Eine sechzehnjährige Auftragsmörderin namens Kate wechselt auf die Arrison Academy, eine Akademie für Killer. Dort lernt sie nicht nur den scheinbar gewissenlosen Auftragsmörder Train Phöenix kennen, sondern stößt mit der Zeit auf ein Geheimnis, das sie dazu bringt dieses eine Mal für den britischen Geheimdienst MI6 zu arbeiten und die Arrison Academy zu übernehmen. Enthält: Auftrag 14: Ein neuer Killer erscheint Auftrag 15: Sondertraining für einen Killer Auftrag 16: Das Treffen der außergewöhnlichen Killer
„So ein Mist“, stöhnte der Professor nur und rückte die Brille mit den großen runden Gläsern auf seiner Nase zurecht, „Dabei hatte ich eigentlich gehofft, dass ihr Körper das aushält. Es hilft nichts, einer von euch ruft bei Mrs Allison an und meldet ihr, dass Kate Randall den Test leider nicht überlebt hat. Der Rest schnallt sie los und entsorgt die Leiche.“
Die drei Männer stöhnten und machten sich kopfschüttelnd daran die Gurte zu lösen, mit denen die Leiche von Kate immer noch an den Stuhl gefesselt war. Dann spannte sich der Kiefer der Leiche jedoch auf einmal an.
Plötzlich piepte das Elektrokardiogramm wieder und ich riss meine dunkelbraunen Augen auf. Ein heftiger Windstoß, dessen Windstärke wohl der eines Tornados gleich kam, schleuderte die Männer von mir weg und ließ sie gegen die Wände krachen. Der Professor, der von dem Windstoß ebenfalls an die Wand geschleudert worden war, drehte sich abrupt um und starrte mich entgeistert an.
Um mich herum schien die Luft wie bei einer richtigen Windhose zu zirkulieren und meine Haare wehten im Wind. Mein finsterer Blick war auf den Professor gerichtet, dem in dem Moment klar wurde, was passiert war.
„Unglaublich...“, murmelte er vollkommen erstaunt, obwohl die Lage für ihn eindeutig alles andere als rosig aussah, „Das Experiment ist gelungen.. damit haben bereits drei Schüler erfolgreich auf das Präparat reagiert. Das muss ich unbedingt der Direktorin melden...“
In dem Moment schwang ich jedoch einmal kurz meinen Arm und eine messerscharfe Windböe schleuderte ihn mit so viel Karacho gegen die Wand hinter ihm, dass es ihm die Knochen zertrümmerte. Er war beinahe augenblicklich tot und ich stand langsam auf. Die anderen drei Männer starrten mich fassungslos an, denn auch sie spürten den starken Wind, der hier im Labor wehte. Als ich die drei Männer ansah, zogen diese schnell die Köpfe ein und warfen sich ängstlich auf den Boden. Sie schienen wirklich nur Laborassistenten zu sein und nicht mehr.
Da wurde auf einmal die Tür zum Laborraum aufgerissen und mehrere Männer mit Pistolen und anderen Schusswaffen verharrten überrascht in der Tür. Ich drehte mich daraufhin zu ihnen um. Nur zwei Sekunden später setzte ich mich in Bewegung und kam langsam auf die Männer zu.
Diese schossen vor lauter Verwirrung auf mich, doch die Kugeln erreichten mich nicht. Sie wurden alle vom Wind umgeleitet und ich kam den in grau gekleideten Männern immer näher. Sobald diese merkten, dass sie keine Chance hatten, nahmen sie Reißaus und rannten den Gang zurück, durch den sie gekommen waren. Sie schienen noch nicht mal eine Ahnung zu haben, mit was sie es hier zu tun hatten.
Auf dem selben Weg wie die Männer verließ auch ich langsamen Schritts das Labor und ging den Gang entlang. Bis vor ein paar Sekunden hatte ich noch nicht mal die Kontrolle über mich selbst gehabt. Nun spürte ich meine Glieder langsam wieder und nahm auch das taube Gefühl wahr, das es mir schwer machte mich überhaupt zu bewegen. Dennoch ging ich langsam den Weg zurück, den man mich zuvor erst hier runter gebracht hatte. Niemand stellte sich mir in den Weg, bis auf die Türen mit den elektronischen Sicherheitsschlössern. Allerdings reagierte mein Körper irgendwie von alleine und mithilfe einiger schneidender Windböen hatte sich das Problem mit den verschlossenen Türen erledigt.
So kam ich schließlich wieder oben an, wo mehrere Männer in weißen Kitteln wie die aufgescheuchten Hühner umherliefen und keine Ahnung hatten, was sie machen sollten. Allem Anschein nach wollten sie mich aufhalten, doch Kugeln drangen immer noch nicht bis zu mir durch und näher an mich heran traute sich keiner von ihnen.
Deshalb kam es wohl auch so, dass die letzte Tür von einer Windböe aus den Angeln gerissen wurde und ich nach draußen torkelte. Das verdammte Narkosemittel wirkte leider immer noch ziemlich gut und ich konnte mich kaum aufrecht halten, dennoch durchquerte ich schlurfend den nordwestlichen Wald und kam schließlich wieder zurück auf den Hauptweg.
Ich schwankte den Weg allerdings nur entlang. Vor meinen Augen verschwamm alles und ich spürte, dass ich gleich ohnmächtig werden würde. Ein leichter Wind zirkulierte noch immer um mich und spielte mit meinen Haaren. War das mein Werk? Ich hatte keine Ahnung.
„Kate!“ Train kam angelaufen und ein Stück vor mir blieb er stehen. Ich sah schlimm aus, als hätte man mich misshandelt. Die Abdrücke der Gurte waren an meinen Armen zu sehen und ich hatte etliche Schrammen. Außerdem spürte er den Luftzug, der um mich herum zirkulierte, als wäre ich in eine Kugel aus Wind gehüllt.
„Trai..n...“ Ich kippte nach vorne und verlor das Bewusstsein.
Schnell trat Train einen Schritt nach vorne und ich fiel ihm genau in die Arme. Die Luft hörte auf zu zirkulieren und der Wind verschwand. Er starrte mich nur entgeistert an, denn er ahnte, was mit mir passiert war.
Pieps kreiste über uns und segelte durch die nun wieder ruhige Luft.
Als ich wieder zu mir kam, fühlten sich meine Glieder zunächst taub an. Fast so als würden sie gar nicht zu mir gehören. Erst langsam kehrte das Gefühl in sie zurück und schließlich reichte mir die Dunkelheit und ich schlug die Augen auf. Mein überraschter Blick fiel auf Train, der über mich gebeugt auf der Bettkante saß und mich ziemlich besorgt ansah.
Ich wollte gerade etwas sagen, als Train sich auf einmal vorbeugte und mich, obwohl ich noch immer auf dem Rücken lag, in die Arme schloss. Ich lief rot an. Meine Wangen glühten und ich starrte die Decke vollkommen verwirrt an. Hatte ich da irgendetwas verpasst?
„Es tut mir so leid“, murmelte Train in meine Haare. Seine Stimme war voller Reue und klang schon fast verzweifelt, während sein warmer Atem dicht neben meinem Ohr war. „Ich.. du.. du bist die einzige Partnerin für mich.. egal was Anika gesagt hat, du bist die Einzige.“
Ich hatte das Gefühl, dass ich gerade noch roter wurde als ich es ohnehin schon war. Und auch wenn mein Verstand noch nicht wieder ganz wach war, begriff ich dennoch, dass ich mich geirrt hatte. Das war das erste Mal, dass ich froh war mich in jemandem geirrt zu haben. Vor lauter Erleichterung wollte ich schon beinahe die Arme um ihn legen.
„Ich will ja nicht stören, aber ihr seid hier nicht alleine und ich wollte das nicht miterleben“, bemerkte plötzlich ein Junge, der mit verschränkten Armen an der Trennwand lehnte und uns mit einer hochgezogenen Augenbraue ansah. Seine kurzen Haare waren zerzaust und glänzend schwarz. Außen auf seiner linken Wange war außerdem noch eine Art kleines Tattoo, das wie ein schwarzes Pik aussah. Es bildete einen starken Kontrast zu der ordentlichen, hellgrauen Uniform, die der unseren abgesehen von der Farbe vollkommen glich.
Mir schloss augenblicklich noch eine Ladung Blut ins Gesicht und ich stieß Train von mir runter, sodass er neben dem Bett auf dem Rücken landete. Allerdings war Train ebenfalls ziemlich rot im Gesicht. Ich bekam unterdessen ihren Wecker zufassen und schleuderte ihn dem Jungen entgegen.
„Wer bist du?! Und was suchst du in meinem Zimmer?!“, fragte ich aufgebracht.
Der Junge hatte den Wecker noch vor seinem Gesicht abfangen können und sah mich belustigt an. „Mein Name ist Chronos“, sagte er grinsend, „Und wir arbeiten in derselben Branche, auch wenn wir bisher noch nicht das Vergnügen hatten einander zu begegnen.“
Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn misstrauisch an.
„Du hättest auch mal früher sagen können, dass du immer noch da bist“, bemerkte Train mit genervter Stimme. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass er diesen Chronos nicht leiden konnte.
„Ich dachte, das wüsstest du“, warf Chronos ein. Er klang durchgehend amüsiert, als würde ihm das ganze hier einen riesigen Spaß machen. „Immerhin warte ich schon eine ganze Weile mit dir darauf, dass Dornröschen wieder aus ihrem Schlaf erwacht.“
„Wer ist hier Dornröschen?“, fragte ich nun gereizt. Was war der Junge mit dem ungewöhnlichen Namen für ein schräger Vogel?
Trains Augen wurden schmal und er kam wieder auf die Füße.
„Du hast immerhin volle drei Tage geschlafen“, kommentierte Chronos meine wie ein Vorwurf klingende Frage, „Daher ist der Name nicht ganz unpassend.“
„Drei Tage?“ Mir kam das höchstens wie Stunden vor. Jedoch kehrten auch meine Erinnerungen wieder zurück und mir kam eine berechtigte Frage in den Sinn: „Was ist mit mir passiert?“
Train zuckte leicht und Chronos Grinsen wurde zu einem milden Lächeln. Er blickte zu Train, der die Hände zu Fäusten ballte und verbissen den Teppich anstarrte.
„Hast du schon mal etwas von Genmanipulation gehört?“, fragte Chronos nach einer Weile, als Train immer noch nichts gesagt hatte.
Kurz weiteten sich meine Augen, bevor sie wieder schmal wurden. „Flüchtig.“
Chronos sah erneut zu Train. „Willst du ihr das nicht lieber erklären?“
„Halt die Klappe“, sagte Train nur und sah zur Seite. Er wusste einfach nicht, wie er anfangen sollte.
„Nö“, erwiderte Chronos und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, „Und so unfassbar ist das, was wir sind, nun auch wieder nicht. Außerdem scheint deine Freundin schon zu ahnen, was hier vor sich geht. Also warum...“
„Halt endlich die Klappe!“, rief Train und der Ärmel von Chronos´ dünnem weißen Blazer über dem hellgrauen Hemd ging in Flammen auf.
„Hey hey, kein Grund gleich auszurasten“, sagte Chronos jedoch gelassen und auf einmal bildete sich um seinen Arm herum Wasser, das das Feuer sofort erstickte.
Ich sah beide nur ungläubig an. Feuer? Wasser? Beides war ganz plötzlich und wie aus dem Nichts erschienen! Was ging hier vor sich?
Im nächsten Augenblick kam mir jedoch wieder in den Sinn, was ich vor drei Tagen erlebt hatte, und so langsam merkte ich, um was es sich hier handelte. Auf jeden Fall um etwas ganz anderes, als ich zunächst geglaubt hatte, als ich Mrs Allison und diesen VanDyke belauscht hatte.
„´tschuldigung, das hat dich jetzt bestimmt überrascht“, sagte Chronos zu mir, doch seine Stimme hatte nichts von ihrem belustigten Unterton verloren. Er schmunzelte. Und meiner Meinung nach hatte dieser Typ nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Train schien dabei erst aufzufallen, dass ich ja auch noch zusah.
„Ein bisschen“, räumte ich ein, obwohl ich im ersten Moment zutiefst erschrocken gewesen war, „Und es wäre wirklich sehr nett, wenn einer von euch beiden die Freundlichkeit besäße mich aufzuklären. Und zwar wirklich über alles.“
„Alles? Auch unsere.. schmutzigsten Geheimnisse?“, fragte Chronos grinsend, „Um es wie Walker auszudrücken.“
„Kann es sein, dass du einer Verwandter von diesem Clown bist?“, fragte ich nur resigniert, „Du ähnelst ihm nämlich sehr.“
„Ich hatte nur eine ganze Zeit lang bei ihm Unterricht“, antwortete Chronos.
„Wir wurden genmanipuliert“, sagte Train auf einmal ohne mich anzusehen. Er sah nach draußen aus dem Fenster und ich horchte leicht überrascht auf. „Die Scythe Society betreibt im Geheimen und ohne dass irgendein Geheimdienst davon weiß ein Projekt, bei dem sie die Gene von Menschen und anderen Lebewesen erforschen. Und seit einigen Jahren haben sie ein Serum entwickelt, das die Gene manipuliert und, anders als in Filmen, bei Menschen eine Art zusätzliche Fähigkeit auslöst. Wenn sie das Injizieren des Serums und die Umstellung der Zellen überhaupt überleben jedenfalls. Diese Forschung hat schon unzählige Tote gefordert, aber es gab auch acht.. jetzt neun positive Fälle, die das überlebt haben und eine eigentlich unmögliche und von der Natur nicht vorgesehene, zusätzliche Fähigkeit besitzen.“
Das Puzzle in meinem Kopf begann langsam damit sich zusammenzusetzen. So ganz allmählich begriff ich die Zusammenhänge. Besonders das Gespräch zwischen Allison und VanDyke ergab jetzt einen Sinn und ich begriff, warum kaum jemand etwas über die Scythe Society wusste.
„Die positiven Fälle sammeln sie in einer Spezialeinheit, trainieren sie und lassen sie dann Aufträge von ganzen Regierungen übernehmen.. ganz wie Auftragskiller, nur dass sie über eine besondere Fähigkeit verfügen und damit gegenüber normalen Killern einen Vorteil haben“, sagte Train tonlos.
„Und.. ihr zwei gehört auch dazu“, sprach ich eine vage Vermutung aus. War dies das Geheimnis, das Train mir die ganze Zeit über verheimlicht hatte?
Train nickte, doch er wirkte nicht sehr glücklich. „Wir haben wahrscheinlich bereits mehr Leute umgebracht als Männer und Frauen in einem Krieg sterben. Die Menschen fürchten uns wegen unserer Fähigkeiten und die Scythe Society benutzt uns.. Aber mit diesem Schicksal haben wir uns schon lange abgefunden. Die Manipulation kann nicht mehr rückgängig gemacht werden und damit können wir auch nicht unser altes Leben zurück...“
„Du bist ein echter Miesepeter“, stellte Chronos trocken fest, der gegenüber an der Wand lehnte und Train bisher schweigend zugehört hatte, „Wir sind anders, aber das ist auch schon alles. Und soweit ich es von einem guten Freund hier gehört habe, warst auch du eine Zeit lang wie ein ganz normaler Junge und hattest Spaß, wie es sich in deinem Alter gehört.“
Chronos blickte zu mir und in seinen himmelblauen Augen spiegelte sich so etwas wie eine leichte Neugier. „Dank eines Mädchens, das sich auch vor einem ruchlosen Killer nicht scheut.“
Ich zog eine leicht verwirrte Miene. Redete er gerade von mir? Aber was hatte ich denn bitte schön damit zu tun, dass Train Spaß hatte? Joey hatte auch schon von etwas Ähnlichem gesprochen, nur ich kam irgendwie nicht dahinter, was sie meinten.
„Halt den Mund“, sagte Train jedoch. Kurz hatte sich sein Blick zu mir verirrt, doch dann sah er wieder zur Seite. Er schien sich irgendwie unwohl zu fühlen.
„Oje.“ Chronos schüttelte den Kopf. „Begreif endlich, dass es zu spät ist. Kate gehört nun auch zu uns, daran kann keiner mehr etwas ändern. Und das ist auch nicht deine Schuld...“
Seine Schuld? Glaubte Train, dass er daran Schuld war, dass ich jetzt anscheinend auch irgendein genmanipuliertes Etwas war? Dass ich die Erkenntnis, dass man mich jetzt höchst wahrscheinlich nicht mehr als normalen Menschen bezeichnen konnte, so ohne Weiteres verkraftete, verdankte ich wohl dem Umstand, dass es in den letzten Tagen einfach zu viele unglaubliche Dinge gegeben hatte. Doch soweit ich das Ganze jetzt verstand, denn ich war mir irgendwie ziemlich sicher, dass diese Anika ebenfalls zu dieser Sondereinheit gehörte, traf ihn keinerlei Schuld. Zumindest nicht, wenn es um meinen physischen Zustand ging. An meinem psychischen Zustand der letzten Tage hatte er natürlich maßgeblich Anteil, doch das war ja etwas anderes.
„Halt endlich deine Klappe!“, rief Train aufgebracht, „Wenn ich mich nicht mit ihr angefreundet hätte, wäre das höchst wahrscheinlich nie passiert! Sie haben Kate nur wegen mir gewählt, weil ich wegen ihr meine eigentlichen Aufträge vernachlässigt habe und weil es eigentlich sicher war, dass sie bei diesem Experiment sterben würde! Es ist ein Wunder, dass sie überlebt hat! Und das IST meine Schuld! Wir hätten niemals Freunde werden sollen...!“
„Was?“ Ich sah Train nur beinahe fassungslos an. „Findest du nicht, dass es für diese Hätte-, Wäre-, Wenn-Masche jetzt ein bisschen spät ist? Und außerdem wäre es wenn denn ganz allein meine Schuld, weil ich auf diese Akademie gekommen bin und mich WILLENTLICH mit dir angefreundet habe! Also hör verdammt nochmal auf dich hier so aufzuspielen! Ich habe vielleicht noch immer keine wirkliche Ahnung von dem, was mit mir passieren wird, aber ich bereue es nicht hier her gekommen zu sein! Das, was ich bereue ist, dass ich nicht schon früher herausgefunden habe, was hier wirklich los ist. Dass ich nicht früher gemerkt habe, was mit dir eigentlich ist! Das bereue ich, aber nichts anderes!!“ Ich war wütend. Schon wieder wegen Train.
„Wieso mit mir?!“, fragte Train aufgebracht, „Mach dir gefälligst mal mehr Sorgen um dich, du verdammtes Mädchen! Was mit mir ist, ist mir egal...!“
„Mir aber nicht!“, schrie ich und Tränen glitzerten auf meinen Wangen, „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie verzweifelt ich wegen dir war?! Weißt du, wie schlimm es für mich war, dass du mich plötzlich einfach ignoriert hast? Du.. mein Partner.. und Freund...“
Ich drehte mich weg und unterdrückte ein Schluchzen. Wieso wollte dieser verdammte Vollidiot nicht begreifen, dass er sich selbst vielleicht nichts aber anderen durchaus etwas bedeutete? Das gab es doch nicht! Und konnte mal einer den Tränen das Wasser abstellen? Das wäre zu gütig.
Train sah mich ein wenig hilflos an und war verzweifelt am überlegen, was er tun sollte. Das hatte er doch nicht gewollt! Wieso ging in letzter Zeit alles schief? Da war doch echt der Wurm drin! Wie sollte er mir erklären, was er fühlte, damit ich ihn verstand? Darin hatte er keinerlei Erfahrung und er wusste einfach nicht wie.
In dem Moment gab Chronos ihm jedoch einen Schubs und Train stolperte nach vorne. Noch bevor er Chronos einen derben Fluch an den Kopf werfen konnte, stieß er gegen das Bett und landete genau vor mir, die ich zwar schon seit einer Weile wieder aufrecht saß, ihm nun aber den Rücken zugedreht hatte. Einen Moment lang passierte nichts.
Als ich gerade aufsehen wollte, legte Train jedoch auf einmal beide Arme um mich und ich spürte seinen Atem in meinem Haar. Vor lauter Überraschung saß ich steif vor ihm und wagte es nicht mich zu rühren.
„Es tut mir leid“, flüsterte Train und er klang wieder so voller Reue, „Ich.. wollte dich nicht verlieren. Anika hätte dich ohne Zweifel auf der Stelle umgebracht, wenn ich nicht gehorcht hätte.. auch wenn sie ja trotzdem versucht hat.. Ich weiß, es sind alles nur lahme Entschuldigungen, aber.. ich hatte gehofft, dass ich etwas ausrichten könnte. Dabei war ich letztlich genauso machtlos wie damals.. als mein Leben sich von einem zum anderen Tag änderte...“
Ich spürte seine Verzweiflung und im gleichen Maße wie das angenehme Gefühl von Sicherheit, das ich in seinen Armen empfand, zunahm, verrauchte meine Wut. Er war wirklich ein Trottel.
„Kapierst du nicht, dass es Menschen gibt, denen du wichtig bist?“, fragte ich leise, „Menschen, die mit dir zusammen sein wollen, auch wenn es vielleicht gefährlich ist. Leute, denen du deine Sorgen anvertrauen kannst und die zu dir halten, egal was du bist. Freunde, die dir in Not helfen und für dich da sind? Partner, die sich Sorgen machen, wenn du plötzlich anfängst dich ohne eine Erklärung von ihnen abzusondern. Ist das so schwer zu verstehen?“
„Es ist schwer, wenn man nie zuvor so jemanden hatte“, flüsterte Train, der wohl hoffte, dass Chronos ihn so nicht hörte, „Besonders, wenn man denjenigen beschützen will, aber nicht weiß, wie man das tun soll.“
„Dann hab doch Vertrauen in denjenigen“, erwiderte ich ebenso leise, „Hab Vertrauen in denjenigen und in dich. Vielleicht sieht man die Lösung nicht immer sofort, aber es gibt immer einen Weg. Man muss nur den Mut haben nach ihm zu suchen...“
Ich spürte, wie Train mich enger an sich zog. Im Gegenzug wagte ich es mich zu entspannen und an seine warme Brust zu lehnen. Meine Augen fielen ganz von alleine zu und meinem Verstand gönnte ich eine kleine Pause. Train gab mir ein Gefühl, das ich, wie mir jetzt erst auffiel, schon seit Jahren fehlte. Das Gefühl von Geborgenheit und das Gefühl eine Familie und Freunde zu haben, die für einen da waren. Es war ein fast unbeschreibliches Gefühl.
Train schien im ersten Moment ein wenig verblüfft zu sein, dass ich mich gar nicht dagegen sträubte ihm so nahe zu sein. Dann seufzte er nur ganz leise und vergrub sein Gesicht halb in meinen Haaren. Ich wusste, dass auch er die Augen geschlossen hatte. Er schien ebenfalls ziemlich erleichtert zu sein. Da hatten wir beide etwas gemeinsam.
Chronos stand nur mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtete uns schmunzelnd. Er war zufrieden mit seinem Werk. Manchmal musste man den Dingen eben einen kleinen Schubs geben, damit sie ins Rollen kamen.
Nach gut zehn Minuten, in denen beinahe absolute Stille im Zimmer geherrscht hatte, war ein leises Schnarchen zu hören. Train und ich sahen uns daraufhin stirnrunzelnd an, bevor wir unwillkürlich zu Chronos blickten, der noch immer gegenüber vom Bett an der Wand lehnte und im Stehen eingeschlafen zu sein schien. Sein Kopf hing etwas schief und außerdem hatte er immer noch die Arme verschränkt. Ein komisches Bild.
„Ich glaub´s echt nicht“, sagte ich lediglich verdattert, „Was ist das für ein Typ?“
„Einer, der den Verstand verloren hat?“, schlug Train in leicht herablassenden Tonfall vor.
„Normalerweise würde ich davon ja eher absehen, aber in diesem Fall...“ Mein kurzes Kopfschütteln reichte hoffentlich aus, um meine Unschlüssigkeit über die Einordnung von Chronos deutlich zu machen.
„Die Kaltherzigkeit von Train kenne ich ja schon“, bemerkte Chronos auf einmal mit einem schiefen Grinsen und nur einem geöffneten Auge, „Aber dass du auch so eine Kratzbürste bist, hätte ich nun nicht erwartet.“
„Kratzbürste?“ Mein linkes Auge begann zu zucken. „Dir sollte vielleicht noch mal einer Manieren beibringen...“ Ich bemerkte, wie um mich herum plötzlich ein leichter Wind aufkam und natürlich merkten es auch die beiden Jungen.
„Oh, das typische Symptom an Anfang“, stellte Chronos mit einer hochgezogenen Augenbraue fest, „Du solltest deine Gefühle besser im Zaum halten, sonst kommt es bei deiner Fähigkeit noch zu einem Tropensturm und den möchte, glaube ich, keiner von uns miterleben.“
Ich biss die Zähne zusammen und der Wind wurde stärker. Die Seiten eines aufgeschlagenen Buches auf meinem Schreibtisch wurden umgeblättert.
„Wenn du nicht sofort deine Klappe hältst, haben wir hier drin gleich wirklich einen Sturm“, bemerkte Train lediglich genervt. Er konnte Chronos wirklich nicht leiden, aus welchem Grund auch immer.
„Na ja, einmal richtig durchgepustet zu werden hat doch auch was“, entgegnete dieser schmunzelnd, „Gerade dir dürfte das gut tun, du bist viel zu versteift.“
Trains linke Augenbraue zuckte leicht. Der letzte Anhang von Chronos schien ihn dazu zu verleiten etwas zu nehmen und es Chronos an den Kopf zu werfen, auch wenn er es bis jetzt noch nicht getan hatte. Er hatte nur meinen Wecker in der Hand.. Moment mal! Das ist mein Wecker!
„Was guckst du mich so an?“, fragte Chronos belustigt, „Es ist doch wahr. Außerdem ist zu viel Pessimismus schlecht für die Gesundheit. Das Leben ist zu kurz um die ganze Zeit Trübsal zu blasen. Wir sind was wir sind und solange wir unsere Taten nicht verleugnen und uns ihnen stellen, sind auch wir Menschen. Keine Monster, wie manche uns wohl bezeichnen würden. Und wenn wir damit trotzdem nicht leben können, steht ja auch noch Selbstmord zur Option.“
„Sehr aufbauende Worte, wirklich ganz toll“, kommentierte ich resigniert. Ich wusste einfach nicht, was ich von diesem halb Erwachsenen halten sollte. Er hatte echt ein Rad ab.
„Findest du? Das freut mich aber.“
Train schien genug zu haben und mein Wecker segelte heute zum zweiten Mal durchs Zimmer, doch wieder gelang es Chronos meine lautstarke Uhr vor seinem Gesicht abzufangen. Irgendwie schien er dabei nur gegen den Ein- und Ausschalter gekommen zu sein, denn plötzlich schrillte mein Wecker los und gab einen schön nerviges Piepen von sich.
„Wie stellt man das Ding ab?“, fragte Chronos und sah meinen Wecker an als wäre er irgendein ekliges Insekt. Im nächsten Moment startete dieses eklige Insekt auch schon seinen dritten Rundflug und landete wieder bei mir, die ich Erbarmen mit ihm hatte und das arme Gerät erst ausstellte, bevor ich es wieder auf die Fensterband setzte.
„So stellt man es ab“, sagte ich, „Und wer hat dir eigentlich erlaubt damit zu werfen?“
„Du hast ihm das Ding doch auch schon an den Kopf geworfen“, erwiderte Train.
„Ja, aber es ist auch mein Wecker“, bemerkte ich.
„Ihr seid süß, wenn ihr streitet“, stellte Chronos mit seinem üblichen, breiten Grinsen fest, „Wie ein altes Ehepaar.“
Anscheinend hatte man mir meine Schuhe, bevor man mich ins Bett verfrachtet hatte, noch ausgezogenen und sie vor das hölzerne Bettgestell gestellt. Nun hatten Train und ich beide je einen Schuh in der Hand und schleuderten ihn Chronos entgegen. Es war wirklich ganz wie bei Walker, Chronos war eindeutig zu lange sein Schüler gewesen. Leider nur wich Chronos den Schuhen geschickt aus und verschränkte grinsend die Hände hinter dem Kopf.
„Ihr seid herrlich, ich beneide euch beide um eure Jugend“, sagte er amüsiert.
„Apropos...“ Mir fiel da gerade etwas ein. „Wie alt bist du eigentlich? Wo kommst du her und ist es Zufall, dass deine Klamotten wie unsere Uniformen aussehen?“
„Ich dachte schon, du fragst nie.“ Dieser Typ grinste immer noch, als hätten wir hier gerade irgendeinen guten Witz erzählt. „Ursprünglich komme ich aus Österreich, bevor ich mit dreizehn auf die Akademie kam. Wie alle hielt ich das zunächst nur für eine Art cooles Spiel, bevor ich Rang 4 bekam und feststellen musste, dass die Wirklichkeit fernab meiner bis dahin herrschenden Vorstellungen war. Na ja, eine Weile lang arbeitete ich für die Akademie, ehe ich als Versuchskaninchen endete und auch so ein Serum gespritzt bekam, wie du und die anderen positiven Fälle.“
Er hob seine Hand, in der für ein paar Sekunden frei schwebendes Wasser erschien. „Ich war im Übrigen der Vierte, an dem sie das Teufelszeug ausprobiert haben. Na ja, eigentlich sollte ich daraufhin bei der Scythe Society einsteigen, aber ich wollte nicht. Nach einigem hin und her endete es damit, dass ich hier auf der Akademie blieb und den Sonderrang 5 bekommen habe, deswegen auch die graue Uniform, aber ich muss auch für die Organisation Aufträge ausführen.. Und ich bin mittlerweile neunzehn, kann aber zum Glück immer noch hier bleiben. Die Quartiere bei der Scythe Society sind gruslig.“
„Aha.“ Dass meine Augenbraue beim letzten Teil wieder eine starke Tendenz nach oben bekam, konnte ich leider nicht verhindern. Jedoch konnte ich mir durch seine Erzählung an drei Fingern ausrechnen, was wohl auch mir bald blühte.
„Keine Angst, du bist ja noch keine achtzehn, daher wirst du wahrscheinlich hier auf der Akademie bleiben können.“ Chronos schien erraten zu haben, an was ich gerade dachte. „Aber du wirst nicht umhin kommen die Sondereinheit wenigstens kennenzulernen und auch Aufträge der Organisation auszuführen. Das ist unser aller Schicksal.“
„Sieht ganz so aus“, sagte ich nur.
„Mach dir keinen Kopf“, sagte Train, stand vom Bett auf und streckte sich, „Zwar sind alle dort etwas sonderbar und zwei oder drei kannst du in die Tonne treten, aber die anderen sind eigentlich ganz in Ordnung...“
„Auch wenn du dich da trotzdem nicht ganz wohl fühlst“, stellte Chronos mit einem belustigten Schmunzeln fest, „Genauso wenig wie ich.“
„Dich hat niemand nach deiner Meinung gefragt“, sagte Train genervt.
„Das muss auch niemand, ich gebe meine Gedanken freiwillig preis“, erwiderte Chronos. Sein Grinsen schien wirklich untrüglich, es war erstaunlich.
„Sagt mal, kann es sein, dass ihr beide Spaß daran habt euch zu kappeln?“, fragte ich rein aus Interesse.
„Es ist eine nette Beschäftigung“, bejahte Chronos meine Frage.
„Bei dem kann man nicht anders.“ Train warf ihm einen herablassenden Blick zu, der Chronos jedoch keineswegs zu stören schien.
Ich schüttelte über die beiden nur den Kopf. So ganz schlau wurde ich aus den Jungen nicht, aber was soll´s? Immerhin schien ich nun endlich Antworten auf die ganzen Fragen in meinem Kopf zu bekommen, auch wenn ich dafür einen hohen Preis gezahlt hatte. Noch wusste ich nicht, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht. Aber bald würde ich wohl auch das herausfinden, sowie den ganzen Rest.
„Übrigens wirst du dann ab jetzt auch mit uns trainieren“, bemerkte Chronos, „Zwar haben wir alle unterschiedliche Fähigkeiten, aber wir helfen uns trotzdem gegenseitig. Natürlich musst du letztendlich selbst herausfinden, wie du deine neue Kraft am besten handhabst, aber wenn du jemanden zum Ausprobieren brauchst, stehen wir jederzeit zur Verfügung.“
„Auch wenn du das von einigen aus der Einheit nicht unbedingt an dir ausprobieren lassen solltest“, warf Train etwas resigniert ein, „Ich wurde von einem Stromstoß schon mal kräftig gegrillt, in Eis eingefroren, fast vergiftet, hypnotisiert und beinahe gestorben bin ich auch schon mehrmals. Also kann ich dir nur davon abraten.“
„Okay...“ Ich nickte nur und mein Lächeln war leicht außer Form geraten. Oh Heiliger, was hatten die anderen nur für Fähigkeiten? Das hörte sich ja nach einem abgedrehten Sciencefiction-Film an. Mit dem Unterschied, dass das hier die ungeahnte Realität war und ich mitten drin steckte. Jippie ei yeah! Was war ich doch für ein Glückspilz?
„Du gewöhnst dich mit der Zeit aber an die anderen“, sagte Chronos lächelnd, „Nur mit Thore und unserem Leiter Mr VanDyke solltest du dich nicht anlegen...“
„VanDyke? Der war doch erst vor kurzem bei der Direktorin“, stellte ich überrascht fest. Das war der Leiter der Spezialeinheit der Scythe Society gewesen? Da konnte ich wohl von Glück reden, dass ich nicht erwischt worden war.
„Gut möglich“, sagte Train, „Mrs Allison hat für die Scythe Society als Killerin und zeitweise auch als Verwalterin gearbeitet, bevor sie die Leitung der Akademie übernommen hat. Außerdem werden die Schüler, die sich aus Auftragskiller eignen, sobald sie achtzehn sind an die Organisation weitergereicht. Die anderen werden einfach an irgendwelche Konzerne abgegeben und dürfen zusehen, wie sie klarkommen. Soweit wir jedenfalls wissen soll die Akademie uns das Grundwissen übermitteln, damit die Scythe Society uns nur weiterbilden muss. Daher stehen die Organisation und die Akademie natürlich in ständiger Verbindung.“
Das ganze kam mir ziemlich bekannt vor. Etwas Ähnliches hatte mir Iron bereits erzählt, als ich vor einigen Tagen bei Sondereinheit des MI6 zu Gast gewesen war. Ich erinnerte mich noch lebhaft daran und auch an das, was Iron mir über die Akademie berichtet hatte. Weitere Puzzleteile rückten an ihren Platz und mein Bild von dem, was hier vor sich ging, wurde immer klarer.
„Na ja, der Rest der Spezialeinheit ist aber eigentlich ganz in Ordnung“, sagte Chronos nachdenklich, „Abgesehen von Karin vielleicht, sie ist ein richtiges Ekelpaket. Aber Robin, Jake und Isabella sind eigentlich ganz okay.“
„Schön zu hören“, sagte ich nur.
„Sei trotzdem vorsichtig“, mahnte Train.
„Schon gut Papa, ich pass auf mich auf“, seufzte ich. Train war meiner Meinung nach fast ein bisschen zu besorgt. Ganz blöd war ich schließlich auch nicht.
Chronos fing auf den Kommentar hin an zu lachen und Train sah mich - wahrscheinlich wegen des Namens – irritiert an. Es war lustig sein Gesicht so stutzig zu sehen und ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, ehe ich selber anfing zu kichern.
In dem Moment wurde die Tür aufgerissen und Anja kam stolpernder Weise zum Stillstand. Sie sah die Anwesenden im Zimmer nur reichlich verwirrt an. Besonders Chronos, der immer noch leise kicherte, schien ihren Blick magisch auf sich zu ziehen. Na ja, ist ja eigentlich auch verständlich, immerhin sah die Sache aus ihrer Sicht auch ganz schön seltsam aus: Train, der bis vor kurzem noch nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, stand direkt neben meinem Bett und sah ein wenig resigniert aus; dann war da noch ein ihr völlig unbekannter und zudem noch älterer Junge im Zimmer, der nach wie vor am Kichern war; und zu Letzt noch ich, die volle drei Tage durchgeschlafen hatte und nun auf einmal scheinbar völlig gesund zu sein schien. Da war ihr verständnisloser Blick schon nachvollziehbar.
Chronos hatte sie inzwischen ebenfalls entdeckt, grinste sie jedoch nur an. „Na? Du wolltest bestimmt nach unserer süßen Kratzbürste sehen, oder?“
Anja schien nun noch irritierter zu sein.
„Frag nicht so was Dämliches“, zischte Train.
„Sei du nicht so unfreundlich“, erwiderte Chronos schmunzelnd.
„Halt die Schnauze!“
„Gleiches zurück.“
„Haltet beide die Klappe“, sagte ich nur genervt und seufzte, bevor ich Anja mit einem schiefen Lächeln ansah, „Tut mir leid, die beiden sind echt anstrengend. Aber wie du siehst, geht es mir schon wieder ganz gut. Kein Grund zur Sorge.“
Anja wirkte immer noch überrascht.
Dabei fiel mir ein, dass ich meine Frustration in den letzten Tagen vor dem Vorfall auch an ihr ausgelassen hatte, obwohl sie nun am wenigsten dafür gekonnt hatte. Ich stand vom Bett auf, auch wenn meine Beine noch etwas lahm waren, weil ich so lange gelegen und das Narkosemittel meine Beine davor fast gänzlich bewegungsunfähig gemacht hatte. Aber ich konnte zum Glück trotzdem beinahe normal laufen und zu Anja gehen. Sie wirkte ganz schön verblüfft, als ich sie zum ersten Mal seit wir uns kannten in den Arm nahm.
„Tut mir leid“, sagte ich, „Ich war in letzter Zeit nicht ganz fair zu dir und habe dich angeschrien, obwohl du mir nur helfen wolltest. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“
„Äh.. ja.. klar“, brachte Anja voller Überraschung hervor, „Aber ist wirklich alles in Ordnung? Und was ist mit...“ Ich wusste, dass sie Train ansah.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte ich lächelnd, „Die Sache hat sich geklärt.“
„Tut mir auch leid“, sagte Train, der sich an der Schläfe kratzte, „In den letzten Tagen war alles etwas kompliziert.. und ein ziemliches Durcheinander.“
Ich ließ Anja unterdessen wieder los und streckte mich erstmal richtig. Nachdem ich so lange gelegen hatte, war das eine richtige Wohltat.
„Und wer ist.. das?“, fragte Anja, die nun Chronos wieder im Blick hatte.
„Ähm.. Chronos ist.. ein Freund von Train.“ Eine bessere Ausrede wollte mir auf die Schnelle nicht einfallen.
Die beiden Jungen sahen sich daraufhin an und bei den Blicken hätte ich um ein Haar einen Lachanfall bekommen. Chronos sah Train nur grinsend an, während dieser seinen Blick auf unnachahmbar frostige Weise erwiderte. Ich schwöre, es fehlte nicht mehr viel und Train hätte angefangen zu knurren. Ein göttliches Bild, das bei Anja zu einer hochgezogenen Augenbraue führte und mich dazu brachte mir schnell eine Hand vor den Mund zu pressen, damit ich nicht anfing zu lachen.
Mr VanDyke legte den Hörer wieder auf die Gabel und drehte sich um. Seine Schüler aßen gerade zu Abend: Isabella spielte wie immer mit dem Essen, Jake tat es ihr gleich, Robin saß still neben den beiden und schien sie einfach zu ignorieren, Thore schien das alles wie immer nichts anzugehen und Karin regte sich wiedermal über die beiden Spielkinder auf. Chronos ließ sich wie gewohnt nicht blicken und auch Train war in der Akademie geblieben.
„Hmmm...“ VanDyke lehnte sich gegen die Kommode, auf der das Telefon stand. Was er eben gerade erfahren hatte, überraschte und erstaunte ihn im gleichen Maße. Wer hätte gedacht, dass Trains kleines Küken so zäh sein und das Serum tatsächlich verkraften würde? Allerdings hatte er das nicht geplant und das ärgerte ihn. Er hatte zwar mit Komplikationen gerechnet, doch nicht damit, dass diese Kate die Ausbreitung des Serums in ihrem Körper überleben würde. Er wusste schließlich selber noch, wie grauenvoll schmerzhaft das war. Sie war verdammt hartnäckig. Jedoch konnte er sie nun nicht mehr einfach so eliminieren lassen, immerhin war sie ein höchst seltener, positiver Fall. Zwar wusste er noch nicht, welche Fähigkeit das Serum 1875-6 bei ihr ausgelöst hatte, denn das war leider nie ganz vorhersehbar, doch in jedem Fall würde sie nützlich sein. Er würde sie ganz einfach dazu zwingen Aufträge der Organisation zu übernehmen, das passende Druckmittel hatte er auch schon gefunden. Es war alles nicht weiter schwer, diese Kinder waren alle viel zu berechenbar, als das sie sich gegen ihn auflehnen könnten.
„So meine Lieben“, sagte VanDyke und trat rüber zum Esstisch. Es war höchste Zeit, seinen Schülern zu berichten, dass sie bald eine neue Kameradin bekommen würden, „Ich habe eine überraschende Neuigkeit für euch...“
„Weshalb wolltest du jetzt noch mal mit zum Unterricht kommen?“, fragte ich, als wir auf dem Weg zum Schulgebäude waren.
„Weil mir sonst noch langweilig wird“, antwortete Chronos grinsend. Seine glänzend schwarzen Haare sahen aus als wäre er gerade erst aufgestanden. Den weißen Blazer über seinem hellgrauen Hemd hatte er einfach offen aufgelassen und seine ebenfalls graue Hose war leicht zerknittert, was allerdings nicht weiter auffiel, wenn man nicht gerade hinsah. „Außerdem will ich mal sehen, ob sich hier was verändert hat.“
„Dir ist hoffentlich klar, dass du dir genauso gut auch ein rosa Tütü anziehen und die Nationalhymne von Italien singen könntest“, sagte ich nur resigniert. Er fiel hier auf wie sonst was. Nicht nur, dass er die hellgraue Uniform trug, nein, er war auch noch fast einen Kopf größer als Train, der hier schon zu den größten Schülern zählte. Und trotzdem wollte er einfach ganz normal mit uns zum Unterricht gehen, obwohl er auch genauso gut Student einer Uni hätte sein können.
„Eine hübsche Idee, vielleicht mach ich das mal“, dachte Chronos laut nach.
Meine Kinnlade fiel herunter und es dauerte einige Sekunden, bis ich es schaffte sie wieder in ihre richtige Position zu bringen. Allerdings war ich nicht die Einzige, die so verdattert war. Anjas Gesicht war ebenfalls etwas aus den Fugen geraten und Train – der vorher bei der Vorstellung, wie Chronos im rosa Tütü die Nationalhymne trällerte, noch gekichert hatte – sah den jungen Erwachsenen nur noch ungläubig an.
Chronos fing bei unseren Gesichtern natürlich auch prompt das Kichern an und so kamen wir auch beim Schulgebäude an. Wie erwartet folgten uns die Blicke der meisten Mitschüler mal wieder auf den Fuß. Ist schon mal jemandem aufgefallen, dass irgendwie immer wir es waren, die alle Aufmerksamkeit auf sich zogen? Irgendwie typisch.
Auch als wir in der Klasse ankamen, sah die Sache nicht besser aus. Wie ich schon gesagt hatte, zog Chronos fast alle Blicke auf sich, ohne dass er die Nationalhymne trällerte oder ein rosa Tütü trug. Seine hellgraue Uniform und seine gelassene Haltung reichten da vollkommen aus. Allerdings wurden auch Train, Anja und ich beobachtet, die wir mit diesem Jungen mit Sonderrang 5 in die Klasse marschiert waren. Gerade das folgende Gespräch hatte sehr viele Zuhörer.
„Sind die Plätze noch frei?“, fragte Chronos.
Inzwischen saßen Train und ich auf unseren Plätzen und auf die freien Sitzplätze dazwischen deutete Chronos gerade mit seinem üblichen Grinsen. Anja war zwar zu ihrem Platz gegangen, doch auch sie sah uns zu. So langsam gewöhnte ich mich schon fast daran im Mittelpunkt zu stehen, das passierte mir ja irgendwie öfter.
„Nein“, sagte Train nur.
„Ja“, antwortete ich dummerweise zur selben Zeit. Ich hätte ebenfalls nein sagen sollen, doch auf die schlaue Idee kam ich, blöd wie ich manchmal war, erst hinterher.
„Schön“, sagte Chronos nur und wollte sich auf den Platz neben Train setzen, doch dieser zog demonstrativ den Stuhl weg, bevor Chronos ihn zu fassen bekam.
„Kate“, sagte Train nur und zeigte auf den Stuhl, „Setz dich.“
„Bin ich dein Hund?“, fragte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue. Heiliger, Train schien ja eine gewaltige Abneigung gegen Chronos zu haben. Würde mich ja mal interessieren, woher das kam. Oder lag das vielleicht daran, dass Train als Fähigkeit Feuer und Chronos Wasser hatte? Ich konnte es mir nur schwer vorstellen, doch vielleicht konnten sich diese Gegensätze einfach nicht verstehen.
Der Blick aus den bernsteinfarbenen Augen sprach Bände und ich stand seufzend auf, kam zu ihm herüber und setzte mich neben Train.
„So besser?“, fragte ich genervt.
„Ja.“
Chronos bemühte sich unterdessen gar nicht erst seine Belustigung darüber zu verbergen und nahm auf der auf der anderen Seite neben mir Platz. Er machte es sich bequem, überkreuzte die Beine auf dem Tisch und lehnte sich zurück. Dann schien er die Blicke seiner Mitschüler zu bemerken und grinste wieder. „Na Leute? Alles klar bei euch?“
Ich konnte die unsicheren und verwirrten Blicke meiner Klassenkameraden voll verstehen. Hätte mich jemand so angesprochen, den ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte, hätte ich auch nicht sehr viel anders reagiert.
„Was ist denn? Hat es euch die Sprache verschlagen?“, fragte Chronos amüsiert.
„Nein, sie haben dich gesehen“, bemerkte Train resigniert.
„Sonst noch Fragen?“ Ich konnte immer noch nicht begreifen, wie Chronos drauf war. Da dachte man, man hat schon alles gesehen, und dann kam so einer.
„Ja, wer ist eigentlich euer Klassenlehrer?“, fragte Chronos unverblümt.
„Eigentlich Mr Smithers, aber der scheint immer noch im Bett zu liegen...“
„Deshalb vertrete ich ihn“, beendete Mr Walker schmunzelnd meinen Satz. Er hatte die Klasse natürlich just in dem Moment betreten, als ich antworten wollte. „Schön dich mal wieder zu sehen, Chronos.“
„Ebenfalls, Walker.“
„Wir müssen uns später unbedingt mal über deine Mission unterhalten“, sagte Walker fröhlich, „Ich brenne darauf alles zu erfahren.“
„Alles?“ Chronos hob eine Augenbraue.
„Alles.“ Walker erwiderte seinen Blick mit einem freundlichen Lächeln.
Der Rest der Schülerschaft in diesem Raum saß nur mit drei Fragezeichen im Gesicht auf seinen Plätzen und rätselte, worüber die beiden da gerade sprachen. Train und ich hatten zwar wenigstens etwas mehr Ahnung, doch trotzdem kapierten wir nur die Hälfte von dem, was die beiden da gerade redeten. Wir verstanden es zwar, doch was sie wirklich meinten – den Text zwischen den Zeilen – konnten wir nur erraten.
Schließlich aber begann ganz normal der Unterricht. Zumindest normal für die anderen, denn ich durfte mir die ganze Zeit über das leise Gekappel von Train und Chronos anhören. Mal war es ja ganz witzig, aber während des Unterrichts nervte es ganz schön.
„So, fällt euch zufällig gerade irgendein Auftragsmörder aus der heutigen Zeit ein, dessen Namen ihr vielleicht irgendwann mal aufgeschnappt habt?“, fragte Walker mit seinem üblichen, viel zu freundlichem Lächeln. Im Moment waren wir gerade bei einer Mischung aus Mathematik und Allgemeinwissen für Auftragskiller, zumindest glaubte ich das. Walkers Unterricht war immer ein bisschen quer Beet.
Die meisten schienen kurz zu überlegen, dann sagte einer auf einmal: „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich hab mal einige Leute dabei belauscht, wie sie über eine gewisse Killer Rose oder Filver Rose gesprochen haben...“
„Du meinst sicher Silver Rose“, korrigierte Walker schmunzelnd.
Ich sah ihn nur mit einer hochgezogenen Augenbraue an. War meine Art zu arbeiten so außergewöhnlich, dass selbst ein Lehrer dieser Akademie meinen Decknamen kannte? Ich konnte es nicht so recht glauben.
„Und da hast du dir ein gutes Beispiel ausgesucht“, fuhr Walker fort und seine Augen bekamen einen eigenartigen Glanz, „Über sie ist nicht viel bekannt. Manche sagen, sie wäre über dreißig, andere meinen, sie sei erst um die sechzehn. Um sie ranken sich viele Geheimnisse, obwohl es heutzutage eigentlich unmöglich ist etwas über längere Zeit geheim zu halten. Einzig ihr Markenzeichen, eine silberne Rose bei der Leiche, und die Art ihr Ziel zu töten sind weit bekannt. Angeblich kennt keiner ihren wahren Namen.. Na ja, sie ist eines der besten Beispiele für professionelle Auftragsmörder.“
Ich blinzelte. Hey, ich wurde gelobt. Auch wenn ich nicht wusste, ob mir das von dem Kerl gefiel. Für mich war er immer noch ein Idiot mit perverser Veranlagung. Jedoch fiel mir dabei auch auf, dass er während der Erklärung erstaunlich ernst geklungen hatte. Und ich war mir zwar nicht sicher, aber wenn mich nicht alles täuschte, hatte er zwischenzeitlich auch zu mir geblickt. Ahnte er womöglich etwas? Ach was, das war absolut unmöglich! Selbst die Direktorin sollte keinen Schimmer davon haben, dass ich eine Zeit lang als eine der bekanntesten Auftragskillerinnen unterwegs gewesen war, bevor ich beschlossen hatte, die Rose für einige Zeit ruhen zu lassen.
„Fällt sonst noch jemandem...“, setzte Walker an.
„SCHLUSS!“ Ron, der so genau lief wie eine Eieruhr, konnte man als unseren klasseneigenen Wecker bezeichnen, der sofort losging, wenn der Unterricht vorbei war. Selbst die Lehrer schienen daran gewöhnt zu sein.
„Na so was, wie die Zeit vergeht“, seufzte Walker daraufhin leicht überrascht, „Dann machen wir uns mal auf den Weg nach unten zum Praktischen Training.“
„Und damit verabschieden wir uns“, sagte Chronos nur grinsend. Er und Train standen zeitgleich auf und sahen sich kurz an, ehe sie mich beide an je einem Oberarm packten und hoch hoben, als wäre ich nur ein federleichtes Kissen. Hey! Was sollte das werden ihr zwei?!
„Wir haben leider noch etwas vor“, fügte Train noch hinzu. Damit führten die beiden mich schon ab wie einen Häftling, während die anderen Schüler und auch Mr Walker uns nur verwirrt hinterher sahen. Anja runzelte die Stirn und die Augen von Walker schienen kurz ein Stück schmaler zu werden, ehe er seine Schüler freundlich wieder darauf aufmerksam machte, dass es Zeit fürs Praktische Training war.
„Was soll das werden?“, fragte ich irritiert, als Train und Chronos mich die Treppe runter führten. Anscheinend wollten wir das Gebäude verlassen.
„Wir werden ebenfalls trainieren“, antwortete Chronos grinsend, während er in seiner freien Hand ein Handy hielt und scheinbar gerade eine Nummer eingab.
„Allerdings nicht wie die anderen“, bemerkte Train, „Es wird Zeit, dass wir deine Fähigkeit mal trainieren. Nicht dass sie irgendwann mal außer Kontrolle gerät. Zudem wirst du sie brauchen, wenn VanDyke dich zur Spezialeinheit der SS bestellt.“
„Aha.“ Irgendwie war ich da skeptisch.
„Keine Angst, Katy, wir fangen ganz langsam an“, sagte Chronos grinsend, als er das Handy schon wieder in die Tasche seines Blazers schob.
„Katy?“ Mein linkes Auge zuckte und eine leichte Brise kam auf. „Nenn mich noch ein Mal so und du wirst es bereuen.“
„Hui, da bin ich ja jemandem auf den Schwanz getreten“, stellte Chronos amüsiert fest und duckte sich unter meinem Schlag, dem ein stärkerer Luftzug folgte.
„Nicht hier drin“, mahnte Train jedoch und hielt mich am Oberarm fest, „Wenn wir draußen sind, helf ich dir sogar ihm eine reinzuhauen.“
Dazu kam es allerdings nicht, da ich es noch schaffte mich wieder abzuregen. Wie sich herausstellte, würden wir auch nicht auf dem Schulgelände bleiben, sondern ein Taxi stand bereits vorm Tor, als wir dort ankamen. Es fuhr uns einige Kilometer weiter und schließlich stiegen wir direkt bei einem schmalen Feldweg an der Landstraße aus, der für Autos viel zu schmal war. Chronos bezahlte den Fahrer, den er zuvor scheinbar auch per Handy angefordert hatte, dann machten wir uns auf den Weg.
„Wir sind ganz schön weit draußen“, stellte ich fest. Tatsächlich war um uns herum ein dichter Wald und bis zur Stadt waren es mehrere Kilometer.
„Tja, das ist leider notwendig“, seufzte Chronos, „Nicht das noch jemand sieht, was wir hier treiben. Gerade wenn Train schlechte Laune hat, müssen wir immer höllisch aufpass...“ Sein Ärmel hatte Feuer gefangen.
„Ja, du solltest mit deinen Kommentaren wirklich aufpassen“, bemerkte Train gereizt.
„Na na, du kannst dich ja gleich austoben“, beschwichtigte Chronos ihn und löschte das Feuer mit ein wenig Wasser.
Train knurrte etwas Unverständliches und ich seufzte herzhaft. Chronos liebte es Train zu necken, sodass dieser sich jedes Mal aufregte.
Dann lichtete sich der Wald auf einmal und ich blieb staunend stehen. Vor uns lag eine weite, grüne Lichtung. Die Bäume bildeten einen bestimmt über fünfhundert Meter breiten Kreis um die Wiese. Zudem gab es ein Stück weiter links auch noch einen kleinen See, in den mehrere Bäche mündeten. Das Wasser glitzerte im strahlenden Licht der Sonne, es war eine richtige Idylle. Reine Natur, unberührt von dem Bauwahn und Abgasen der Menschen.
„Es ist wirklich schön hier“, sagte ich nur leicht verblüfft.
„Nicht?“ Chronos sah mich lächelnd an. „Und es ist ein ausgezeichneter Platz für uns zum Trainieren.“
„Zerstört das nicht die ganze Umgebung?“, fragte ich stirnrunzelnd.
„Normalerweise schon“, sagte Train, „Aber wenn wir uns richtig konzentrieren, würden selbst meine Flammen nur das Verbrennen, was sie auch sollen.“
„Wie zum Beispiel Chronos“, murmelte ich resigniert.
„Ja.“
„Irgendeiner muss ja dafür sorgen, dass die Laune hier nicht in der Tiefkühltruhe versinkt“, warf der Clown ein, „Und wollen wir dann auch mal anfangen?“
„Nichts lieber als das“, sagte Train mit drohender Stimme und seine Augen wurden schmal, „Wir haben vom letzten Mal noch eine Rechnung offen.“
„Stimmt ja, stimmt ja.“ Chronos kratzte sich am Hinterkopf und sah dann zu mir. „Und du versuchst am besten schon mal herauszufinden, wie du deine Fähigkeit einsetzen kannst.“
Ich nickte nur.
Daraufhin entfernten sich die Jungen mehrere Schritte und stellten sich schließlich gegenüber voneinander auf. Train hatte einen ernsten Gesichtsausdruck, während Chronos wie immer grinste, auch wenn er ebenfalls eine Kampfstellung eingenommen hatte. Beide warteten einige Sekunden.
Plötzlich lief Train dann auf Chronos zu, seine Hände schienen auf einmal in Flammen gehüllt zu sein. Chronos stand ganz ruhig da, bis Train kurz vor ihm war. In dem Moment zogen sich auf einmal mehrere Rinnsale von Wasser durch die Luft. Es war als flossen plötzlich mehrere kleine Bäche durch die Luft! Direkt vor Train war ebenfalls so ein Strom.
Train schlug einfach mit seiner Faust dagegen, sodass Feuer und Wasser verdampften und er für einen Moment in dichten Wasserdampf gehüllt war. Chronos trat einige Schritte zurück und wartete einfach ab. Dann brach Train auch schon aus dem Dampf und zielte mit einer flammenden Faust direkt auf Chronos´ Kopf. Mit einer schnellen, kaum merkbaren Bewegung ging dieser ein Stück zur Seite, bevor er plötzlich auch nach vorne sprang. Trains Schlag ging knapp daneben, doch Chronos´ Hieb mit der Linken traf Train genau gegen die Brust. Er war so heftig, dass der Junge ein ganzes Stück zurückgeschleudert wurde. Bevor er jedoch auf dem Boden aufschlug, machte er einen Salto und landete auf den Füßen.
„Na? Kommt da nicht mehr?“, triezte Chronos ihn.
„Warte nur“, murmelte Train und ging in Kampfstellung. Um ihn herum erschienen plötzlich mehrere kleine Flammen in der Luft. Wie Irrlichter tanzten sie um ihn herum und er sah Chronos mit finsterem Blick an. Dieser legte kurz den Kopf schief, ehe er langsam auf Train zukam.
Mir fiel unterdessen ein, dass ich allmählich auch mal anfangen sollte. „Jo, nur wie stell ich das an?“, fragte ich mich selbst. Alles, was ich wusste, war dass ich irgendwie Einfluss auf den Wind hatte. Ich konnte die Luft kontrollieren, wenn ich es richtig anstellte. Die einzige Frage war, wie ich das bewerkstelligen sollte.
Inzwischen war Chronos Train ziemlich nahe gekommen. Die über zwanzig kleinen Flammen schwirrten wie muntere Amseln um Train, der sich noch immer nicht wieder gerührt hatte. Schließlich machte Chronos einen Satz nach vorne und die Flammen flogen wie aus der Pistole abgeschossen auf ihn zu. Es waren so viele, dass er auf jeden Fall nicht allen ausweichen können würde. Clever gedacht von Train.
Aber Chronos war auch nicht auf den Kopf gefallen und hob einfach eine Hand. Vor ihr bildete sich ein Schild aus Wasser, an dem die Flammen einfach verdampften. Nachdem scheinbar alle Flammen erledigt waren, ließ er den Schild wieder verschwinden um zu sehen, was Train als nächstes plante. Dieser tauchte in der Sekunde jedoch mit erhobener, von Flammen umhüllter Faust direkt vor ihm auf. Überrascht sprang Chronos zurück und entging so knapp dem ansonsten wahrscheinlich ziemlich schmerzhaften Schlag. Als er dann gerade zu einem Gegenangriff ausholen wollte, traf ihn auf einmal etwas Heißes im Rücken. Es kam so plötzlich, dass Chronos glatt in die Knie ging.
„Mist, da hab ich wohl eine Flamme übersehen“, stellte er fest und bewegte sich probehalber. Es war ein sauberer Treffer, genau zwischen die Schulterblätter. Train war seit dem letzten Kampf vor einigen Monaten besser geworden. Früher konnte er blind noch nicht so gut zielen.
„Man soll sich eben nie zu früh freuen“, tadelte Train und über seiner ausgestreckten Hand erschien eine Feuerkugel, groß wie ein Fußball.
„Was hast du damit vor?“, fragte Chronos, obwohl er es ziemlich genau wusste.
„Dreimal darfst du raten“, erwiderte Train nur und die Kugel schwebte ein Stück in die Luft.
In dem Moment fegte jedoch eine heftige Brise herüber und die flammende Kugel wurde ein Stück mitgerissen, bevor sie sich auflöste. Train und Chronos sahen sich nur leicht verwirrt an. Danach blickten sie nach links, wo ich mit Üben beschäftigt sein sollte. Komischerweise aber fehlte von mir jede Spur, ich war nirgendwo zu sehen.
„Huch.. Wo ist Katy denn hin?“, fragte Chronos mit einer hochgezogenen Augenbraue und sah sich suchend um.
„Nenn mich nicht Katy!“, rief ich aufgebracht, „Und kann mich mal einer hier runter holen!“ Ich befand mich in gut sechs Metern Höhe und wurde gerade von einer leichten Brise immer weiter nach links gedrängt. Einzig der starke Luftdruck unter mir hielt mich in der Luft, auch wenn ich dabei unglücklicherweise etwas schief hing. Toll gemacht! Wie hatte ich es bloß geschafft mich in diese missliche Lage zu bringen?
„Kate!“ Train schien seinen Augen im ersten Moment nicht trauen zu können, doch dann fing er sich wieder. „Was machst du da oben?!“
„Keine Ahnung!“, rief ich wütend, „Ihr hab mir gesagt, dass ich herausfinden soll, wie meine Fähigkeit funktioniert...“
„Wir haben aber nicht gesagt, dass du gleich vom Boden abheben sollst“, bemerkte Chronos, „Auch wenn ich erstaunt bin, dass du es gleich beim ersten Mal geschafft hast einen Effekt hervorzurufen.“
Die Luft um mich herum begann stärker zu zirkulieren und ein lauer Wind kam auf. Jetzt hatte Chronos es geschafft mich richtig sauer zu machen. Aber wie verdammt nochmal kam ich wieder runter? Ich wusste doch noch nicht mal genau, wie ich es überhaupt geschafft hatte hier hoch zu kommen.
Dann kam mir eine Idee und ich versuchte einfach gar nichts mehr zu machen. Meine Fähigkeit sollte stoppen. Es dauerte vielleicht zwei Sekunden, dann schien es zu klappen. Allerdings stellte ich noch im selben Moment fest, dass das die schlechteste Idee seit langem gewesen war, denn nun sauste ich in rasendem Tempo nach unten. Super! Besser geht´s doch nicht!
„Kate!“, rief Train noch, doch in dem Moment machte es schon platsch und ich badete in dem See auf der Lichtung.
Einige Luftblasen stiegen nach oben, als ich kurz fluchte, und daraufhin natürlich einige Schlucken Wasser zu mir nahm. Ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sank langsam immer tiefer. Eigentlich konnte ich mich ja freuen, denn ich hatte es geschafft willentlich die Luft zu beeinflussen. Das Ende davon gefiel mir allerdings nicht, da musste ich dringend dran feilen.
Auf einmal bemerkte ich eine starke Strömung, die sich um mich herum gebildet hatte. Im ersten Moment bereitete sie mir ziemliche Sorgen, doch dann wurde ich von dem Wasser auf einmal nach oben geschwemmt und bevor ich weiter nachdenken konnte, war ich schon wieder an der Wasseroberfläche.
„Wolltest du zur Wassernixe werden?“, fragte Chronos stirnrunzelnd, „Oder warum bist du so lange da unten geblieben.“
„Da unten sind keine nervenden Idioten, denen ich für ihre Kommentare am liebsten eine reinhauen würde“, antwortete ich grimmig und zog mich aus dem Wasser. Dabei stellte ich verwundert fest, dass das Wasser aus meinen Haaren und Klamotten dabei war sich vor mir zu einer großen Kugel zu sammeln.
„So trocknest du wesentlich schneller“, bemerkte Chronos schmunzelnd, „Wir wollen doch nicht, dass du dir noch eine Erkältung einfängst.“
Mein Blick war finster, doch ich wartete, bis ich vollständig getrocknet war und die Wasserkugel im See verschwand.
„Aber das war gar nicht mal schlecht für den Anfang“, bemerkte Train, „Bei mir passierte zu Anfang gar nichts und dann hätte ich um ein Haar ein ganzes Haus abgefackelt.“
„Stimmt, das war ein ziemliches Durcheinander, das du der SS beschert hattest.“ Chronos grinste mal wieder.
„Dann sollten wir mal weitermachen“, sagte Train und wurde wieder ernst.
„Von mir aus“, seufzte Chronos und stand wieder auf. Ich konnte die Stelle sehen, wo ihn zuvor eine der Flammen getroffen hatte. Der Blazer und das Hemd waren völlig verbrannt und durch das Loch konnte man auch die Verletzung sehen, die zu meiner Verwunderung jedoch von Wasser eingeschlossen war. „Aber du solltest vielleicht ein bisschen vorsichtiger sein, Katy, sonst müssen wir dich das nächste Mal noch von den Bäumen kratzen.“
„Nenn mich noch ein Mal Katy und du kannst was erleben“, sagte ich drohend und wieder kam eine leichte Brise auf.
„Schon gut, reg dich ab“, sagte Chronos belustigt und machte sich schon wieder auf den Weg zu der Position, an der er vorher gestanden hatte. Natürlich begab sich auch Train sofort wieder zu seinem Platz und die beiden fuhren mit ihrem Kampf fort.
Ich überlegte in der Zeit, wie ich meine Fähigkeit am besten unter Kontrolle bekam. Zumindest schien sie immer dann zu reagieren, wenn ich wütend war. Vielleicht konnte ich mir das zu Nutze machen, aber in jedem Fall musste ich herausfinden, wie ich sie auch in normaler Stimmung kontrollieren konnte.
Zuvor hatte ich über alles nachgedacht, was ich über die Luft wusste. Zusammensetzung, Beschaffenheit, Widerstand und so weiter. Helfen tat mir allerdings keins davon wirklich.
Also schwang ich probehalber meine Hand von rechts nach links. Ein leichter Wind wehte von rechts nach links. Leicht überrascht machte ich das Gleiche von links nach rechts und dieses Mal etwas schneller. Die Böe war stärker und wehte von links nach rechts. Ich lächelte, so konnte ich arbeiten.
Train und Chronos waren mit einem rasanten Schlagabtausch beschäftigt. Trains Hände waren wieder in Feuer gehüllt und um Chronos Fäuste befand sich Wasser. Wenn beide Elemente aufeinander trafen, gab es jedes Mal ein kräftiges Zischen und Wasserdampf stob in alle Richtungen. Die beiden Jungen bewegten sich so schnell, dass ihnen das normale, ungeübte Auge nicht folgen konnte und selbst ich hatte an einigen Stellen Probleme ihre Bewegungen zu erkennen. Schläge und Tritte folgten sich so rasch und fanden manchmal sogar gleichzeitig statt, dass es an einigen Stellen fast mehr wie ein eigenartiger Tanz wirkte. Es war erschreckend und bezaubernd zugleich.
Ich hatte inzwischen auch noch eine andere Idee bekommen, da meine Arme vom dauernden Schwingen langsam lahm wurden. Vor mir ließ ich die Luft einen starken Widerstand errichten, bis ich mir sicher war, dass ich genügend Druck aufgebaut hatte. Dann holte ich mit geballter Faust aus, verharrte einen Moment und schlug anschließend mit aller Kraft zu. Ich spürte den deutlichen Luftwiderstand.
Es dauerte kaum eine Sekunde, da schien der Widerstand auf einmal kurz zu pochen und eine heftige Druckwelle schoss nach vorne. Meine Idee war damit geglückt, nur leider hatte ich dabei eines vergessen. Ich hatte mich nämlich so hingestellt, dass ich trotz meiner eigenen Übungen noch den beiden Jungen bei ihrem Kampf zusehen konnte. Nun standen sie genau in Schussrichtung meiner Druckwelle, dumm gelaufen.
Noch bevor ich eine Warnung rufen konnte, wurden die beiden, als sie gerade zeitgleich zu einem Tritt ansetzten, von der Druckwelle erfasst und sauber von den Füßen gerissen. Sie flogen ein ganzes Stück durch die Luft, ehe sie unsanft wieder auf dem Boden landeten und sich beim Aufsetzen die Köpfe rieben.
„Was war das denn?“ Chronos wirkte sogar noch leicht benommen.
„Kate?“ Train sah mich ungläubig und erstaunt zugleich an. Er schien sofort gemerkt zu haben, dass die Druckwelle auf mein Konto ging.
„He he...“ Ich lächelte schief. „Ich glaube, so langsam hab ich den Bogen raus.“
„Und das wolltest du ohne Vorwarnung an uns ausprobieren?“ Chronos zog eine Augenbraue hoch. „Ganz schön hinterhältig von dir, Katy.“
„Nenn mich nicht Katy“, erwiderte ich, „Und außerdem war das ein Versehen. Wer rechnet schon damit, dass der Schlag gleich so eine Welle auslöst?“
„Deswegen sollte man nachdenken, bevor man handelt“, entgegnete Chronos, doch er grinste, „Aber schön, wenn du schon solche Angriffe zustande bringst, kannst du auch genauso gut gleich bei uns mitmachen. Und keine Angst, wir werden dich nicht gleich voll angreifen.“
„Keine Sorge, so leicht werdet ihr es nicht haben“, sagte ich nur und nahm meine Kampfstellung ein. Eine natürliche Brise wehte über die Wiese und ließ die Gräser tanzen. Die Blätter in den Bäumen raschelten und stimmten einen Trommelwirbel an.
Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und lauschte dem Klang der Natur. Erst jetzt fiel mir auf, wie schön es sich anhörte, wenn der Wind sein ganz eigenes Lied spielte. Auch ohne Bässe und Gitarre klang es wunderschön. Es war beruhigend und irgendwie fühlte ich mich wohl. Ob das daran lag, dass meine Gene irgendwie manipuliert wurden und ich jetzt den Wind beeinträchtigen konnte?
„Sollen wir anfangen?“, fragte Train, der allerdings ein wenig skeptisch zu sein schien.
Ich lächelte nur. „Was fragst du? Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass ihr endlich anfangt.“
„Freche, kleine Kratzbürste“, grinste Chronos und um ihn herum erschienen wieder einzelne Rinnsale von Wasser.
„Du solltest mit deinen Bemerkungen besser aufpassen“, bemerkte Train und wieder tauchten einzelne Flammen um ihn herum auf, um die fünfzehn Stück waren es dieses Mal.
„Das solltet ihr beide, denn ich habe jede Menge überschüssige Energie“, sagte ich nur. Und das stimmte. Da ich in den letzten Tagen viel zu viel Ruhe hatte, brauchte ich jetzt unbedingt mal Auslastung. Der Kampf kam da gerade recht. Wir standen uns im Dreieck gegenüber, perfekt für mich.
Ich holte kurz mit beiden Händen aus und schwang sie dann mit einem Ruck durch die Luft. Die entstehenden Windböen waren alles andere als sanft und Train und Chronos wurden beinahe erneut von den Füßen gerissen. Von dem Wasser und Feuer blieb nicht mehr viel übrig, der Wind hatte sie schlicht und einfach weggepustet.
„Wow, du willst uns wohl wirklich an den Kragen“, grinste Chronos und in seiner Hand erschien eine Wasserkugel, „Vielleicht sollten wir das mit dem Schonen doch besser überspringen.“
„Ausnahmsweise gebe ich dir recht“, sagte Train und um seine Hände sammelte sich wieder Feuer.
„Der Meinung bin ich auch.“ Ich grinste, langsam gewöhnte ich mich daran.
„Gut.“ Das Wasser der Kugel in Chronos Hand floss auf einmal zu Boden und breitete sich in einer langen, fast geraden Linie aus. Kurz geschah nichts, dann wurde Chronos´ Grinsen überheblich.
Eine riesige, bestimmt über fünf Meter hohe Welle türmte sich auf und rollte auf Train und mich zu. Und auch wenn ich es nicht gerne zugab, für einen Moment starrte ich die überdimensionale Welle nur verdattert an. Dann wurde mir klar, dass ich ziemlich alt aussehen würde, wenn mich das Ding erwischte. Dabei blieben mir noch wenige Sekunden. In meinem Kopf wurde bei der Suche nach einem Einfall einiges durcheinander gewirbelt, bis mir auf einmal in den Sinn kam, wie ich vor einigen Tagen aus dem Labor entkommen war, wo man mir das Serum injiziert hatte – es wunderte mich auch etwas, dass mein Ausbruch von dort gar kein Nachspiel hatte – aber bei den Gedanken bekam ich endlich die Idee. Ich konzentrierte mich so gut ich konnte und gerade, als die Welle sich auf uns herabstürzte und uns scheinbar verschlingen wollte, reagierte etwas in mir.
Der Wind begann in rasendem Tempo um mich herum zu zirkulieren und eine Kuppel um mich herum zu bilden. Das Wasser krachte herab und einen Moment lang zweifelte ich, doch die Barriere hielt stand und das Wasser floss an mir vorbei. Fast volle zehn Sekunden war ich von Wasser umgeben, dann war es endlich abgeflossen. Als erstes blickte ich zu Train, von dem ein ziemlicher Dampf ausging. Scheinbar war das Wasser einfach an ihm verdunstet, ich wollte lieber nicht wissen, wie hoch seine Körpertemperatur dafür war. Immerhin befand sich der Siedepunkt für Wasser bei etwa hundert Grad Celsius.
„Wie schön, ihr habt es beide gut überstanden“, stellte Chronos zufrieden fest, „Gut gemacht Katy, du lernst wirklich schnell.“
„Nenn mich nicht Katy!“
„Na warte“, sagte Train und seine Stimme klang drohend, „Du weißt ganz genau, dass ich so ein Vollbad nicht ausstehen kann...“
„Hups, das hab ich doch glatt vergessen.“ Chronos kratzte sich an der Schläfe.
Vor Train erschien eine große, flammende Kugel. Wenn man sie so ansah, konnte man sie fast für einen übergroßen, rot-gelben Fußball halten. Bloß dass dieser Fußball verdammt heiß war und einen ziemlich bedrohlichen Eindruck machte.
„Hey hey.. du willst mich doch nicht etwa damit grillen, oder?“ Chronos´ Grinsen war ein klein wenig entgleist, ein seltener Anblick. Das musste ich gleich rot im Kalender anstreichen.
„Und was sollte ich sonst damit anstellen?“, erwiderte Train mit einem wahrhaft teuflischen Lächeln. Das konnte nur er so gut, auch wenn ich eine leichte Belustigung darin erkennen konnte.
„Vielleicht zur Abwechslung mal Kate auf Trapp halten?“, schlug Chronos vor.
Train blickte kurz zu mir, ehe er Chronos wieder ansah. „Nö.“
Die Feuerkugel wurde daraufhin noch ein Stück größer und schwebte mit beachtlichem Tempo auf Chronos zu. Gerade als dieser sich verteidigen wollte, durchschnitt eine dieses Mal messerscharfe Windböe den Feuerball in zwei genau gleichgroße Hälften. Ich war zufrieden mit meinem Werk, denn nun lösten sich die beiden Hälften auf und Train sah mich teils ungläubig, teils erstaunt an. Schon zum zweiten Mal heute, reife Leistung, ich hatte mich selbst übertroffen.
„Du solltest mich nicht unterschätzen“, bemerkte ich mit einem freundlichen Lächeln, während der Wind um mich herum zu zirkulieren begann, dass meine Haare wild durcheinander gerieten, „Außerdem hasse ich es ignoriert zu werden.“
Train sah mich jedoch mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. „Feuer ist etwas anderes als Wasser“, sagte er, „Wasser ist eine Kraft, die heilt. Feuer dagegen zerstört alles, man sollte nicht damit spielen...“
Ich seufzte laut und herzhaft. „Hör auf dich selber fertigzumachen. Würde ich dir nicht vertrauen, würde ich dich nicht so herausfordern. Außerdem ist ein Feuer nur dann zerstörerisch, wenn der Anwender es auch will. Du hast selbst gesagt, dass man entscheiden kann, was von unseren Kräften beeinflusst wird und was nicht.“
Train zögerte immer noch, obwohl er das bei Chronos nie tat. Na ja, das kam vielleicht gerade daher, dass Chronos sein genaues Gegenteil war und scheinbar ganz gut mit dem Feuer umgehen konnte. Ich wollte jedoch, dass er aufhörte zu glauben, dass er mich ernsthaft verletzen könnte. Denn ich wusste, dass er das niemals tun würde. Ich spürte es ganz deutlich und sehen konnte ich es auch an seinen Reaktionen.
Mein Blick streifte den See, bevor er wieder bei Train hängen blieb. Mir kam eine verlockende Idee, doch dafür musste ich das hinkriegen, was beim ersten Versuch ganz schön misslungen war. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Train sollte in der Lage sein sich zu Not selbst zu helfen. Außerdem hatten er und Chronos ja gesagt, dass sie mir beim Training helfen würden. Also gehörte das jetzt einfach zu meinem eigenen Trainingsprogramm.
Chronos sah mich von der Seite her an und schien beinahe zu ahnen, was ich plante. Jedenfalls grinste er nur in sich hinein und pfiff irgendeine schräge Melodie.
Train sah ihn argwöhnisch an, als ich mich konzentrierte und die Luft in Wallung brachte. Wäre doch gelacht, wenn das nicht funktionierte. Im nächsten Moment zog Train schon ein überraschtes Gesicht und hob einige Zentimeter vom Boden ab.
„Hä? Was.. Was soll das?!“, fragte er verdattert und zappelte wie ein Fisch am Hacken, was dazu führte, dass ich beinahe einen Lachanfall bekam und Chronos in der Sache meinen Part übernahm. Er lachte für zwei und Train war dabei ihn mit einigen ausgefallenen Flüchen zu bewerfen, als er noch ein Stück weiter vom Boden abhob. So langsam wurde ich sicherer und ließ ihn in Richtung See schweben.
„Was soll das werden?!“, fragte Train aufgebracht und wandte sich damit an mich. Ich schien ihn damit ernsthaft überrascht zu haben, so entgeistert wie er reagierte. Davon ließ ich mich jedoch nicht beirren.
„Ein kaltes Bad wird dir guttun“, sagte ich nur und ging neben ihm her.
„Lass mich runter!“, rief Train, „Ich hasse Wasser! Vor allem kaltes Wasser!“
„Befrei dich doch einfach“, sagte ich und sah ihn schief an, „Und kämpf gegen mich, dann gehst du auch nicht baden.“
„Das wagst du nicht“, sagte Train. Er schien jetzt eine andere Taktik auszuprobieren. Bedrohen war zwar eine nette Idee, nur leider hatte er die bei mir in der Vergangenheit so oft angewendet, dass ich dagegen fast immun war. Und gegen diese kleine Anspielung sowieso.
„Und ob“, erwiderte ich unbeeindruckt, „Ich hab keine Angst vor dir.“
Train sah mich erstaunt an.
„Das habe ich schon lange nicht mehr“, fügte ich hinzu und sah ihn ernst an, „Der Einzige, der dir nicht vertraut, bist du selbst.“
Nun wirkte er überrascht.
Ich lächelte daraufhin milde. „Sei einfach du selbst und mach dir nicht immer so viele Gedanken. Nachdenken ist ja schön und gut, aber zu viel solltest du deinem armen Hirnkasten nicht zumuten, sonst kommt es so wie jetzt zu Verstopfungen.. Und diese werden wir jetzt mit einem schönen Vollbad wegspülen.“ Ich setzte mein bestes Haifischgrinsen auf, das konnte ich mir einfach nicht verkneifen.
Mit einem Fingerschnippen meinerseits hörte die Luft auf Train zu tragen und er landete mit einem schönen Platschen im Wasser. Und das war nicht gerade sehr warm wie ich vorher schon festgestellt hatte. Aber der Typ hatte Feuer als Element, daher zweifelte ich daran, dass ihm wirklich kalt werden würde.
„In dir steckt wirklich mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte.“ Chronos hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und stand ein Stück weiter links neben mir.
„Was soll das denn heißen?“, fragte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue.
Bevor ich aber weiter fragen konnte, fiel mir etwas auf. An einer Stelle im Nass stieg weißer Dampf auf und das Wasser schien dort fast zu kochen. Auch wenn ich das „fast“ weglassen konnte, das Wasser kochte fröhlich als wäre es in einem Kochtopf und die Herdplatte voll aufgedreht. Und diese kochende Stelle näherte sich langsam dem Ufer, mir schwante Böses.
„Ui, nun solltest du dich besser warm.. oder vielleicht doch lieber kalt anziehen“, bemerkte Chronos grinsend, „Jetzt hast du ihn richtig sauer gemacht.“
Jap, da gab ich ihm ausnahmsweise mal recht. Als Train sich aus dem Wasser zog, stieg jede Menge Wasserdampf von ihm auf und ich konnte schon fast sehen, wie das Wasser siedete. Innerhalb weniger Sekunden war er wieder trocken und sah mich an. Sein linkes Auge zuckte leicht.
„Na schön, du hast es nicht anders gewollt“, sagte er und um die zwanzig kleine Flammen erschienen wieder um ihn herum in der Luft.
Kurz war mein Lächeln etwas schief, doch dann wurde es wieder gerade und ich sah ihn herausfordernd an. „Dann zeig mal deine wahre Kraft.“
Chronos beobachtete uns nur mit einem Schmunzeln.
In dem Moment war jedoch ein lautes Hupen zu hören und unsere Pager gaben einen Signalton von sich. Vor lauter Überraschung stolperte ich und fiel beinahe auf die Nase. Train ging es auch nicht besser und Chronos zog eine Augenbraue hoch. Ich schüttelte nur den Kopf und holte meinen Pager hervor. Was konnte denn jetzt so wichtig sein? Wir waren beschäftigt!
Es war jedoch ein Code, den ich gar nicht kannte. Verwundert blickte ich zu Train, dessen Gesichtsausdruck sich plötzlich verfinstert hatte. Es war nur leicht, doch wer ihn kannte, sah es deutlich. Als mein Blick zu Chronos wanderte, seufzte dieser gerade.
„Sieht so aus, als wolle man dich kennenlernen“, sagte er zu mir. Er lächelte zwar immer noch, doch seine Augen sprachen eine andere Sprache.
Nun zog ich eine Augenbraue hoch, auch wenn ich bereits ahnte, was Code 515 zu bedeuten hatte.
„Wir sollen zur Spezialeinheit der SS“, sagte Train ernst, „Ich hoffe, du bist mit deiner Fähigkeit inzwischen weit genug vertraut, dass du dich zu Not verteidigen kannst.“
„Direkt angreifen sollte dich zwar eigentlich keiner“, fügte Chronos hinzu, „Aber manchmal versuchen sie einen zu testen. Gerade bei dir ist es gut möglich, dass sie sehen wollen, ob sie dich als Fußabtreter benutzen können.“
„Klingt ja super.“ Ich stöhnte.
Das Taxi fuhr uns durch die Stadt, deren Namen ich immer noch jedes Mal wieder vergaß. Die Häuser waren nach typischer, italienischer Baukunst errichtet worden und ich hielt Ausschau nach etwas, das mir bekannt vorkam. Doch ich war viel zu selten hier gewesen, um irgendetwas wiederzuerkennen. Somit konnte ich mich damit nicht ablenken.
Train saß neben mir auf der Rücksitzbank und Chronos dirigierte den Fahrer. Zum Glück sprach Chronos italienisch, denn auch dieser Fahrer schien Englisch zu seiner Schulzeit immer geschwänzt zu haben. Allerdings war mir das im Prinzip herzlich egal.
Mir bereitete die Begegnung mit den Leuten der Scythe Society viel größere Sorgen. Was erwartete mich dort? Die beiden Jungen hatten vage Andeutungen gemacht und das fand ich zurzeit eher nachteilig. Immer wieder versuchte ich mir vorzustellen, was dort passieren würde, wobei ich jede Idee natürlich sofort wieder verwarf.
Nach gut fünfzehn Minuten gab ich es schließlich auf. Ich war bisher noch mit eigentlich jeder Situation irgendwie fertig geworden. Mich verrücktzumachen würde mir nicht helfen, also atmete ich einmal tief ein und hatte mich dann so weit gefasst.
In dem Moment fuhren wir auch auf das Gelände einer Versicherung. Es war ein großes Gebäude mit dunklem Anstrich und vielen Fenstern, von denen die meisten aber mit Gardinen zugezogenen waren. Im ersten Moment war ich reichlich verwirrt, doch dann verarbeitete mein Gehirn die Information weiter. Der Schein trog, so viel stand fest. Die Stecty Scietoy Insurance Company war keine Versicherung. Man musste nur bei den ersten beiden Worten ein bisschen mit den Buchstaben würfeln, dann ergab sich ein eindeutiger Name: Scythe Society, oder kurz SS. Es war so einfach, dass es schon fast lächerlich war. Dass da noch kein Geheimdienst drauf gekommen war, wunderte mich wirklich.
„Aussteigen“, sagte Chronos und leistete seiner eigenen Aufforderung Folge.
Train stieg ebenfalls aus und ich tat es den beiden gleich. Ich wollte nicht wissen, was Anja dazu gesagt hätte. Hoffentlich dachte sie, dass ich mit Train auf einer Mission war. Es gefiel mir zwar nicht, ihr immer etwas vorzugaukeln, doch ich wollte nicht, dass sie in diese Welt aus Morden, Intrigen und Misstrauen hineingezogen wurde. Und ich zweifelte nicht daran, dass das passieren würde, wenn sie hiervon erfuhr. Allein schon weil sie mir höchst wahrscheinlich helfen wollen würde, obwohl das hier nun wirklich nichts war, mit dem sie es aufnehmen konnte.
„Alles klar, Katy?“, fragte Chronos über die Schulter.
„Nenn mich nicht Katy“, sagte ich genervt, „Und klar ist alles klar.“
„Mach dir nicht zu viele Sorgen“, sagte Train, der neben mir ging, während Chronos ein Stück vor uns war, „Die anderen sind zwar unberechenbar, aber ich glaube nicht, dass sie dich sofort aufs Korn nehmen werden. Sie wollen ja auch erstmal sehen, wer von nun an zu ihnen gehören soll.“
„Beruhigend.“ Ich verdrehte die Augen.
Die beiden Jungen führten mich durch einige kahle Gänge. Schwarze Fliesen waren auf dem Boden und die Wände waren in einem kräftigen Mintgrün, das mehr ins Grüne überging, gestrichen. Wer auch immer das bei der Erbauung entschieden hatte, schien entweder blind gewesen zu sein oder unter extremen Geschmacksverirrungen zu leiden, der Farbunterschied sah ja ziemlich krass aus. In beinahe regelmäßigen Abständen hingen abstrakte Bilder an den Wänden und manchmal entdeckte ich sogar eine arme Topfpflanze, die einsam und verlassen das bestimmt nicht sehr abwechslungsreiche Geschehen beobachtete. Nur gelegentlich sahen wir Männer in Bürokleidung, die uns einen kurzen, verstohlenen Blick zuwarfen, ehe sie davoneilten. Ich vermutete, dass sie für den Papierkram zuständig waren. Die Morde und Aufträge übernahmen mit Sicherheit ganz andere Leute, die weniger ängstlich waren als diese Männer, die schon bei einigen Kindern das Weite suchten.
Dann standen wir vor einer eisernen Tür mit elektronischem Schloss. Das erinnerte mich ein bisschen an das Labor, wo ich das Serum injiziert bekommen hatte. Eine nicht gerade schöne Erinnerung. Zudem vernahmen meine Sinne eine nicht zu verachtende Bedrohung, die sich hinter der Tür befand. Ich wusste, dass die Gefahr der Personen dort drinnen noch weit schlimmer war als die von Waffen. Es gab einen gravierenden Unterschied zwischen normalen Waffen und den genmanipulierten Leuten, die in dem Raum waren. Die Leute konnten denken und hatten zudem noch eine viel größere Macht als herkömmliche Waffen. Dies war mir klar geworden, als ich Train und Chronos bei ihrem Kampf beobachtet und auch meine eigene Fähigkeit erlebt hatte. Es war wirklich unglaublich und erschreckend zugleich.
Chronos seufzte, stellte sich vor die Tür und sagte: „Keyword final Joker.“
Ein Surren erklang aus der Tür, bevor weiter oben eine Anzeige grün aufleuchtete und die Tür sich automatisch öffnete.
„Wenn du dir das sparen willst, steigst du einfach durch´s Fenster ein“, flüsterte Train mir zu, „Das machen wir eigentlich immer, weil das Teil manchmal einen Knall hat dann und niemanden rein lässt.“
„Aha.“ Ich nickte nur. Ich sagte lieber nicht, was ich dachte.
Nun konnte ich aber in den Raum hinter der Tür blicken. Er sah aus wie ein riesiges Wohnzimmer, eine andere Bezeichnung passte nicht. Große Fenster waren in der gesamten, gegenüberliegenden Wand eingelassen und ließen eine Menge Licht in den Raum. Links in einer Ecke stand ein Plasma-Fernseher, umringt von zwei Sofas mit weinroten Bezügen. Daneben stand noch eine lange Kommode mit anschließender Vitrine und rechts, auf der anderen Seite von der Tür, stand ein langer Tisch aus dunklem Holz. Mehrere Stühle standen um ihn herum, auch wenn zurzeit nur einige Tassen und eine Kanne mit Kaffee auf dem Tisch standen, der mich schon fast an eine Tafel erinnerte. Ein Bücherregal stand noch rechts neben der Tür an der Wand und ein einzelner Benjamin hatte daneben Platz gefunden.
Sechs Personen befanden sich im Raum, einer von ihnen war VanDyke, den ich schon einmal bei der Direktorin im Büro gesehen hatte, ich erkannte ihn sofort wieder. Die anderen fünf waren jünger als er, ich schätzte sie so zwischen achtzehn und zweiundzwanzig. Bis auf ein dreizehnjähriges Mädchen, das ich ebenfalls sofort wiedererkannte. Kein Wunder, schließlich hatte Anika mehr als einmal versucht mich umzubringen, da vergaß ich sie nicht so schnell. Ihre blonden Haare hatte sie offen gelassen und sie trug auch nicht mehr die Uniform der Akademie, sondern ein rosanes Top und einen Jeansrock, der ihr bis knapp zur Mitte der Oberschenkel reichte. Bei diesem Anblick fragte ich mich, ob wir wirklich erst Anfang März oder nicht schon Juli hatten. Ich meine, draußen lag zwar kein Schnee mehr und es war schon wieder etwas wärmer, doch für so einen Aufzug fand ich es trotzdem noch lange nicht warm genug.
„Willkommen bei uns, Kate“, sagte Mr VanDyke freundlich. Auch wenn zwischen seiner und meiner Definition von freundlich ein meilenweiter Unterschied lag. Denn auch wenn er gerade wahrscheinlich freundlich lächelte, strahlte er immer noch eine solche Kälte und Feindseligkeit aus, dass es beinahe überwältigend war. Ich schien hier ja sehr willkommen zu sein. Besser ich ging gleich vom Gegenteil aus, dieser Mann hatte eindeutig etwas gegen mich. „Willkommen zurück Train. Und Chronos, du könntest dich gerne öfter mal bei uns blicken lassen.“
„Mal sehen, vielleicht beim nächsten Mal“, sagte Chronos nur. Und auch wenn er relativ gelassen klang, konnte ich auch bei ihm eine leichte Anspannung spüren. Genau wie bei Train.
VanDyke lächelte kalt, dann wandte er sich wieder mir zu. „Nun am besten ich stelle dir mal den Rest der Spezialeinheit vor.“
„Von mir aus“, sagte ich.
„Train!“ Ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren kam angelaufen und wollte Train um den Hals fallen, doch er wich ihr geschickt aus. Dabei fiel mir auf, dass ich das Mädchen ebenfalls schon mal gesehen hatte. Sie war diejenige, die in England bei dem völlig zerstörten Elektrizitätswerk aufgetaucht war! Heute trug sie wieder gelbe Bluse mit langen Ärmeln und einen schwarzen Minirock, der perfekt zu ihren Haaren passte. Ich schätzte sie auf etwa achtzehn.
„Das ist Isabella“, stellte VanDyke sie vor, „Ihre Kraft ist Elektrizität. Wenn bei uns mal der Strom ausfallen sollte, könnten wir sie als Notstromaggregat verwenden.“
Isabella hatte bis eben noch Train beleidigt angesehen, doch jetzt blickte sie zu mir. „Hi!“ Schneller als ich gucken konnte hatte sie mir einen Arm um die Schultern gelegt und sah mich grinsend an. Jedoch sah ich kurz einen düsteren Ausdruck in ihren Augen aufblitzen und im nächsten Moment spürte ich, wie sich meine Haare und auch der Rest von mir immer stärker elektrostatisch aufluden. Noch etwas mehr und es würde schmerzhaft werden!
„Na? Was ist denn deine...“ Isabella stockte und sah zögerlich über ihre Schulter. Trains Blick war tödlich und seine Hand, die im Übrigen auf ihrer Schulter lag, war kochendheiß. Kurz versuchte Isabella dem zu trotzen, doch dann wich sie zurück und ließ dabei auch mich los.
Mir war klar, dass Train mich gerade wahrscheinlich knapp davor bewahrt hatte einen heftigen elektrostatischen Schlag zu kassieren und dafür war ich ihm dankbar. Allerdings schienen er und Chronos sich auch geirrt zu haben, was die anderen anging. Sie wollten mich anscheinend auf der Stelle „testen“, wie sich die beiden Jungen ausgedrückt hatten. Wäre ich solche Anschläge durch Anika nicht beinahe schon gewöhnt, hätte mich das hier wohl ziemlich erschüttert. So aber nahm ich es schon beinahe gelassen hin. Sehr viel anderes blieb mir allerdings auch nicht übrig.
„He he.. na ja, auch von mir, herzlich willkommen“, sagte Isabella nur schief lächelnd.
„Gut, dann hätten wir da hinten auf dem Sofa Robin“, fuhr VanDyke ohne weiteres fort, „Bei ihm solltest du aufpassen, er kann dich ohne weiteres hypnotisieren.“
Wow, dieses Mal wurde ich gewarnt, wie nett. Ich schätzte den Jungen dort hinten auf knappe zwanzig, also war er im Prinzip auch schon ein junger Erwachsener. Er hatte kurze, dunkelrote Haare und blickte in diesem Moment kurz zu mir herüber. Ich konnte keinerlei Gefühlsregung in seinen hübschen, nussbraunen Augen sehen, doch er schien mir gegenüber auch nicht so feindselig zu sein wie VanDyke oder Isabella. Er trug ein weißes Oberhemd und eine dunkelgraue Jeans. Sagen tat er zwar nichts, doch er nickte mir kurz zu, ehe er wieder zu dem Fernseher blickte, der allerdings ausgeschaltet war. Musste sehr interessant sein einfach nur den Schirm anzustarren.
„Und ich bin Jake“, meldete sich plötzlich ein Junge mit braunen Haaren zu Wort, der auf mich zukam, „Nett dich kennenzulernen.“ Das hämische Lächeln sagte mir sofort, dass ich auf der Hut sein musste. Im nächsten Moment trat er jedoch wie zufällig auf meinen Schatten und ich merkte plötzlich, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Mein entgeisterter Blick ruhte auf dem etwa achtzehnjährigen Jake, der einen blauen Pullover und eine beige Stoffhose trug. Von außen sah er harmlos aus, doch wiedermal war bewiesen, dass der Schein trügen konnte. Ich hatte über meinen Körper keinerlei Gewalt mehr.
Dann fing er aber plötzlich an heftig zu husten und krümmte sich leicht. Er röchelte schon fast und sah nur mit Mühe auf.
„Pass auf, dass du nicht erstickst“, sagte Chronos mit einem freundlichen Lächeln.
Jake sah ihn mürrisch an und keuchte. Sein Hustenkrampf hatte nachgelassen, da das Wasser aus seiner Lunge verschwunden war. „Bastard“, fluchte er leise.
„Ich kann dich hören“, bemerkte Chronos gut gelaunt.
Jake lächelte verbissen, bevor er einige Schritte rückwärts ging und ich mich wieder bewegen konnte.
„Seine Fähigkeit ist die Schattenkontrolle“, erklärte VanDyke ungerührt, als Jake sich auf die Fensterbank setzte und scheinbar froh war, dass er wieder richtig Luft bekam.
„Freut mich auch dich kennen zu lernen“, murmelte ich nur und mein Lächeln war leicht entglitten. Das war hier ja eine lustige Gesellschaft, schon der zweite Versuch irgendetwas mit mir anzustellen, dieses Mal von Chronos verhindert. Ohne die beiden Jungen hätte ich wohl wirklich Probleme gehabt.
„Dann hätten wir dort hinten am Tisch noch Thore“, sagte VanDyke, „Er kann Eis nach seinem Belieben kontrollieren und gleich neben ihm ist Karin, die du noch unter dem Namen Anika kennen solltest. Ihre Spezialität sind Gifte aller Art.“
Thore schien älter als die anderen zu sein, so um die zweiundzwanzig. Seine Haare hatten einen sandfarbenen Ton und reichten ihm bis knapp auf die Schultern. Zu seinem hellblau-weiß karierten Hemd trug er noch eine dunkle Hose und er war hochgewachsen, sogar noch ein kleines Stück größer als Chronos. Jedoch ging auch von ihm ein so starkes Gefühl von Kälte aus, dass mir beinahe ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Er würdigte mich keines Blickes und grüßte auch nicht. Kein angenehmer Zeitgenosse, so viel stand fest.
Anika, oder besser Karin, schien mir gegenüber noch genauso feindselig gesinnt zu sein wie in der Akademie. Warum hatte sie sich dort eigentlich Anika genannt? Egal, an der Person, die sie war, hatte sich sowieso nichts verändert. Und Gift als Fähigkeit fand ich mehr als passend zu ihrer Persönlichkeit. Auch wenn sie scheinbar auch eine Liebe für Säuren hatte, so oft wie sie mich mit Salpetersäure attackiert hatte. Doch die Fähigkeit bereitete mir auch Sorgen, ich sollte hier wohl besser aufpassen, was ich zu mir nahm.
„Gut, dann sollte ich mich wohl besser auch mal vorstellen“, stellte VanDyke fest, „Ich bin der Leiter dieser Spezialeinheit, mein Name ist VanDyke. Und du solltest dich nicht mit mir anlegen, ich dulde nämlich keine Schüler, die aus der Reihe tanzen.“ Er hielt mir seine Hand hin.
Bevor ich nur auf den Gedanken kommen konnte ihm meine Hand zu reichen, standen Train und Chronos sogar beide vor mir. Genau zwischen meiner Wenigkeit und Mr VanDyke, der im ersten Moment sogar ein klein wenig überrascht wirkte. Dann lächelte er jedoch nur leicht.
„Keine Angst, ich werde eurer Freundin nichts tun.. noch nicht jedenfalls“, sagte VanDyke, auch wenn er Letzteres so leise gemurmelt hatte, dass ich es beinahe nicht verstanden hätte. „Und wie wäre es, wenn sie sich jetzt selbst mal vorstellt?“ Das war keine Frage, sondern ein klarer Befehl. Damit trat er auch einige Schritte zurück.
Ich sah Train leicht unsicher an, der nur kurz nickte.
„Mein Name ist Kate“, sagte ich daraufhin nur schulterzuckend, „Was soll ich sonst noch sagen? Wie alt ich bin?“
„Deine Fähigkeit“, schlug Isabella lächelnd vor, „Am besten mit Kostprobe.“
„Aber übertreib es nicht.“ Thores Stimme klang genauso gefühllos und eiskalt, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Ich überlegte einen Moment, dann beschloss ich mich für die beiden angedeuteten Angriffe zu arrangieren. Zwar fiel es mir noch nicht ganz so leicht meine Fähigkeit zu kontrollieren, doch ich wurde mit jedem Mal besser.
Nun dachte ich nur an einen leichten Wind und schon spürte ich, wie er mit meinen Haaren spielte. Die anderen und selbst Thore blickten auf. Dann verstärkte ich den Luftzug jedoch, bis er zu einer rauen Böe anwuchs und Isabella beinahe von den Füßen riss, während Jake zur selben Zeit für einen Augenblick an die Scheibe gequetscht wurde. Einen kurzen Vorgeschmack auf meine Rache bekam auch Karin zu spüren. Sie hatte sich neben Thore an den langen Tisch gesetzt und trank gerade einen Schluck Tee. Nun sauste jedoch eine Böe zielgenau auf sie zu und bevor sie sie auch nur bemerken konnte, fegte der Wind Karin mitsamt ihrem Stuhl um. Es sah fast so aus als hätte jemand einfach mit einem Ruck die hinteren Stuhlbeine abgehackt, mit einem Rums lag Karin auf dem Rücken und ihre Beine hingen noch über der Sitzfläche. Der Tee hatte sich natürlich über ihr schönes Top verteilt, im Stillen grinste ich darüber, und Thore schien höchstens eine sanfte Brise gespürt zu haben, wenn überhaupt. Genau wie ich es beabsichtigt hatte.
„Reicht das?“, fragte ich unschuldig.
Chronos verkniff sich ganz eindeutig ein lautes Lachen und auch Train grinste in sich hinein, den beiden schien meine Vorführung gefallen zu haben.
„Ich denke schon“, sagte VanDyke und klatschte sogar kurz.
Isabella und Jake wirkten zwar etwas überrascht, doch auch eine leichte Verblüffung war in ihren Gesichtern zu entdecken. Die Einzige, die mich bitterböse anstarrte, war Karin. Und ich schwöre, wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt mausetot. Dieser Blick kam beinahe schon Trains besten Ausführungen gleich. Jetzt schien ich sie erst richtig wütend gemacht zu haben. So was aber auch, wie hatte ich das nur hingekriegt? Tja, aber das war mir so was von egal, dieser kleine Streich hatte richtig gutgetan.
„Dann hätten wir die Formalitäten abgeschlossen“, sagte Mr VanDyke nun geschäftig und deutete auf eine Pinnwand direkt links neben der Tür, die ich zuvor übersehen hatte, „Dort sind Aufträge für euch ausgehangen. Einige sind an bestimmte adressiert und einige sind frei. Du Kate wirst Isabella auf ihren nächsten Auftrag begleiten und ihr helfen. Sie wird mir dann berichten, wie du dich anstellst und ob du bereits in der Lage bist eigene Aufträge anzunehmen.“
„Um was für einen Auftrag handelt es sich?“ Ich wollte unbedingt mal wissen, wo der Unterschied zwischen den Aufträgen der Akademie und denen der Organisation lag. War es wirklich so viel anders? Ich wusste allerdings noch, wie Train manchmal ausgesehen hatte, wenn er einen Auftrag für die Organisation hinter sich hatte. Wenn ich danach rechnete, musste es da einen großen Unterschied geben. Oder wovon sonst hatte er die Verletzungen gehabt?
„Es ist nicht weiter schwer“, sagte VanDyke lediglich abwehrend, „Es geht nur um eine Gruppierung von etwa zweihundert Leuten, die irgendetwas plant, was unseren Auftraggebern nicht passt. Ihr sollt die Leute umbringen und die Lagerhalle, in der sie sich immer versammeln, ebenfalls zerstören. Nichts weiter Schweres oder Gefährliches. Für dich sollte das kein Problem sein.“
„Zwei.. hundert Leute?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Gesichtszüge sich verabschiedeten. Es sah zwar immer ganz einfach aus, doch es fiel mir gelegentlich schon schwer nur einen einzigen Menschen umzubringen. Ich war schließlich nicht Gott, doch ich tat es, weil ich es musste, wenn ich eines Tages meine Familie rächen wollte. Hier aber sollte ich so eben mal auf einen Schlag zweihundert Leute töten. Das ging mir dann doch gegen den Strich. „Und ob das ein Problem ist!“
VanDyke wirkte ziemlich erstaunt darüber, dass ich es nach seiner Ansage von vorhin wagte ihm zu widersprechen.
„Reicht es nicht, einfach nur den Leiter des Ganzen zu töten?“, fragte ich, „Schlägt man der Schlange den Kopf ab, ist auch ihr Körper außer Gefecht gesetzt. Wieso gleich zweihundert Menschen?“
„Weil der Auftraggeber es so will“, sagte Isabella leicht verwirrt.
„Dann redet mit ihm!“, sagte ich verärgert, „Einen Menschen umzubringen ist schon schlimm genug, aber zweihundert auf einmal schlägt ja schon fast den Boden ins Gesicht!“
„Sollen wir sie alle einzeln umbringen?“ Isabella runzelte die Stirn.
„Nein, ihr sollt am besten keinen oder nur einen töten!“, antwortete ich.
„Kate Randall“, sagte VanDyke auf einmal und seine Stimme nahm einen bedrohlichen Klang an, „Du wirst jetzt aufhören dich über etwas völlig Belangloses aufzuregen. Ob nun einen, zwei oder zweihundert Leute ist doch vollkommen egal...“
„Ist es nicht!“, erwiderte ich bissig, „Das sind auch Menschen und sie haben ein Recht darauf zu leben! Nur weil das irgendeinem nicht passt, können wir sie doch nicht einfach umbringen!“
„Oh doch!“ Nun brauste auch VanDyke auf und kam drohend auf mich zu. „Und du wirst diesen Auftrag mit Isabella zusammen erledigen. Du bist nicht mehr nur Schülerin der Akademie, da konntest du vielleicht Einspruch erheben, aber nun befindest du dich bei der Scythe Society. Du wirst gefälligst auf das hören, was man dir befiehlt.“
Train und Chronos schienen sich gerade wieder zwischen VanDyke und mich stellen zu wollen, doch das konnten sie sich sparen.
„Ganz bestimmt nicht!“, sagte ich nur stur wie ich sein konnte, „Das wäre ja noch schöner! Ich bin nicht Ihr Spielzeug und so lasse ich mir schon gar nichts sagen!“
Ein kräftiger Windstoß sprengte eines der Fenster auf, vor dem Jake auch gerade noch auf der Fensterbank hockte und sich bei dem Krachen natürlich ziemlich erschreckte. Bevor irgendeiner überhaupt begriff, was ich vorhatte, lief ich schon mit wenigen Schritten durch den Raum an Isabella vorbei. Dann sprang ich ab und segelte über Jake hinweg, der mich nur verdattert anstarrte. Ich war bereits aus dem Fenster im ersten Stock gesprungen und unten auf dem Asphalt gelandet, als Train und Chronos sich nur ungläubig ansahen. VanDyke so abzuservieren hatten selbst sie noch nicht gewagt.
„Ich bin doch nicht blöd“, murmelte ich und sah zu, dass ich zur Straße kam. Die Landung aus dem ersten Stock war ein Klacks gewesen und nun lief ich einfach über das Gelände der Stecty Scietoy Insurance Company.
In der nächsten Straße fand ich Gott sei Dank auch ein Taxi und fuhr auf dem schnellsten Weg zurück zur Akademie. An sich war das Treffen ja glimpflicher abgelaufen als ich zu hoffen gewagt hatte, doch der Auftrag hatte meinen noch nicht mal allzu schlechten Eindruck der Spezialeinheit direkt in den Keller wandern lassen.
Vielleicht machte ich mir ja was vor, Menschen zu töten war immer schlimm, egal ob einen oder mehrere, aber irgendwo war da bei mir auch eine Schmerzgrenze. Es starben viele tausend Menschen an Krankheiten, in Kriegen und so weiter, daher konnte ich es mit meinem Gewissen noch einigermaßen vereinbaren gelegentlich mal einen oder zwei Menschen zu töten. Das war schon schlimm genug, aber anders würde ich mein Ziel nie erreichen. Und danach war es mir egal, ob ich in der Hölle oder sonst wo landete, deswegen konnte ich damit leben. Aber zweihundert Menschen auf einen Schlag umzubringen ging mir definitiv gegen den Strich. Da weigerten sich mein Gewissen und auch mein Verstand. Irgendwo war mal Schluss.
Bald kam ich wieder bei der Akademie an und erwartete schon fast, dass die ach so gute Mrs Allison mich empfangen und gleich wieder zur Organisation zurückschicken würde, doch ich kam ohne Schwierigkeiten in mein Zimmer. Abgesehen von den drei Nervensägen vielleicht, die noch immer nicht aufgegeben hatten, auch wenn ich sie jedes Mal wieder einfach stehen ließ. Ich war ziemlich froh, als ich wieder in meinem Zimmer war und mich aufs Bett legen konnte. Die Begegnung mit den anderen positiven Fällen musste ich erstmal verdauen.
„Oje, das ist wirklich ein zusammengewürfelter Haufen.“ Ich seufzte. Da hatten wir nun Train mit Feuer, Chronos mit Wasser, Isabella mit Elektrizität, Jake mit seiner Schattenkontrolle, Robin mit Hypnose, Thore mit Eis, Karin mit Gift und zu Letzt noch mich mit Wind. Das waren wirklich ganz schön unterschiedliche Fähigkeiten. Zudem konnte ich noch immer kaum glauben, dass so etwas durch Genmanipulation hervorgerufen werden konnte. Ich meine, wenn wir körperlich durch mehr Muskeln, besserer Gehirnleistung oder von mir aus auch in der Lebenserwartung anders als normale Menschen sein würden, würde mich das weit weniger verblüffen als das hier. Körperlich waren wir nun vielleicht auch etwas fitter und belastbarer als der normale Mensch, aber das war nun nicht weltbewegend.
Aber die Fähigkeit Wasser, Eis oder auch Gift zu kontrollieren war ja nun vollkommen weit daher geholt. Es war so sonderbar. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass jemand das ganz gezielt erreichen wollte. Meine Vermutung lag darin, dass die Leute der Scythe Society eher auf etwas wie „normale“ Genmanipulation hingearbeitet haben, bis sie dann durch Zufall das ausgelöst hatten, was wir heute darstellten. Menschen, die in der Lage waren ganze Naturgewalten unter ihre Kontrolle zu bringen, wenn sie wollten. Es war wirklich beängstigend, wenn man so darüber nachdachte.
„Huch...“ Ich blickte überrascht auf, als Pieps auf einmal durch die geöffnete Balkontür segelte und nach einem Rundflug durch mein Zimmer auf der Fensterbank über dem Bett landete. „Was suchst du denn hier?“
Kurz zwitscherte Pieps etwas, danach wandte er sich seinem strahlend gelben Gefieder zu und machte sich daran es erstmal richtig zu ordnen. Dabei fiel mir etwas auf. Davon abgesehen, dass Pieps irgendwie etwas größer geworden zu sein schien als beim letzten Mal, bemerkte ich, dass ich mit meiner Aufzählung von vorhin nur auf acht positive Fälle kam. Train hatte jedoch von neun gesprochen, also wo war der Letzte? Oder war Mr VanDyke etwa ebenfalls genmanipuliert?
Ein lauer Luftzug kam durch die Balkontür herein und blähte die dunklen Vorhänge auf. Frische Luft breitete sich im Zimmer aus und die Stille wich einem leisen Flüstern, das plötzlich mit dem Wind hereingetragen wurde. Es waren keine richtigen Worte, mehr unbeschreibliche Laute, doch sie klangen beinahe wie ein leises Lied. Und auch wenn ich es nicht genau verstand, begriff ich dennoch, was diese wunderschönen, engelsgleichen Stimmen mir sagen wollten.
„Das kann doch nicht...“ Doch auch wenn ich nicht verstand, woher diese Stimmen so plötzlich kamen, zweifelte ich keine Sekunde an dem, was ich gehört hatte. Mit einem Satz sprang ich vom Bett und raste aus der Tür. Ich flog die Treppen nur so herunter, dicht gefolgt von Pieps, der hinter mir her flatterte und mir anscheinend folgen wollte. Komischer Vogel, doch ich hatte keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen. Vielmehr ärgerte ich mich darüber, dass ich da nicht gleich dran gedacht hatte. Diese eine Sache war mir für vielleicht zwei Stunden entgangen und prompt bezahlte ich dafür. Ich betete nur, dass ich nicht zu spät kam.
Die Tür zu Haus 4 schwang auf und ich rannte hinaus auf den Weg in Richtung Tor. Und da sah ich sie auch schon. Zwei Männer, die wie Bodyguards gekleidet waren, zerrten ein Mädchen den Weg entlang zu dem grauen Wagen, der keine zehn Meter entfernt direkt vor dem Wohngebäude der Lehrer geparkt war. Und die zwei Flechtenzöpfe aus mittellangen, schwarzen Haaren waren auch unverkennbar, die beiden Männer versuchten gerade Anja in das Auto zu verfrachten!
„Hören Sie sofort auf damit!“, schrie ich wütend und blieb gut sieben Meter vor den beiden Männern stehen.
„Kate!“, rief Anja und sah mich verwirrt an, „Was ist hier los?“
Die beiden Männer schienen mich gar nicht für voll zu nehmen, das sah ich gleich an ihren Blicken.
„Was willst du, Kleine?“, fragte einer der beiden.
„Das hier geht dich nichts an, also geh wo anders spielen“, sagte der andere und versuchte Anja weiter zu ziehen, die sich jedoch nach Kräften wehrte.
Bei mir brannte nun eine Sicherung durch. Man konnte mein Zimmer verwüsten, Anschläge auf mich verüben und sonst was, aber das war das zweite, das ich absolut nicht ausstehen konnte: wenn irgendwer sich an meinen wenigen Freunden vergriff. In meinem ganzen Leben hatte ich nie viele Freunde gehabt, mitunter auch wegen meines Jobs, doch die wenigen, die ich hatte, waren mir lieb und teuer. Und gerade Anja war die beste weibliche Freundin, die ich seit Jahren hatte. Niemand würde ihr ungestraft etwas antun. Niemand!
Um mich herum begann der Wind zu zirkulieren und ich kam langsam auf die beiden Männer zu. Diese blickten mich leicht erstaunt an, doch dann zog der eine auf einmal eine Pistole aus der Tasche und richtete sie auf mich.
„Bleib da stehen oder ich knall dich ab!“, sagte er. Der Mann und auch der andere schienen zu der Sorte zu gehören, die sich für ganz hart hielt, obwohl nichts dahinter steckte. Eine der Arten, die mich ankotzten.
„Pass auf Kate!“, rief Anja und versuchte verzweifelt sich zu wehren, doch der andere Kerl hatte sie fest im Griff.
„Versuch´s doch“, sagte ich nur drohend und kam einfach immer näher. Das sorgte dafür, dass der Mann wirklich schoss. Allerdings traf er kein einziges Mal, egal wie gut er zielte. Der Wind um mich herum leitete jede Kugel ins Leere, während er sich außerdem noch mit meinen Haaren vergnügte und somit deutlich machte, über welche Gewalt ich verfügte.
Die Gesichter der beiden Kerle entgleisten zusehends und auch Anja schien ihren Augen kaum trauen zu können. Gerade als auch sie einen leichten Luftzug spürte, weiteten sich ihre Augen. Auch die der Männer weiteten sich, ehe sie sich schlossen, da ich die beiden mit gnadenlos harten Druckwellen außer Gefecht setzte.
„Wagt das nicht nochmal“, sagte ich mit finsterer Stimme zu den zwei bewusstlosen Männern, „Sonst werdet ihr meine wahre Kraft kennenlernen.“
„Kate...“ Anja sah mich noch immer ungläubig an. Sie schien vollkommen fassungslos zu sein und da konnte ich sie mal wieder verstehen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihr die Wahrheit zu verheimlichen. Wahrscheinlich war es langsam Zeit, dass sie erfuhr, was aus mir geworden war.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich. Der Wind hatte sich wieder gelegt.
„Ja.. aber du...“, sagte Anja stockend.
„Ich kann den Wind beeinträchtigen“, sagte ich einfach, auch wenn ich im Nachhinein feststellte, dass das wohl etwas zu direkt gewesen war, „Als ich die drei Tage durchgeschlafen habe, war ich zuvor in ein Labor hier auf dem Gelände geschleppt worden. Dort hatte man mir etwas injiziert, dank dem meine Gene jetzt manipuliert sind und ich den Wind kontrollieren kann.“
Anjas Kinnlade fiel herunter und sie starrte mich eine ganze Weile lang an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. Es war nicht zu übersehen, dass sie das kaum glauben konnte. Hätte ich das Gesagte nicht eben demonstriert, würde sie mir die Geschichte wahrscheinlich gar nicht abkaufen. So aber schien sie ernsthaft zu überlegen.
„Was wollten die Männer von dir?“, fragte ich nun ernst, „Wollten sie dich zur SS bringen?“
„Äh.. ich glaube ja.. sie haben irgend so etwas gesagt“, antwortete Anja verwundert.
„Verdammt, ich hab´s befürchtet“, murmelte ich nur und hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. Also wollten sie Anja wirklich als Druckmittel benutzen, um mich zu erpressen. Ich hatte so etwas bereits geahnt, als ich VanDyke bei der Verkündung meines Auftrags beobachtet hatte. Er hatte viel zu sicher ausgesehen. Anscheinend hatte er gewusst, dass er bei mir ohne ein passendes Druckmittel nicht weit kam. Und da hatte er sich wirklich das Richtige ausgesucht, wie ich frustriert feststellen musste. Anja war zurzeit meine größte Schwäche.
„Was ist hier los?“, fragte sie auf einmal, „In letzter Zeit ist so viel passiert.. Ich habe nie nachgefragt, aber ich mache mir Sorgen um dich. Irgendwie scheint es immer um dich oder Train zu gehen.. Bitte sag mir endlich, was hier los ist. Ich bitte dich!“
Einen Augenblick lang sah ich sie nachdenklich an. Ich hatte gehofft, sie aus der Sache raushalten zu können, aber scheinbar konnte ich das gar nicht verhindern. Und wenn VanDyke jetzt wirklich plante, Anja als Druckmittel gegen mich einzusetzen, war es besser, wenn sie zumindest wusste, was hier vor sich ging.
„Kate...“, setzte Anja an.
Ich seufzte im selben Moment. „Die beiden Männer sind von der Scythe Society“, sagte ich ernst, „Sie sollten dich entführen, damit der Leiter der Spezialeinheit der SS dich als Druckmittel gegen mich benutzen kann.“
Anja wirkte mehr als verwirrt. Mal wieder.
„In der SS, die ja mit der Akademie zusammen arbeitet, gibt es eine Spezialeinheit“, sagte ich, „Und so wie ich das verstanden habe, wird in der Organisation auch noch eine Forschung betrieben, von der ich nie gedacht hätte, dass sie so etwas hervorrufen könnte. Genmanipulation, bei der schon viele hunderte Menschen gestorben sind. Insgesamt gab es acht positive Fälle, die alle in der Spezialeinheit gesammelt wurden und Aufträge für die Organisation übernehmen. Durch ihre übermenschlichen Fähigkeiten ist es auch kein Problem für sie, mal eben dreihundert Menschen umzubringen.. Sie sind nichts, mit dem es ein normaler Mensch aufnehmen könnte.“
„Aber.. wie hängt das Ganze mit dir zusammen?“, fragte Anja nur. Sie wirkte entsetzt, was ich nur nachvollziehen konnte.
„Tja, bis vor kurzem waren sie nur acht...“ Ich blickte hoch in den Himmel. „Aber wie ich eben bereits gesagt habe, seit kurzem kann man mich auch nicht mehr als normal bezeichnen. Und nun soll ich ebenfalls für die Scythe Society arbeiten, genau wie Train und die anderen positiven Fälle.“
„Du bist auch...“ Anja schien beinahe fassungslos. „Und Train ebenfalls?“
Ich nickte nur. „Ich habe mich geweigert meinen ersten Auftrag auszuführen, bei dem ich etwa zweihundert Menschen auf einmal töten sollte. Deswegen waren die Männer hinter dir her, sie wollen dich als Druckmittel benutzen, um mich zu erpressen.“
„Moment mal, Train ist ebenfalls.. genmanipuliert?“, fragte Anja ungläubig.
Wieder nickte ich. „Und der Junge aus meinem Zimmer, Chronos, gehört auch dazu.“
Anja konnte es nicht glauben, das sah ich ihr an.
„Und so wie die Dinge stehen, habe ich auch keine andere Wahl“, stellte ich leicht angesäuert fest, „Scheinbar werde ich den Auftrag ausführen müssen, auch wenn es mir nicht passt.“ Ich wandte mich zum Gehen.
„Ich könnte es nicht ertragen, wenn schon wieder jemand wegen mir verletzt wird“, flüsterte ich noch und marschierte dann los in Richtung Tor.
Anja starrte mir nur ungläubig hinterher. Was war in den letzten Wochen nur alles geschehen? Und was hatte sie eigentlich alles nicht gewusst? Train war ein Mitglied der Scythe Society? Die Organisation, von der im Prinzip nichts bekannt war? Und ich sollte von nun an auch dazu gehören? Anja hatte keine Ahnung, was sie denken sollte. Was war nur aus den ruhigen Tagen geworden, in denen wir einfach ganz normal zum Unterricht gegangen waren? Alles schien sich zu verändern. Und zwar wirklich alles.
Das Taxi fuhr in schnellem Tempo über die Landstraße. Bald würden wir wieder in der Stadt sein. Ich saß auf der Rücksitzbank und dachte die ganze Fahrt über darüber nach, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war, Anja die Wahrheit zu erzählen. Im besten Fall glaubte sie mir nur nicht. Im schlimmsten Fall hielt sie mich für verrückt und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Na ja, Genmanipulation war schließlich ziemlich abwegig. Ich hätte es wahrscheinlich auch nicht geglaubt, wäre ich nicht selbst der Beweis dafür.
Mit einem Seufzen sah ich aus dem Fenster. Das konnte ja lustig werden, wenn ich dort wieder auflief. Jedoch blieb mir leider kaum eine andere Wahl. Ich musste den Auftrag annehmen, wenn ich nicht riskieren wollte, dass sie Anja etwas antaten. Es ging zwar gegen meine Prinzipien, doch Anjas Leben stand für mich immer noch über denen einiger unbekannter Leute. Auch wenn es mir trotzdem ganz und gar nicht gefiel.
Schließlich hielt das Taxi, ich bezahlte den Fahrer, der einen völlig unverschämten Preis für die Fahrt verlangte, und sah das Gebäude der Stecty Scietoy Insurance Company oder einfach Scythe Society genervt an. Normale Menschen hätten in dieser Situation wohl Angst oder würden sich zumindest unwohl fühlen, doch ich war einfach nur sauer. Ich hasste es, wenn man mich erpressen wollte.
Als ich gerade auf den Haupteingang zumarschieren wollte, kam mir wieder in den Sinn, dass ich ja gar nicht durch die eiserne Tür zum Zimmer der Spezialeinheit kam. Dafür brauchte ich ein Passwort und das hatte ich nicht. Also änderte ich kurzerhand die Richtung und ging zur linken Seite des Gebäudes. Es war nicht weiter schwer das richtige Fenster wiederzufinden, Jake saß immer noch auf der Fensterbank und blickte gerade nach innen.
Ich fackelte auch nicht lange, nahm kurz Anlauf und sprang kräftig ab. Beinahe mühelos landete ich auf dem Fenstersims und im selben Moment sah Jake nach draußen. Ich konnte seinen überraschten Laut selbst durch die geschlossene Scheibe hören, als er erschrocken von der Fensterbank purzelte und ich das Fenster aufstieß. Meine Laune war weiß Gott nicht die beste und dementsprechend zirkulierte der Wind um mich, als ich das große Zimmer betrat und dem lieben Mr VanDyke einen vernichtenden Blick zuwarf.
„Heiliger, musstest du mich so erschrecken?“, fragte Jake und rieb sich den Kopf. Er saß immer noch auf dem Boden und wollte noch etwas sagen, doch als mein finsterer Blick auf ihn fiel, hielt er anscheinend doch lieber den Mund. Gute Entscheidung.
„Was verschafft uns denn diese Ehre?“, fragte Mr VanDyke kalt. Er hatte anscheinend beschlossen sich die freundliche Masche zu sparen. „Hast du hier etwas vergessen? Oder hast du deine Meinung etwa geändert und willst den Auftrag doch mit Isabella zusammen übernehmen?“
In mir kochte die blanke Wut wie Wasser in einem überhitzten Kessel und so war auch der Wind alles andere als sanft. Ein wahrer Sturm schien im Zimmer aufzukommen und einige Zettel, die auf den Kommoden lagen, wurden bereits mitgerissen und durch den Raum gewirbelt. Die anderen sahen mich nur entgeistert an, bis auf Thore, der seinen kalten Tee trank als würde hier nicht gerade ein heftiger Tropensturm aufkommen.
„Kate!“, rief Train und kam mit Chronos auf mich zugelaufen. Die beiden hatten vorher in zwei Ecken gestanden und alles nur beobachtet, doch nun, da die Situation außer Kontrolle zu geraten schien, kamen sie wohl doch lieber näher heran.
„Ich werde den Auftrag ausführen“, sagte ich nur mit düsterer Stimme, „Aber wagen Sie es nicht noch einmal meiner Freundin etwas anzutun.“
VanDyke erwiderte meinen feindseligen Blick einige Sekunden lang, dann zuckte er lediglich mit den Schultern. „So lange du dich mir nicht widersetzt, wird die Kleine nichts zu befürchten haben.“
„Das will ich Ihnen raten.“ Meine Stimme hätte kaum drohender klingen können.
„Gruselig“, murmelte Chronos nur mit einem schiefen Lächeln. Durch den Wind hatten seine Haare endgültig jede Ordnung verloren und standen wirr zu Berge.
Ähnlich sah es auch bei Train aus, der mir gerade eine Hand auf die Schulter legte und mich ernst ansah. „Beruhig dich, Kate. Wenn du das ganze Zimmer umgestaltest, hilfst du auch keinem.“ Außerdem wusste er, dass VanDyke so einen Radau nicht mehr lange dulden würde. Es war schon verwunderlich, dass er noch immer nicht eingegriffen hatte. Normalerweise hätte ich bei so einem Verhalten schon vor Sekunden bewegungslos am Boden gelegen. Und Train musste auf jeden Fall verhindern, dass VanDyke von seiner Fähigkeit Gebrauch machte. Dann wäre es nämlich aus mit mir.
Einen kurzen Moment lang sah ich Train eiskalt an und ich spürte an seiner Hand auf meiner Schulter, dass er kaum spürbar zuckte. Er erwiderte meinen Blick jedoch und nach einigen Sekunden gab ich mir einen Ruck. Train hatte mir schließlich nichts getan. Ich wollte nur diesem VanDyke sein verdammtes, verfluchtes Maul stopfen. Mit einem leisen Knurren von mir ebbte der Wind ab und schließlich stand die Luft wieder still.
„Wow...“ Isabella war dabei ihre langen, schwarzen Haare wieder zu sortieren und sah mich dabei erstaunt an.
„Das war mal ein Sturm“, murmelte Jake verblüfft und kam erstmal überhaupt wieder auf die Füße.
Robin saß nur mit einer hochgezogenen Augenbraue auf dem Sofa, während Thore noch immer am Tisch saß und sich ebenfalls jeden Kommentar sparte. Er hatte Karin jedoch eine Hand auf die Schulter gelegt, die das junge Mädchen wohl als einziges davon abhielt, sich wutschnaubend auf mich zu stürzen. Wie es aussah hatte ich zum zweiten Mal dafür gesorgt, dass sie sich den Tee über ihr Top goss. Zwar sagte ich es nicht, aber das gönnte ich ihr. Wenigstens eine winzige Freude in diesem Moment.
Ich biss die Zähne zusammen und konzentrierte mich auf Trains warme Hand auf meiner Schulter, damit ich nicht nochmal unabsichtlich einen weiteren Sturm heraufbeschwor, denn wütend war ich immer noch bis zum geht-nicht-mehr.
„Tja.. Will irgendjemand Tee?“, fragte Chronos schief lächelnd und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Irgendwie war die ganze Situation hier ziemlich angespannt.