Alicia am Ärmel fest.
„Lasst sie gehen“, sagte er tonlos, „Sie braucht jetzt etwas Zeit für sich.“
Theresa lief so schnell sie konnte die Treppe runter, besser gesagt sprang sie und nahm dabei immer gleich fünf Stufen mit einem Sprung. Zu dieser Zeit waren nicht viele Schüler in den Gängen, sondern hielten sich eher im Café, der Bibliothek oder dem Innenhof auf, daher kam Theresa ohne großes Aufsehen zu erregen im Erdgeschoss an. Sie lief durch einen der Nebeneingänge nach draußen und entfernte sich vom Internatsgebäude, sie stoppte erst bei einem recht üppigen Baum. Sie setzte sich und lehnte sich an den Stamm. Heute schien die Sonne und das dichte Blätterwerk ließ nur vereinzelte Strahlen hindurch bis zu Theresa.
Was sollte sie nur machen, wenn sie wirklich auf Clare und Leah traf? Konnten sie ihr verzeihen, dass sie es noch nicht geschafft hatte hier rauszukommen? Würden die beiden ihr zuhören, wenn sie ihnen die Geschichte erzählte? Aber egal wie sehr Theresa sich den Kopf zermarterte, sie kam auf keine Antwort.
„Nanu, warst du nicht eben noch bei Whitey und seiner Schwester am Tisch?“
Theresa sah erschrocken auf. Raymond stand in nicht allzu weiter Entfernung und sah sie leicht verwirrt an. Theresa sah allerdings nur zur Seite. Was gingen ihn ihre Probleme an? Er würde ihr sowieso nicht helfen können.
„Hey?“
Theresa blickte auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie Raymond vor ihr in die Knie gegangen war. Er sah sie aus seinen gelb glänzenden Augen an. „Warum hast du denn schon wieder diesen traurigen Ausdruck im Gesicht?“
„Geh bitte“, sagte Theresa und wich seinem forschenden Blick aus.
„Nein, das werde ich nicht“, sagte Raymond, „Nicht bevor du mir gesagt hast, was dich nun wieder bedrückt.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Oje.“ Raymond seufzte. „Ich war gerade so froh, dass du endlich mal von alleine gelächelt hast und nun fängst du schon wieder an dir über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen. Fröhlich siehst du viel besser aus, also rück schon raus mit der Sprache. Was bedrückt dich?“
„Du hast doch absolut keine Ahnung“, sagte Theresa. Warum ging ihr Raymond immer auf den Geist? Warum tat er immer Sachen, die sie gar nicht wollte? Warum musste er immer das fragen, auf das sie ihm nicht antwor-ten wollte? „Woher will jemand wie du wissen, wie ich mich fühle?!“, fragte sie aufgebracht, „Du hast doch keine Ahnung, wie es ist alten Freunden gegenüber zu treten, wenn man nicht weiß, was man sagen soll! Wenn man sie schon so lange nicht mehr gesehen hat und nie eine Chance hatte ihnen alles zu erklären! Wenn man so aus seinem Leben gerissen wurde wie ich und nie eine Chance hatte es den besten Freunden zu erklären, die vielleicht immer noch morgens auf einen warten und dann aber enttäuscht zur Schule gehen.. oder die einen schon lange vergessen haben...“
Theresa stiegen die Tränen in die Augen und sie begann zu wimmern. Die Angst, dass Clare und Leah sie vielleicht auch einfach vergessen hatten, war noch schlimmer als alles andere. Dieser Gedanke war einfach so schrecklich, dass Theresa sich bisher immer gescheut hatte, so zu denken. Doch das war natürlich auch möglich.
Einen Moment lang schien Raymond etwas verwirrt zu sein, doch dann wurde sein Blick ernst. „Hey“, sagte er beruhigend, „Wenn sie wirklich deine besten Freundinnen sind, werden sie auf dich warten...“
„Sei still!“, schrie Theresa und versuchte verzweifelt die Tränen zurückzuhalten, „Woher willst du das denn wissen? Woher willst du immer alles wissen? Du hast ein glückliches Leben und kennst solche Probleme doch gar nicht! Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?! Warum musst du immer genau das machen oder sagen, was ich nicht will? Warum kannst du dich nicht einfach um deine eigenen Angelegenheiten kümmern? Ich will nicht, dass du mir hilfst! Versteh das doch endlich!“
„Aber Fynn soll dir helfen.“
Theresa starrte Raymond entgeistert an, der immer noch vor ihr hockte. Jedoch hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. Jeglicher Ansatz eines aufbauenden Lächelns, das er vorhin noch auf den Lippen hatte, war verschwun-den. Er sah aus wie jemand, dem man sehr wehgetan hatte.
„Tut mir leid, das war jetzt unfair von mir“, sagte Raymond tonlos, „Aber ob du es glaubst oder nicht, man sieht nicht allen Menschen ihre Erlebnisse immer gleich an. Und ich bin mir sicher, dass deine Freundinnen dir zuhören werden.. tut mir leid, dass ich dir auf die Nerven gegangen bin.“ Er richtete sich auf.
Theresa konnte unterdessen kaum glauben, was sie eben gesehen hatte. Raymond, der sonst so energiegeladen war und einen Enthusiasmus für zehn hatte, hatte eben wirklich traurig ausgesehen. So traurig, dass es einem fast das Herz zerbrach. Theresa wurde erst in dem Moment bewusst, was sie da wirklich gesagt hatte und wie sehr ihm das wehtun musste.
Doch als Theresa gerade etwas sagen wollte, keuchte Raymond auf einmal erschrocken auf. Sein Gesicht war auf einen Schlag wieder so seltsam verzerrt wie an dem Tag, als er hier im Internat angekommen war und sie mit ihm auch hier draußen gesprochen hatte. Als Fynn aufge-taucht war, hatte Raymond auch aus heiterem Himmel das Gesicht so verzogen als ob er furchtbare Schmerzen hätte. Er krümmte sich fast und keuchte wie nach einem Marathon, während er eine Hand verzweifelt in sein Hemd krallte.
Theresa sprang erschrocken auf und wollte zu ihm, doch im selben Moment rief er: „Verschwinde!.. Schnell...!“
Theresa rutschte vor Schreck aus und landete wieder auf dem Rasen. Als sie sich gerade wieder aufgerappelt hatte und Raymond besorgt ansah, entspannte dieser sich auf einmal wieder. Mit einem Schlag hörte er auf zu keuchen und ließ auch sein Hemd an der Brust wieder los. Er stand seitlich zu ihr und richtete sich auf, sodass er wieder gerade stand. Dann fiel sein Blick auf Theresa.
Diese wich erschrocken zurück. Seine Augen waren glühend rot und sahen sie kalt an. Theresa stieß aber mit dem Rücken an den Stamm des Baums und sah den Jungen wenige Meter vor sich verängstigt an. War das da wirklich Raymond?
„Du bist also die Kyra“, sagte er kalt. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sie missbilligend an.
„K-Kyra?“ Theresa hatte keine Ahnung, was hier los war, aber das da vorne war auf keinen Fall Raymond. Der Junge da vorne sah zwar genauso aus wie er, bis auf die tief roten Augen vielleicht, doch er hatte eine ganz andere Ausstrahlung. Er wirkte bedrohlich, aber vor allem herab-lassend und vollkommen respektlos. So wie er sah wohl jemand aus, der sich vor nichts und niemanden fürchtete. Andererseits hatte er immer noch etwas von Raymond, so viel konnte Theresa noch sagen. Etwas playboyhaftes, das auch Raymond wie einen ziemlichen Draufgänger hatte aussehen lassen. Doch davon war nicht mehr viel übrig, besser, es hatte sich verändert. Raymond hatte es nett und aufgeschlossen wirken lassen, doch den Jungen vor ihr ließ es umso bedrohlicher wirken. Jemand in jeder Hinsicht unberechenbares stand ihr gegenüber und sah sie aus kalten Augen an.
„Sag bloß, dass du keine Ahnung von dir selber hast“, sagte er herablassend, „Ich glaub´s echt nicht.“
Er kam mit wenigen Schritten auf Theresa zu, die ihn nur aus geweiteten Augen ansah. Er sah sie von oben herab an. Dann fasste er ihr auf einmal unter das Kinn und hob ihren Kopf an. Er sah ihr direkt in die Augen.
„Aber es besteht kein Zweifel“, sagte er nachdenklich, „Deine Augen haben die typische Färbung der Kyra, du musst eine Nachfahrin der alten Familie sein.. eine, die keine Ahnung von ihren Kräften hat.“
„W-Wovon redest du?“, fragte Theresa mühsam. Auch wenn es vielleicht nicht sehr klug war, wollte sie wissen, wovon er sprach. Denn das, was er sagte, ergab in ihren Ohren so viel Sinn wie ein Elefant in einem Ferrari, nämlich gar keinen.
„Hm.. soll ich´s dir sagen?“, fragte er nachdenklich und ein herablassendes Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit, „Was bist du bereit für eine Antwort zu geben?“
„Hä?“
„Eine Bezahlung“, sagte er und sein rechter Mundwinkel verzog sich, „Du bist recht süß, du kannst auch anders bezahlen, wenn du kein Geld hast.“
Theresa erschrak bei der Erkenntnis, was dieser Junge für eine andere Art der Bezahlung meinte. Sie sollte mit ihrem Körper bezahlen. „Niemals!“, rief sie erschrocken und riss sich los. Sie wich ein Stück zurück, wobei sie aber neben dem Baum blieb.
„So?“ Er schritt in einem etwas weiteren Halbkreis um Theresa, nur um dann mit einem einzigen Schritt wieder direkt vor ihr zu stehen. Er stützte sich mit beiden Händen am Baum ab und Theresas Kopf war genau zwischen seinen Armen.
„Wer hat denn gesagt, dass du das entscheidest?“, fragte er grinsend. Doch dieses Grinsen war nicht freundlich wie bei Raymond, es war siegesgewiss und Theresa war kurz davor zu zittern. Doch in dem Moment sah sie aus den Augenwinkeln, wie Nathaniel über den Rasen auf sie zu gelaufen kam.
„Was machst du da Raymon...?“ In dem Moment sah der Junge vor Theresa ihn an und Nathaniel verstummte. Er kam einige Meter vor ihnen zum Stehen.
„Ich bin nicht Raymond, du Trottel von einem Windma-gier“, sagte der Junge, „Ich bin Ryszard.“