Mit dem Handrücken wischte Pfarrer Kessel sich die kalten Schweißtropfen von der Stirn. Bevor er die Tür zum Zimmer hinter sich zuzog, betrachtet er voller innerer Zerrissenheit den leblosen Körper, der, angeschlossen an ein Gewirr von Kabeln und Schläuchen, auf dem Krankenbett lag. Er hatte einem Sterbenden die Absolution verweigert und fast so etwas wie Lust empfunden, als er dem flehentlichen Bitten des Mannes nach Vergebung mit eisernem Schweigen begegnete.
Der steril wirkende Gang, an dem sich die Türen der Krankenzimmer in kalter Monotonie anschmiegten, verlor sich im schwachen Licht gelblich gefärbter Neonlampen. Es war vier Uhr dreißig und erst in einer Stunde würde das Krankenhaus aus seiner Lethargie erwachen.
Aus der Innentasche seines Mantels zog Kessel mit zittrigen Fingern eine blaue Zigarettenschachtel. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand neben Zimmer 34 und ließ den ungefilterten Rauch einer Gauloises tief in seine Lungen strömen. Wenige Minuten hatten gereicht, um den letzten Zipfel seines ohnehin brüchigen Weltbildes endgültig zu zerstören. Kessel öffnete die Augen und sein Blick fiel auf eines jener typischen Gemälde, das unbeachtet die Tristesse der unpersönlichen Krankenhausatmosphäre verstärkte. Das Motiv, der Druck einer unbedeutenden, profillosen Landschaft, verschwand hinter dem Spiegelbild seines verhärmten Gesichtes, dessen erloschene Augen sich hinter einer zu großen Brille versteckten.
Seine strähnigen Haare die stets streng nach hinten gekämmt waren, reichten bis weit in Nacken. Mit der rechten Hand suchte Kessel unter dem abgestoßenen Priesterkragen die dünne Goldkette. Als er sie zwischen seinen Fingern spürte, fuhr er an ihren Gliedern entlang, bis er den Ring ertastete. Niemand außer ihm und Erika hatte ihn jemals zu Gesicht bekommen. Er verspürte kaum einen Widerstand, als er die Kette mit einem kurzen, heftigen Ruck zerriss. Es war lange her, dass er die feine Schrift, die in der Innenseite des Verlobungsringes eingraviert war, betrachtet hatte. „Erika" stand auf der einen Seite und ihr Gegenüber „Für immer". Für immer hatte jedoch nur vierzehn Tage bedeutet. Dann, an einem nebligen Septembermorgen vor dreiundzwanzig Jahren, hatte ein unbekanntes Fahrzeug Erikas Fahrrad erfasst.
Die Wucht des Aufpralls war so stark gewesen, dass ihr Körper einige Meter durch die Luft geschleudert wurde und dann gegen einen Baum stieß.
„Sie ist sofort tot gewesen und hat nichts gespürt", versuchte einer der Notärzte ihn zu trösten, aber er hatte keine Linderung verspürt.
Er hatte überhaupt nichts empfunden, er war selbst wie tot. Kessel kam sich vor wie in einem Kino auf dessen Leinwand ein schlechter Film abläuft, und er war lediglich ein Zuschauer. Jeden Moment lief der Abspann, dann würde das Licht angeschaltet werden, er würde aus dem Raum gehen und alles war wie früher. Aber der Film endete nicht und der Raum besaß keine Türen, durch die er ihn verlassen konnte.
Die Erkenntnis und der Schmerz kamen erst Stunden später. Umgeben von einem dichten Schleier aus Wut, Trauer und Niedergeschlagenheit musste er mit ansehen, dass die Suche nach dem flüchtigen Unfallverursacher nach und nach eingestellt wurde. Seine Geliebte wurde zu einem ungelösten Fall reduziert und landete bei den Akten.
Dass der Fahrer des unbekannten Wagens ohne jede Strafe davonkommen sollte, war für Kessel ebenso unbegreiflich wie unannehmbar. Wochenlang fuhr er mit dem Wagen seines Vaters die Umgebung ab und kontrollierte jedes blau lackierte Auto erfolglos nach den winzigen gefundenen Lacksplittern. Es gab keine Zeugen und nach und nach gab auch er deprimiert die Suche auf. Kessel isolierte sich. Seine Freunde spürten, dass er nur noch widerwillig zu ihren Einladungen kam und wenn, dann still in irgend einer Nische verschwand. Zunehmend einsamer wurde es um ihn und wenn seine Eltern nicht gewesen wären ...
Voller Selbstzweifel suchte er nach einem Sinn und bediente sich der Möglichkeiten, die ihm angebracht erschienen. Er widmete sich dem Glauben und auf einem Exerzitienwochenende war er sicher, einen Weg gefunden zu haben. Kessel begann Theologie zu studieren, besuchte später ein Priesterseminar und legte seine Priesterweihen ab. Als Pfarrer übernahm er später eine kleine Gemeinde in der Nähe seiner Heimatstadt.
Am Abend war der Anruf vom Kreiskrankenhaus gekommen und Kessel war sofort losgefahren. Voller Mitleid hatte er am Bett des alten Mannes gesessen und sofort gewusst, dass der Tod im Zimmer als zurückhaltender Gast bereits anwesend war. Etwas Zeit verblieb, das spürte Kessel aus Erfahrung. Die rasselnde Stimme des Kranken, die seine Gebete begleitete, wurde nach und nach schwächer. Kessel merkte, dass es zu Ende ging. Er legte mitfühlend seine Hand auf den Arm des Sterbenden. Völlig unerwartet umschlossen die schon wächsernen Finger des Mannes sein Handgelenk. Sein Oberkörper bäumte sich auf und der Mund versuchte Sätze zu formen. Kessel beugte sich zu ihm hinab, so dass er seine geflüsterten Worte noch verstehen konnte.
Fünf Minuten lang sprach der Alte stockend und wiederholt unterbrochen von Hustenanfällen. Diese wenige Zeit genügte jedoch, daß Kessels Magen sich zu einem Stück brennenden Eises verwandelte. Es war unfassbar, vor ihm lag der Mann, der vor zwei Jahrzehnten sein Leben zerstört hatte. Der, der zu feige gewesen war, die Verantwortung zu übernehmen und für seine Tat gerade zu stehen. Kessel fühlte sich betrogen und benutzt. Eine Minute hatte er da gesessen, ohne zu einer Bewegung fähig zu sein. Dann hatte er die Hände des Mannes gespürt, die sich mit letzter Kraft an ihn klammerten, und die zittrigen Worte gehört, die flehentlich um Verzeihung und Erlösung baten.
Aber Kessel hatte sie angewidert abgestreift und war mit seinem Stuhl aus seiner Reichweite gerückt. Ungerührt sah er zu, wie Tränen aus den Augen des Sterbenden liefen und er am ganzen Leib zitterte. Nach einem letzten Aufbäumen sackte der Körper in sich zusammen. Kessel saß da und starrte auf den gefliesten Boden. Immer wieder, wie ein nicht endendes Echo, klangen die Worte des Mannes in seinem Kopf nach und formten sich zu Bildern. Eines fügte sich zum Anderen.
An dem Morgen des Unglücks war der gerade Verstorbene mit seinem neuen Ford zum Dienst gefahren. Es war ein nebliger Tag und er hatte sich noch nicht richtig an den Wagen gewöhnt, dessen Lenkung und Bremsen von Hydrauliksystemen unterstützt wurden.
Dann plötzlich war Erika mit ihrem Fahrrad aus dem Dunst aufgetaucht und er hatte reflexartig gebremst. Die Bremsen des Wagen reagierten ungewohnt schnell und das Fahrzeug kam auf dem nassen Asphalt ins Rutschen. Fassungslos hatte er mit angesehen, wie der Körper der jungen Frau von seinem Wagen erfasst und von der Straße geschleudert wurde. Er war ausgestiegen und hatte als erfahrener Landarzt sofort erkannt dass jede Hilfe zu spät kam. In Panik hatte er sich zurück ans Steuer gesetzt und war ohne Ziel einfach drauflosgefahren. Sein Entschluss war ihm nicht leicht gefallen , aber er glaubte, dass es für alle das Beste sei. Wiesbaden schien ihm weit genug und die kleine Werkstatt, die den leichten Lackschaden ausbesserte, wurde sicher nicht kontrolliert. Der Wagen war neu und die frische Farbe des Reparaturlackes war von der Originalfarbe nicht zu unterscheiden gewesen.
„Wem hätte mein Geständnis denn geholfen?", wiederholte Kessel leise die banale Entschuldigung. Die Halskette immer noch in der Hand, ging Kessel den tristen Flur entlang, bis er an der Raucherecke ankam. Der schale Geruch alter Asche hing in der Luft und Kessel trat an das hohe Fenster heran, das zum Lüften schräg gestellt war. Er schloss es und legte den Hebel zum Entriegeln um. Dann zog er es mit einem Ruck auf, kletterte entschieden auf die Fensterbank und sprang.
Hinter dem Krankenhaus hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Rettungssanitäter packten ihre Notfallkoffer ein und zwei Bedienstete eines Beerdigungsinstitutes trugen einen schmucklosen Zinksarg heran. Professor Stein umfasste mit der rechten Hand immer noch fassungslos sein Kinn.
„Was mag in Pfarrer Kessel wohl vorgegangen sein, dass er einen solchen Entschluss gefasst hat?"
„Es ist wohl über seine Kräfte gegangen", entgegnete Stationsarzt Hermanns kopfschüttelnd.
Stein sah ihn irritiert an.
„Wussten Sie es denn nicht?", fragte Hermanns.
„Was soll ich nicht gewußt haben?"
Der Stationsarzt zögerte einen Moment.
„Der Mann, der heute Nacht auf 34 gestorben ist, war Kessels Vater."