Kapitel 6 - Wut
Meiner Auffassung nach ist heute Montag – da ich aber nicht weiß, wie lange mein Transport von zu Hause nach hierher gedauert hatte, kann ich das nicht mit Sicherheit sagen – und damit höchste Zeit sich Gedanken über meinen weiteren Aufenthalt hier und Pläne für einen mehr oder weniger schnellen Abbruch dieses unerwünschten Kurzurlaub zu machen. Denn in Anbetracht der Kommentare meines nicht sehr zufriedengestellten Magens, habe ich langsam meine Bedenken, ob ich hier etwas zu essen bekommen werde. Oder ob das vielleicht die Strafe dafür ist, dass ich nicht genau das tue, was sie von mir wollen, was immer das auch sein mag. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich das die Spritzen, die sie mit drei bis fünfmal täglich verabreichen nicht nur für den Übergang in den Waschraum, sondern auch zur Nahrungs und Proteinaufnahme da sein sollten. Dieser Gedanke lässt mich erschaudern, das erinnert mich nämlich zusehr an Drogen oder Doping, von dem ich noch nie viel gehalten habe.
Vor gut einer halben Stunde hatte mich ein weiteres Gespräch zweier unbekannter Personen durch den unauffindbaren Lauutsprecher geweckt, der jedoch nichts wichtiges enthielt, sondern mir wiedermal bestätigt, dass ich nicht gerade das tue, was sie von mir sehen wollen.
Trotzdem brachte mir das die Erkenntnis darüber, dass mit Will’s Rumbastlerei an den Teilen ihnen wohl oder übel die Möglichkeit genommen wurde, die Dinger auszuschalten und ich ab sofort jede Unterhaltung mitbekommen würde. Zudem war das, was ich in meinem Traum letzte Nacht als eine merkwürdige Vorahnung des Plans, Will zu mir zu schicken, gehalten hatte, auch einfach nur so etwas gewesen. Theoretisch könnten sie ja auch wollen, dass ich alles mitbekomme, damit ich ihre Anforderungen an mich verstehen kann. Andererseits scheinen ja alle von mir zu erwarten, dass ich weiß, wieso ich hier bin. Schon irgendwie verwirrend, das Ganze.
„Was ist jetzt der nächste Schritt, den ihr wagen werdet? Das mit Will scheint ja gründlich in die Hose gegangen zu sein“, fragt eine Männerstimme und ich höre schlagartig auf, aus Langeweile meine Haare auf irgendeine Weise anders hinbekommen zu wollen, als den Anblick eines Misthaufens, den sie gerade bieten. Vielleicht ist dieses Gespräch ja wichtig.
„Eigentlich ist es gar nicht so ein Fehler gewesen, wie wir zuerst gedacht hatten, als wir Will wieder heraus geholt hatten. Wir haben alle seine Empfindungen genau überprüft, schau.“ Das ist die Frau, die auch dabei war, als David vorgeschlagen hatte, jemand müsse zu mir reingeschickt werden.
„Du weißt doch, dass ich mich mit diesem Technikkram nicht auskenne.“ Der Mann, der vermutlich Will’s Dad ist, klingt leicht genervt.
„Das ist ganz einfach. Die grüne Linie hier auf dem Bildschirm, sie verläuft die komplette Zeit in der Will bei ihr war, relativ gerade. Bis auf den Moment, als sie anfing zu sprechen, da wird alles total unregelmäßig, vollkommen aus dem Gleichgewicht“, erklärt sie. Irgendwie kapiere ich nicht ganz, was sie damit meinen könnte und freue mich deshalb umso mehr, als der Mann meine Frage ausspricht: „Und das bedeutet was genau?“
„Dass Will und Jay die ganze Zeit Recht hatten. Wir haben gedacht, sie seien irgendwie komisch drauf oder hätten das missverstanden, weil wir niemals geglaubt hätten, dass das, was jemand sagt, solche körperliche Macht auf andere ausüben könnte. Sie haben die ganze Zeit die Wahrheit gesagt, Keira’s Worte erreichen sie tatsächlich…“
„Wie ein Hurrikan“, beendet er den Satz. „Das ist wirklich seltsam.“
„Außerdem haben wir bisher in ihrer Erinnerung nicht das kleinste Anzeichen gefunden, dass sie irgendetwas weiß.“
„Das ist sogar noch komischer“, überlegt der Mann und fügt dann noch hinzu: „Wir müssen einfach abwarten, bis Cathy wieder zurückkommt.“ Wer ist Cathy?
„Bis dahin müssen wir die Zeit nützen. Wir haben überlegt, dass wir möglicherweise einfach jemanden zu ihr bringen, der stärkere Gefühle in ihr hervorruft.“ Dieser Satz lässt mich hoffen, dass sie nicht auf die Idee kommen, Mum oder Dad hierher zu bringen. Das kann ich nicht zulassen.
„Wie zum Beispiel?“
„Jay, wen sonst.“
„Seit ihr verrückt? Damit sie ihn in Stücke reißt oder was?“ Halten die mich für so gefährlich?
„Sozusagen“, meint die Frau. Was erwarten diese Leute?
Eine Weile später geht das Licht aus. Sie würden es doch nicht wagen…? Ich schleiche mich zu der Wand neben der Tür und presse mich flach dagegen. Das Licht geht wieder an und ich bemerke, dass dieser seltsame Licht-aus-an-Ryrthmus meine Augen dazu trainiert, sich schneller an verschiedene Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Jay steht mitten im Raum, mit dem Rücken zu mir und schaut sich verdattert um, oder zumindest glaube ich das, denn sein Gesicht sehe ich ja nicht und auch wenn, wäre seine Miene vermutlich schwer zu deuten, obwohl ich schon besser darin geworden bin. Er hat mich immer noch nicht entdeckt.
„Ich glaube, du schuldest mir eine Erklärung“, sage ich so ruhig wie möglich. Trotzdem bilde ich mir ein, dass er leicht zusammenzuckt, bevor er sich blitzartig zu mir umdreht. Kaum habe ich seine Augen gesehen, weiß ich, dass er mich nicht um Verzeihung bitten wird. Er wird sich nicht verteidigen, gegenüber dessen, was er mir angetan hat. Nichts anderes habe ich erwartet.
„Du siehst nicht gut aus“, erwiedert er gelassen. Ach, ich habe auch zwei verdammte Tage ohne Essen in diesem schrecklichen Raum verbracht. Verraten von einem Freund, verurteilt wegen etwas Unbekanntem, und hintergangen, weil ich jemandem vertraut habe, will ich ihm ins Gesicht schreien, doch das hätte nur gezeigt, wie sehr ich schon an ihm gehangen bin.
Stattdessen meine ich: „Du auch nicht.“ Und das stimmt. Nicht weil er irgendwie hässlich ist, ganz im Gegenteil, aber er hat dunkle Ringe unter den Augen, als hätte er tagelang nicht geschlafen, seine Haare sind unordentlich, aber ich weiß nicht genau ob gewollt oder ungewollt und sein Blick ist ausdruckslos.
Wahrscheinlich hocken die komischen Leute, von denen das alles ausgeht, gespannt und mit Popcorn in einer Schüssel vor ihren Bildschirmen und warten gespannt darauf, was als nächstes geschehen wird. Warten auf den ersten Schlag, auf das erste Anzeichen meiner Wut oder Verzweiflung oder was auch immer.
„Ich weiß“, antwortet er. Auch das habe ich erwartet.
„Und ich warte immer noch.“ Ich will, dass er es sagt. Will, dass er sich quält. Versucht, mir eine passende Antwort zu geben. Obwohl ich weiß, dass er es nicht kann. Es gibt nichts, was er sagen könnte, um das alles gut zu machen. Er könnte es versuchen, aber es wäre sinnlos.
„Du hast recht“, seufzt er.
„Mit was habe ich recht?“
„Ich kann es nicht. Ich kann dir keine Erklärung geben, es wäre sinnlos.“ Es ist, als hätte er auf meine Gedanken geantwortet. Trotzdem finde ich es gut. Will hat versucht, sich zu entschuldigen. Aber Jay weiß, dass er es nicht kann. Das ist der größte Unterschied zwischen den beiden.
„Hör zu“, beginnt er und streckt automatisch einen Arm nach mir aus.
„WAG ES JA NICHT!“ schreie ich und schlage seine Hand weg. Oder besser gesagt, will seine Hand wegschlagen. Denn statdessen liegt Jay plötzlich auf dem Boden. Verwirrt schaue ich mich um, doch als ich sehe, dass niemand anderes da ist, gehe ich fast schon selbstverständlich auf ihn zu und helfe ihm auf. Seine Berührung jagt einen Blitz durch meinen Körper und sofort weiß ich wieder, dass ich ja sauer auf ihn bin. Ich will loslassen, doch er hält meine Hand fest.
„Und da behauptest du, keine von uns zu sein“, grinst er, als sei es die Erfüllung all seiner Träume, von mir zu Boden geworfen zu werden.
„Ich verstehe gar nichts mehr. Was war das eben?“ will ich total perplex wissen und starre meine Hand in seiner an. Verdammt, warum habe ich ihm auch aufgeholfen?
„Ich habe dir doch gesagt, du bist eine von uns. Du bist wie wir alle, wie ich.“ Meine Gedanken überschlagen sich. Was meint er damit? Ich bin wie er? Wie ist er denn?
„Ach K, ich kann direkt die Zahnräder rattern hören.“ Ich hasse das Gefühl, das ich habe, wenn er meinen Namen so ausspricht.
„Dann erklär’s mir doch“, flehe ich schon fast.
„Das hier ist eine Art Test, sie versuchen nur herauszufinden, was du kannst.“ Was kann ich denn? Atmen? Englisch sprechen? Mathematische Gleichungen lösen?
„Und wer sind sie?“
„Wir sind anders als normale Menschen und eigentlich gehöre ich zu der Gruppe, die dich hier her gebracht haben, aber im Moment kotzt mich ihre Art gewaltig an“, sagt Jay und starrt wütend in die eine Ecke des Raums.
Plötzlich ertönt jedoch eine aufgebrachte Stimme aus dem Lautsprecher: „Übertreibs ja nicht, du Superheld.“ Will.
„Halt du dich da gefälligst raus“, knurrt Jay. Jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass die Bandsache alle nur gelogen war. Ich bin zwar immer noch wütend auf Jay, aber Will hat kein Recht sich einzumischen.
„Kümmere du dich lieber um deinen eigenen Probleme“, fauche ich.
„Ich sags ja nur ungern, aber im Moment habe ich tatsächlich keine“, antwortet er selbstgefällig.
„Glaub mir, ich bin dein Größtes“, drohe ich ihm. Jay grinst. Wiedermal.
„Bin ich so amüsant?“ zische ich ihm zu und erinnere ihn so daran, dass er immer noch etwas Unverzeihliches getan hat. Bevor er jedoch etwas sagen kann, höre ich Will.
„Tja, diese Frage wird der liebe Jay dir leider nicht beantworten können.“ Verwirrt schaue ich mich um. Was zum Teufel soll das denn heißen?
Dann liegt jedoch ein zutiefst entsetzter Ausdruck auf Jay’s Gesicht und er flüstert: „K, bleib bei mir. Ich…“ Aber bevor er mir sagen kann, was mit ihm ist, kippt er nach vorne. Wie eine Puppe, der man die Seile durchgeschnitten hat. Gerade noch so fange ich ihn auf, doch er ist zu schwer und ich setzte mich auf den Boden und bin ziemlich geschockt abgesichts des tot-aussehenden Jays neben mir.
„Jay? Was ist los? Bist du noch bei mir?“ Doch ich sollte nie eine Antwort bekommen. Was ist hier los? Was ist mit Jay? Er wusste, dass das passieren würde. Er hat gesagt, ich soll bei ihm bleiben. Halb trage, zerre und schleife ich ihn über den Boden, hinüber zu der Matratze. „Weißt du, dass du…ganz schön schwer bist?“ keuche ich dabei und merke erst danach, dass er mich ja nicht hören kann. Oder doch? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Werden sie ihn holen?
Ziemlich erschöpft liegen wir beide letztenendes auf der Matratze. Ich bin total verzweifelt. Die Fragen in meinem Kopf scheinen kein Ende zu nehmen wollen. Wie selbstverständlich streife ich ihm die dunklen Haare aus dem Gesicht. Im Schlaf sieht er ruhiger aus. Ob er überhaupt schläft?
Ich greife nach Jay’s Hand. Sie ist eiskalt, trotzdem halte ich sie fest umklammert, als hinge mein Leben davon ab. Zeige ihm, dass ich bei ihm bleibe. Gleichzeitig versuche ich, ihn nicht zu verlieren. Mich nicht zu verlieren.
Als ich ein Geräusch höre, merke ich, dass ich eingenickt bin. Jay liegt immer noch neben mir. Sein Mund ist leicht geöffnet, wie, als wolle er etwas sagen.
„K.“ Habe ich das gerade tatsächlich gehört? Hat er meinen Namen gemurmelt? Oder war das eine Ausgeburt meiner Fantasie?
Das Geräuscht ertönt wieder. Diesmal bin ich mir sicher, dass Jay das vorher war, aber jetzt ist mir klar, dass jemand anderes im Raum ist. Sind sie gekommen, um ihn zu holen?
„Nein, nehmt ihn nicht mit“, rufe ich denjenigen zu, die hier sind. Bevor ich irgendetwas tun kann, spüre ich schon die Nadel über meine Haut kratzen. Langsam verliere ich das Bewusstsein, sehe alles nur noch verschwommen, und lalle irgendetwas sinnloses, aber meine Gedanken sind klar. Ich will Jay zuschreien, er solle dableiben. Er solle mich nicht allein lassen. Nicht schon wieder.
Als ich wieder aufwache, ist mein Verstand glasklar. Ich weiß, was ich zu tun habe. Eigentlich, denke ich, wusste ich es die ganze Zeit und habe blos auf den richtigen Moment gewartet. Aber das Ereignis mit Jay – so sauer ich auch immer noch auf ihn bin – hat mir den Anstoß gegeben.
Während ich aus dem Bett klettere, das Licht einschalte und das Rumoren meines Magens zu ignorieren versuche, gehe ich alle Einzelheiten des Plans noch einmal im Kopf durch. Lasst den Kampf beginnen!
„Ich bräuchte ein Klo“, sage ich laut und deutlich und weiß, dass sie das nicht ausschlagen können. Schließlich wäre es eine Schande, wenn ich ihre Lederpolster ruinieren würde. Kaum ist das Licht ausgegangen, gehe ich zu Schritt eins über. Der Lichtschalter. Es ist keine große Überraschung, dass er nicht funktioniert. Natürlich nicht, das wäre ja zu einfach gewesen. Schritt zwei besteht darin, zu hören. Und das tue ich. Diesmal sind es zwei Männer, die sich von schräg rechts und links nähern, das höre ich an den schwerfälligeren Schritten. Es macht mein Ganzes Vorhaben nur ein wenig schwieriger. Hoffe ich zumindest. Kurz bevor sie mich erreichen, schlüpfe ich, so lautlos wie möglich, geradeaus, zwischen ihnen hindurch und bin mir sicher, dass sie das gemerkt haben. Dann mache ich auf halben Weg ein wenig Lärm, um sie anzulocken. Dann gehe ich in die Hocke und mache mich ganz klein. Wie erhofft kapieren die beiden das nicht, und rennen prompt mit den Köpfen zusammen. Beide reiben sie die Stirn und taumeln nach hinten. Jetzt renne ich laut atmend – nicht aus Anstrengung sondern als Ablenkung – auf den vermuten Ort der Tür zu, schleiche mich dann um die Beiden herum, die auf mich zulaufen und kralle mir die Schatulle von dem, der sie wie immer hat. Jetzt fängt der Spaß erst richtig an. Die Beiden wirbeln zu mir herum. Den einen erwische ich mit einem Fußtritt am Kopf, worauf er stöhnend ein paar Schritte nach hinten taumeld. Bei dem anderen habe ich nicht ganz so viel Glück. Er schafft es, mich in den Schwitzkasten zu nehmen und ich bekomme keine Luft mehr, bis ich es zustande bringe ihm die Spritze in den Arm zu rammen. Vor Schock und Schmerz lässt er mich los und zieht die Spritze heraus, in der Hoffnung, der Stoff hätte sich noch nicht verbreitet. Aber es ist bereits zu spät. Ich höre wie er hart auf dem Boden aufschlägt. Ich habe nur wenig Zeit, mir Gedanken darüber zumachen, ob das möglicherweise irgendwie gefährlich ist, denn da kommt schon der zweite Angreifer. Ich ducke mich unter seinem Arm hindurch und lande einen Treffer mit dem Ellenbogen zwischen seinen Rippen. Ein Knurren entfährt ihm und er rennt auf mich zu. Er läuft direkt in mich rein, schmettert mich gegen die Wand und hält mich dort fest. Jedoch nur für ein paar Sekunden, denn ich bekomme meine Hände frei, kralle meine Fingernägel in sein Gesicht und zwinge ihn so, mich loszulassen, sonst hätte ich ihm die Augen ausgekratzt. Zum ersten Mal bin ich stolz auf meine Fingernägel. Dann gehe ich in die Offensive. Mein Knie landet einen Treffer in seinen Weichteilen und ihm geben die Füße nach, jetzt kniet er vor mir. Auch wenn es vielleicht unnötig gewesen wäre, trifft mein Kniescheibe-auf-Hinterkopf-Schlag in so hart, dass er k.o. geht. Ich renne auf die Tür zu, sehe das Licht von draußen und Hoffnung breitet sich in mir aus. Freiheit.