Eine sechzehnjährige Auftragsmörderin namens Kate wechselt auf die Arrison Academy, eine Akademie für Killer. Dort lernt sie nicht nur den scheinbar gewissenlosen Auftragsmörder Train Phöenix kennen, sondern stößt mit der Zeit auf ein Geheimnis, das sie dazu bringt dieses eine Mal für den britischen Geheimdienst MI6 zu arbeiten und die Arrison Academy zu übernehmen. Enthält: Auftrag 11: Ein Killer wird erpresst Auftrag 12: gefangener Killer Auftrag 13: ein Killer als Versuchskaninchen
Train und ich lieferten den Koffer noch am selben Abend bei der Direktorin ab. Zwar hätten wir beinahe das Flugzeug verpasst, doch irgendwie hatten wir es gerade noch rechtzeitig geschafft. Allerdings hatte keiner von uns mehr ein Wort verloren. Seit der Explosion herrschte Schweigen zwischen Train und mir. Und das seit bereits mehreren Wochen auf allen Ebenen.
„Alles in Ordnung?“ Anja sah mich stirnrunzelnd an.
Ich nickte nur und blickte dann wieder gedankenverloren zur Tafel. Es war ungefähr haargenau zwei Minuten vor acht, noch zwei Minuten bis unser Klassenclown wieder mit dem Unterricht beginnen würde.
Meine Gedanken hingen jedoch immer noch in London bei dem zerstörten Elektrizitätswerk, weshalb ich noch nicht mal über die Vorstellung lächeln konnte, wie sich Mr Walker heute wahrscheinlich wieder zum Affen machen würde. Viel zu viele wirre Gedankenstränge hingen verstreut in meinem Kopf. Wie ein wahllos durcheinander geratenes Puzzle und ich fand einfach keine Teile, die zusammenpassten. Und das frustrierte mich so sehr, dass ich ohne es zu bemerken meinen Bleistift in zwei Teile zerbrach. Dem Resultat schenkte ich einen kurzen, leicht erstaunten Blick, dann stöhnte ich und sah mich in der Klasse um.
Anja sah mich unterdessen ziemlich irritiert an, doch mir war nicht danach eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage zu geben. Stattdessen beobachtete ich, wie die eine Gruppe Jungen einen länglichen Metallkasten unter die Lupe nahm, eine Dreiergruppe Mädchen tief versunken in ihr Gespräch über Make-up war, ein Junge und ein Mädchen an der Tafel kritzelten und eine letzte Gruppe noch schnell ein paar vergessene Hausaufgaben nachholte. Alles war normal.
Und doch hatte ich zurzeit das Gefühl neben all dem zu stehen. Es war als wäre ich zwar hier, aber doch nicht anwesend. Je länger ich hier an der Akademie war, umso mehr Rätsel kamen auf. Und noch kein einziges hatte ich auch nur ansatzweise lösen können. Zum einen diese Scythe Society, dann die Schuldirektorin Mrs Allison und die wahrscheinlich hinter ihr verborgene Schulleitung, dann jetzt seit neuestem dieser Fall mit dem E-Werk, der mich zu meiner letzten und fast größten Frage brachte: Was verbarg Train vor mir?
Es musste etwas Schwerwiegendes sein, so viel konnte ich mir denken. Ich vermutete sogar, dass noch viel mehr dahinter steckte als ich bisher nur vermuten konnte. Und soweit meine Überlegungen reichten, waren alle Fragen irgendwo verknüpft. Irgendetwas hatten diese geheimnisvolle Organisation namens Scythe Society, die Arrison Academy und Trains Geheimnis gemeinsam. Davon ging ich aus. Wenn ich, ganz zufällig, mal einen Satz verlauten ließ, in dem ich die berüchtigte Scythe Society erwähnte, hatte Train jedes Mal kaum merklich gezuckt. Ich war mir hundertprozentig sicher. Ich könnte ihn festnageln und eine Antwort auf meine Fragen verlangen, doch das brachte ich nicht fertig.
Ich war eine Auftragskillerin, ja. Ich brachte auf Auftrag und gegen Geld bestimmte Leute um, ja. Aber mein Herz hatte ich noch nicht verloren. Ich sah Train an, dass ihn irgendetwas gerade ebenfalls sehr beschäftigte. Zudem fiel mir auch mal wieder auf, dass Joey sich noch immer irgendwie unwohl zu fühlen schien.
Die Tür zu unserer Klasse öffnete sich und zwei Personen betraten den Raum. Das war der Augenblick, in dem ich Train das zweite Mal völlig fassungslos sah.
Zusammen mit unserem geschätzten Mr Walker war noch ein junges Mädchen hereingekommen. Es war zierlich gebaut, hatte lange, blonde Haare und trug die hellblaue Uniform der Schüler von Rang 3. Noch während in meinem Kopf aus irgendeinem Grund die Alarmglocken läuteten, stellte ich fest, dass mir das Mädchen bekannt vorkam. Ich konnte absolut nicht sagen, woran das lag, doch ich hatte das Gefühl, dass ich es schon mal irgendwo gesehen hatte. Vor langer, langer Zeit.
„Guten Morgen meine Lieben“, sagte Walker fröhlich wie immer, auch wenn mir dabei auffiel, dass seine dunklen Augen irgendwie einen ernsten Ausdruck hatten, „Ich möchte euch eure neue Mitschülerin vorstellen. Das hier ist Anika Raindall und wenn ihr Fragen an sie habt, fragt sie ruhig. Ich bin mir sicher, dass sie sie euch gerne beantworten wird.“
Dafür kassierte er von Anika einen verärgerten Blick, doch ihn schien das wie immer nicht zu stören.
„Wo setzen wir dich denn am besten mal hin?“ Mr Walker ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Es gab genau zwei Plätze, einen zwischen mir und den zwei Plätze weiter sitzenden Joey und einen direkt vor Train am Fenster. „Ah, auf den Platz in der vorletzten Reihe rechts am Fenster.“
Anika ging daraufhin stolzen Schritts durch den Mittelgang. Sie strahlte so eine Selbstsicherheit aus, dass alle anderen im Raum neben ihr zu schrumpfen schienen, obwohl sie kleiner war als die meisten.
Als sie aber unmittelbar neben der vorletzten Reihe stand, sah sie mich an. Und ich lüge nicht, wenn ich sage, dass mir noch nie so eine Kälte aus einem Blick entgegengeschlagen war. Ich erstarrte noch auf meinem Stuhl zur Salzsäule. Die Alarmsirenen in meinem Kopf schrillten und alles in mir befahl, schnellstens das Weite zu suchen.
Nur verstand ich gar nicht, warum mein Körper so heftig reagierte. Vor mir stand ein dreizehnjähriges Mädchen mit keineswegs übermächtigem Körperbau, im Gegenteil, sie wirkte fast mehr wie eine Pozellanfigur, die jeder normale Auftragsmörder wohl ausgelacht hätte. Doch irgendetwas unterschied sie von den anderen.
„Anika, du kannst dich gerne später noch mit Kate unterhalten“, bemerkte Walker freundlich, doch seine Stimme hatte einen leicht schneidenden Unterton, „Würdest du dich also bitte setzten?“
Anika grinste heimtückisch. „Aber natürlich.“ Sie schritt an den anderen vorbei und setzte sich vor Train auf ihren Platz.
Während ich mich langsam erholte, schien Train schon fast blass zu werden und starrte das Mädchen in der Reihe vor sich ungläubig an.
Er konnte es nicht fassen. Zwar verbarg die Perücke ihre kupferfarbenen Haare vollständig, doch er erkannte sie trotzdem. Allein schon die hochnäsige Art, zusammen mit dieser über alles stehenden Haltung waren typisch für nur eine Person, die Train kannte. Karin. Aus irgendeinem Grund hatte sie ihren Namen geändert, sich eine Perücke aufgesetzt und saß nun einen Platz vor ihm. Was in Gottes Namen hatte VanDyke wieder vor? Welche Teufelei hatte er sich jetzt einfallen lassen? Es gab nur eines, das Train mit Sicherheit wusste, und das war, dass hier etwas vor sich ging. Etwas Übles. Allein schon dass er Isabella beim Kraftwerk in London gesehen hatte, machte das deutlich. Die SS-Spezialeinheit plante etwas. Und er war nicht eingeweiht.
Immer wieder während der folgenden zwei Stunden hatte ich das Gefühl, dass ich angestarrt wurde. Und auch wenn Anika jedes Mal, wenn ich mal unauffällig zu ihr blickte, nach vorne sah, wusste ich, dass sie mich ansah. Es kam einfach niemand anderes in Frage. Nur stellte sich dabei natürlich die Frage, warum ausgerechnet ich? Hatte sie was gegen mich? Hatte ich ihr unabsichtlich irgendetwas getan? Obwohl ich ihr bisher noch nicht mal ansatzweise zu nahe gekommen war? Noch mehr Fragen in meinem ohnehin schon von Ungewissheiten überfülltem Kopf! Das konnte doch echt nicht wahr sein!
In dem Moment ruckte mein Kopf nach hinten. Wirklich gesehen hatte ich nichts, doch irgendetwas war durch die Luft gesaust und hätte mich um ein Haar getroffen. Ich blickte über meine Schulter. An der in weiß gestrichenen Wand war nichts zu sehen und auch auf dem Boden befand sich nichts. Hätte ich in dem Moment nicht einen leisen, kaum vernehmbaren Laut gehört, wäre es mir wohl gar nicht aufgefallen. So aber fand mein Blick die Stelle, an der sich plötzlich ein winziges Loch in die Wand fraß. Säure? Ein ganz schwacher, beißender Geruch stieg mir in die Nase und ich verzog kaum merklich das Gesicht. Entweder Salz- oder Salpetersäure in ziemlich hoher Konzentration. Das Zeug konnte sogar Metalle, bis auf Gold, Silber und Platin vielleicht, zerfressen. Ich wollte gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn ich den Spritzer ins Gesicht oder gar ins Auge bekommen hätte.
Fast automatisch sah ich wieder zu Anika. Dieses Mal sah sie mich an und dieses niederträchtige, eiskalte Lächeln würde ich wohl nicht so schnell vergessen.
Meine Vermutung war bestätigt. Aus welchem Grund auch immer, Anika hatte eindeutig etwas gegen mich. Und das ging so weit, dass sie mir ernsthafte, physische Schäden zufügen wollte. Super. Als hätte ich mit meinen eigenen Gedanken und Rätseln nicht genug zu tun. Hätte sie sich nicht noch etwas Zeit lassen können? Wenigstens bis ich dahinter kam, was diese Scythe Society nun genau war? Nein, wieso auch? Mir tat das Schicksal ja nie Gefallen. Mal davon abgesehen, dass ich an so etwas wie Schicksal nicht glaubte.
„Na, das erinnert mich aber noch an jemand anderen“, murmelte ich so leise, dass selbst Joey mich nicht gehört haben sollte, der mir noch am nächsten war. Train hatte am Anfang ebenfalls versucht mich umzubringen. Apropos, ich war noch gar nicht dazu gekommen, ihn zu fragen, warum er das eigentlich versucht hatte. Wäre ganz interessant gewesen, jetzt wo der nächste Fall scheinbar das Gleiche geplant hatte. Ich musste wohl verdammt vorsichtig sein. Anika schien ja genauso skrupellos wie Train am Anfang, bevor er sich aus einem mir ebenfalls unbekannten Grund geändert hatte.
Ich seufzte. Bei dem Gedankengang wurde mir einmal mehr klar, dass ich mit Train unbedingt mal ein persönliches Gespräch führen musste. Ich wusste nichts über ihn. Gar nichts. Sein Name war Train Phöenix und er war der wahrscheinlich beste Killer, der mir je über den Weg gelaufen war. Aber das war schon alles, was ich über ihn wusste. Zwar würde ich im Gegenzug auch nicht drum herum kommen einiges von mir zu erzählen, doch das würde ich verkraften. Denn ich vertraute ihm eigentlich so weit, dass ich ihm etwas aus meiner abenteuerlichen Vergangenheit anvertrauen konnte, die er ja durch Julie zum Teil schon kennen gelernt hatte. Eigentlich.
In der ersten Pause blieb ich gar nicht lange auf meinem Platz sitzen und ging erstmal runter zu Anja. Als ich dann gerade wieder hoch sah, war ich verwirrt. Ich bekam gerade noch mit, wie Train Anika aus der Klasse zog und mit ihr um die Ecke verschwand. Wums, damit waren sie weg. Noch während ich versuchte den Sinn dessen zu erfassen, was ich da gerade gesehen hatte, bemerkte ich auch Anjas Verwirrung. Da ich sie nicht beunruhigen wollte, setzte ich schnell wieder eine normale Miene auf.
„Was war das denn?“, fragte Anja, die noch immer zur Tür blickte.
„Keine Ahnung, wollen wir nach draußen?“, fragte ich schulterzuckend. Ich hoffte, dass mein Gesichtsausdruck nichts von meiner eigenen Beunruhigung preisgab. Noch war gar nichts los, Train hatte Anika lediglich aus der Klasse gezogen. Das konnte alles Mögliche heißen, auch dass sie einfach mal zur Toilette musste, war im Grunde genommen nicht ausgeschlossen. Dass mein Misstrauen so oder so vollen und ganz aus seinem bis vor ein paar Sekunden herrschenden Schlummer erwacht war, war jetzt sowieso nicht mehr zu ändern. Nur konnte ich das besser verbergen als meine nicht minder vorhandene Verwirrung. Train war der Letzte, dem ich so etwas wie eben zugetraut hatte.
In dem Moment ging Joey an uns vorbei und er wirkte noch bedrückter als er es die letzten Tage ohnehin schon getan hatte. Bevor ich überhaupt weiter darüber nachgedacht hatte, packte ich ihn schon am Oberarm und überhörte seinen verwunderten Protest gekonnt. Ich zog ihn schnurstracks aus der Klasse nach draußen, wo wir am meisten Freiheit hatten. Dort schleifte ich ihn über den Rasen, bis wir an einer Stelle waren, wo kaum jemand hinkam. Nicht weit weg vom Schulgebäude, aber mit ausreichend Abstand zu den anderen Jungen und Mädchen, die ein Stück entfernt Fußball spielten.
„Versuch gar nicht erst dich zu verstellen“, sagte ich ohne Erbarmen und sah Joey aus zusammengekniffenen Augen an, „Was ist hier los?“
„Äh.. ich.. Wovon redest du?“, stammelte Joey, den ich allem Anschein nach gekonnt überrumpelt hatte.
„Das weißt du ganz genau“, sagte ich und meine Stimme wurde zusehends drohender, „Und entweder du redest jetzt mit mir oder ich werde andere Seiten auffahren müssen, die ich zwar nicht befürworte, aber durchaus gebrauche, wenn mir nichts anderes übrig bleibt.“ Ich war gut im Bedrohen von anderen. Das war mir schon früher aufgefallen. Und auch bei Joey zeigte dieses Talent seine Wirkung, denn er wagte es nicht mir weiter auszuweichen.
„Na.. ich.. so genau weiß ich es auch nicht...“, druckste er herum und sah sich unsicher um, als würde er befürchten, dass Train jeden Moment aus irgendeinem Erdloch hervorgesprungen kam, „Train.. scheint diese Anika zu kennen...“
Ich stieß ihn zur Seite und machte noch im selben Moment einen Satz nach hinten. Woher wusste ich nicht, doch als würde der Himmel plötzlich sonst was ausspucken lag jetzt an der Stelle, an der wir eben noch gestanden hatten, ein großer Ziegelstein. Wenn der mich oder Joey am Kopf getroffen hätte, wären wir mindestens im Krankenhaus gelandet. Mit Pech sogar gleich unter der Erde.
„Was...“ Joey schien völlig fassungslos.
„Verdammt nochmal.“ Mit diesem Kommentar sah ich mich um, doch nirgendwo konnte ich die Person entdecken, die es meiner Vermutung nach irgendwie geschafft hatte, dass dieser fußballgroße Ziegelstein mich beinahe erschlagen hatte. Denn dies war zu hundert Prozent nicht gegen Joey gerichtet gewesen, sondern gegen mich. Dessen war ich mir sicher.
„Hey!“ Anja kam zu uns gelaufen. „Was ist denn los? Ihr seht ja ganz schön fassungslos aus.. und wo kommt der Stein her? Der lag doch gestern noch nicht da.“
„Tja.. eine sehr gute Frage“, sagte ich und vertagte in Gedanken das Gespräch mit Joey. Ich würde ihn später noch ausquetschen, wenn Anja nicht dabei war. Allerdings bereitete mir das eben Geschehene auch Sorgen. Nicht wegen mir, sondern wegen derer, die möglicherweise gerade in meiner Nähe waren, wenn der nächste Angriff kam. Und irgendwie zweifelte ich nicht daran, dass er kommen würde.
Den Rest der Pause über wurde ich aber glücklicherweise verschont, auch wenn ich natürlich trotzdem ziemlich misstrauisch war. Meine Sinne arbeiteten zurzeit auf Hochleistung und ich behielt meine Umgebung genau im Blick. Es waren zwar erst zwei Angriffe innerhalb von knapp zwei Stunden, doch das reichte aus um schlimme Befürchtungen in mir zu wecken.
„Ist was, Kate?“ Anja sah mich stirnrunzelnd an, als ich mich zum bestimmt schon über zehnten Mal umsah.
„Nein“, antwortete ich nur und ließ meinen Blick weiter durch die Schüler streifen.
Anja blickte sich daraufhin ebenfalls um, auch wenn wir hier in den Gängen aufpassen mussten, dass wir dabei niemanden anrempelten. Beinahe augenblicklich blieb sie jedoch stehen und fasste dabei auch mich am Arm. Daraufhin sah ich sie nur leicht verwirrt an und zog eine Augenbraue hoch. Anja deutete mit dem Zeigefinger in die Richtung, aus der wir gerade gekommen waren.
Während ich mich umsah, fiel mir auf, dass viele gerade in die Richtung der zwei schauten, die den Gang runter kamen. Als mein Blick sie dann ebenfalls erfasst hatte, verharrte auch ich endgültig in der Bewegung. Ich konnte meine Gesichtszüge kaum an ihren Plätzen halten, so sehr irritierte mich der Anblick, der sich mir bot.
Anika ging, wie sie es anscheinend immer tat, mit stolzem Gang an den anderen Schülern vorbei und hatte einen Arm bei Train eingehackt, der direkt neben ihr lief. Er hielt ihr seinen Arm hin und schien dies sogar freiwillig zu tun. Und genau das verwunderte mich so. Er war der Allerletzte, dem ich zugetraut hätte, freiwillig den höflichen Gentleman zu spielen, der seine Dame ausführte. Dennoch sah es genau danach aus.
„Train...“ Ich hauchte es nur, während er und Anika an mir und Anja vorbeigingen als wären sie schon seit Jahren ein Paar. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er zu mir blicken, doch dann sah er schon wieder Anika an, die ein genüssliches Grinsen im Gesicht hatte. Sie schien ihre helle Freude zu haben.
„Wie? Was soll das denn?“, fragte Anja verdattert, „Hab ich da was verschlafen? Oder sind meine Augen vielleicht nicht mehr in Ordnung? Oder...“
„Du siehst noch klar und deutlich“, seufzte ich und machte Anstalten weiterzugehen, „So wie es aussieht kennen die beiden sich schon länger und.. näher.“
Ich spürte Anjas fassungslosen Blick im Rücken, während sie mir ohne ein weiteres Wort folgte. Dass ich selbst noch ziemlich von der Rolle war, ließ ich mir wie gewohnt nicht anmerken. Aber der Umstand, dass Train und Anika allem Anschein nach schon seit längerem zusammen waren, schockte mich weit mehr als ich erwartet hätte. Es war ein glatter Messerstich mitten ins Herz.
Dabei verwirrte es mich noch weit mehr, dass ich so vollkommen geschockt von dieser Sache war, als die Erkenntnis selbst. Warum traf mich das so sehr? Train und ich waren zwar Partner und vielleicht noch gute Freunde, aber mehr war da doch nicht. Oder lag es an meinem starken Misstrauen gegenüber Anika? Ich wusste es nicht. Mir war nur klar, dass ich langsam wirklich mal was unternehmen musste. Mein Racheplan musste warten, es gab da gerade ein paar ganz andere Dinge, die mich konfus machten.
Train blickte über seine Schulter, ehe er Karins demonstratives Ziehen an seinem Arm spürte und wieder zu ihr sah.
„Na?“ Sie flüsterte und hatte dabei ein hämisches Grinsen im Gesicht. „Wie ist es, wenn man seine Partnerin derart fassungslos sieht?“
Train antwortete nicht. Er blickte stur geradeaus. Die Erinnerung an das, was auf dem Dach passiert war, als er Karin hatte zur Rede stellen wollen, hinterließ immer noch einen galligen Geschmack in seinem Mund.
„Na Trainylein?“ Karin hatte ihn ganz unschuldig angesehen. „Was möchtest du denn von mir? Vielleicht ein Autogramm?“
„Lass den Schwachsinn“, sagte Train und seine Stimme war drohend, „Was willst du hier? Was sollen die Perücke und der falsche Name?“
Karin zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was deine letzten zwei Fragen angeht, das war ein Befehl von oben. Aber was das soll.. ich denke, du weißt es ganz genau.“
Trains Blick wurde finster.
„Hmpf. Na? Sind wir mies gelaunt?“, fragte Karin provozierend und schmunzelte, ehe sie urplötzlich ernst wurde, „Du hast deine Aufträge trotz der ausdrücklichen Warnung von Mister VanDyke ziemlich vernachlässigt. Jetzt wird dein süßes Küken, an dem du so sehr zu hängen scheinst, dafür büßen.“
„Du...“ Train war so sauer wie schon lange nicht mehr. Um ihn herum stieg die Temperatur in rasantem Tempo an und das Gestein unter seinen Füßen schien schon fast zu glühen. Nicht mehr viel und es würde anfangen zu kochen.
Dies schien Karin jedoch nur noch mehr zu amüsieren. „He he, ich hätte dein kleines Herzblatt ja nur zu gerne leiden gesehen, aber leider lauten meine Befehle anders. So lange du brav bist und deine Aufträge erledigst, wird sie nichts zu befürchten haben.“
Train biss die Zähne fest zusammen. „Wo ist der Hacken?“ Ihm wäre nichts lieber gewesen als Karin an Ort und Stelle auseinanderzunehmen, doch leider hätte das mit großer Wahrscheinlichkeit noch viel schlimmere Folgen.
Karin grinste. „Du wirst so tun müssen als wären wir zusammen, als ein P-A-A-R. Als verliebtes Pärchen.“
Bei Train stellten sich schon sämtliche Nackenhaare auf, als er lediglich daran dachte. Leider nur hatte sie ihn fest im Griff. Er konnte vielleicht etwas gegen sie ausrichten, doch dann würden andere kommen und viel Schlimmeres würde passieren. Dafür kannte er VanDyke einfach zu gut. Jeder Fehltritt hatte ein Nachspiel. Und wenn Train jetzt nicht spurte, würde es für Kate ein schreckliches Ende nehmen.
„Mir gefällt das allerdings auch nicht“, bemerkte Karin und hatte wieder diesen kalten Gesichtsausdruck, „Aber Befehl ist Befehl. Sieht so aus, als müsste ich dich für eine Weile Babysitten. Na ja, das wird bestimmt auch lustig.. Wenn du mir nur ein einziges Mal blöd kommst, wird dein Küken dafür büßen.“ Ihr Lächeln war teuflisch. „Und das meine ich ernst.“
Noch am selben Nachmittag verließ ich Haus Nummer 4. Die Sache mit Train konnte ich immer noch nicht so ganz glauben, doch ich hatte es geschafft mir einzureden, dass mich das sowieso nichts anging. Einzig auf Missionen mussten wir als Team funktionieren. Ansonsten war es vollkommen egal, wie unser Privatleben aussah.
Im Moment hatte ich sowieso etwas anderes vor. Und das war, rein theoretisch gesehen, eigentlich ganz einfach. Auf der anderen Seite konnte es jedoch auch ziemlich heikel werden. Wenn ich erwischt wurde, würde es schwer werden, das zu erklären. Außerdem war mir noch nicht ganz klar, wie ich das am besten anstellen sollte. Am passendsten wäre es, wenn einfach ein Fenster geöffnet war. Doch wann war das denn schon mal der Fall? Oder anders, wann hatte ich denn mal Glück?
„Oh.. heute ist wohl eine Ausnahme“, stellte ich überrascht fest.
Tatsächlich stand das einzige, große Fenster vom Büro der Schuldirektorin auf Luke, sprich ich konnte sie belauschen, solange drinnen laut gesprochen wurde. Zweitens war ich darauf gefasst gewesen mir stundlang das leise Klappern von Tasten anhören zu dürfen, doch auch hier schien das Glück ausnahmsweise mal auf meiner Seite zu sein.
Genau in dem Moment, als ich von draußen einen vorsichtigen Blick durch das Fenster im Erdgeschoss warf, betraten Mrs Allison und ein mir unbekannter Mann das Büro. Er war hochgewachsen, trug dunkle Klamotten und hatte aschgraue Haare. Jedoch war ich mir ziemlich sicher, dass er nicht älter als vierzig war. Alleine schon das kam mir seltsam vor.
Außerdem fiel mir auf, dass er eine bedrohliche und mehr als nur furchteinflößende Ausstrahlung hatte, die die Alarmglocken in meinem Kopf zum zweiten Mal an diesem Tag zum Läuten brachte. Genau wie Anika machte er eigentlich gar keinen so gefährlichen Eindruck, doch irgendetwas an ihm war faul. Es war richtig gruselig.
Mehr konnte ich mit dem kurzen Blick durch die Scheibe jedoch nicht erhaschen. Ich hockte direkt unter dem Fenster und spitzte nun die Ohren. Draußen war es nicht sehr laut, der Lärm der Schüler von Rang 1 und 2 blieb zum Glück weiter hinten und drang kaum an mein Ohr. So konnte ich die Unterredung von Mrs Allison und ihrem Gesprächspartner ganz gut mitverfolgen.
„Kommen Sie doch herein, werter Kollege“, sagte Mrs Allison freundlich, „Möchten Sie einen Kaffee?“
„Nein danke“, sagte ihr Gesprächspartner lediglich.
„In Ordnung, dann sollten wir wohl gleich zum Grund Ihres Besuches kommen“, sagte Mrs Allison und das leise quietschen eines Stuhls war zu hören, „Sie sagten, dass es um das Serum 1875-6 ginge, das Phöenix und Randall gestern Abend hier abgeliefert haben.“
„Ganz genau“, sagte der Mann und seine Stimme hatte irgendwie einen unheimlichen Unterton, „Es gab bereits acht positive Fälle in der Versuchsreihe. Zwar gab es auch hunderte Opfer, aber schließlich zählt ja alleine der Erfolg. Von den positiven Fällen sind jedoch gleich zwei von dieser Akademie, während der Rest aus verschiedensten Teilen Europas stammt und ein Glücksgriff war. Daher würde ich mir gerne mal ansehen, wer sich von deinen Schülern für das neueste Serum eignet. Vielleicht bekommen wir ja wieder so ein Wunder zu sehen.“
„Oh.. wollen Sie die gesamte Liste oder die der Besten?“, fragte Mrs Allison.
Ich saß derweil noch immer unter dem Fenster und runzelte schon wieder kräftig die Stirn. Irgendwann würden die Falten noch mal bleiben, darauf wartete ich in letzter Zeit schon fast, doch ich hatte wiedermal so seltsame Dinge gehört, dass ich gar nicht anders konnte.
Serum 1875-6? Was um Himmels Willen hatten Train und ich da von England nach Italien transportiert? Über hunderte Opfer und nur acht positive Fälle? Von was sprachen die beiden? Etwa von Experimenten an Menschen? Ich konnte es kaum glauben. Noch dazu fragte ich mich, um was für eine Art Experiment es sich handelte. Um ein Heilmittel? Nein, viel zu freundlich für die Personen, die da im Büro scheinbar gerade dabei waren die Schülerlisten durchzugehen. Doch was war es dann?
Während meines Gedankenganges verwarf ich eine bescheuerte Idee und Theorie nach der nächsten. Ein besonders absurder Einfall war, dass die beiden vielleicht über Bio-Waffen sprachen. Und zwar nicht über Krankheitserreger oder Giftstoffe, sondern über Menschen, die durch bestimmte Fähigkeiten als solche fungieren. Doch das war unmöglich. So weit war die Forschung nie im Leben. Sonst hätte ich davon schon lange was gehört.
„Hm.. die Merkmale der Schüler sind ungeeignet, solche hatten wir schon in den vorherigen Experimenten“, sagte der Mann als spräche er über ein Sachbuch. Gänzlich ohne Emotionen und nur mit einem leichten, eisigen Hauch in der Stimme.
„Gut, oder besser gesagt nicht gut“, sagte Mrs Allison, die den Mausklicks nach zu urteilen wohl gerade im PC durch die Listen blätterte, „Dann hätte ich hier nur noch die Liste der Stärksten aus der Akademie, die das Potenzial haben eines Tages ein richtiger Auftragskiller zu werden.. Dabei fällt mir ein, ich habe da eine seltsame Mail erhalten, in der die Rede von Silver Rose war.“
„Silver Rose?“
„Sie müssten eigentlich auch schon von ihr gehört haben“, stellte die Direktorin fest und lehnte sich, dem Ächzen des Stuhls nach zu urteilen, zurück, „Sie ist eine Berühmtheit unter den Auftragsmördern gewesen, bis sie vor fast fünf Monaten ganz plötzlich verschwand und man nichts mehr von ihr hörte. Bisher soll sie jeden Auftrag perfekt ausgeführt haben, ohne jemals einen anderen Menschen zu töten, außer ihrem Ziel. An sich ist das ja nichts Besonderes, aber sie soll ihre Zielperson jedes Mal persönlich erschossen haben. Bisher habe ich noch nie etwas davon gehört, dass sie ihr Ziel durch eine Falle getötet hat, wie es ja die meisten von uns machen. Ich weiß zwar nicht warum die anderen das nun so besonders finden, aber...“
„Kommen Sie zum Punkt“, unterbrach der Mann sie kühl.
„Oh, entschuldigen Sie, ich bin vom Thema abgekommen.“ Mrs Allison schien peinlich berührt zu sein. „Jedenfalls habe ich vor etwas mehr als drei Monaten eine Mail bekommen, die mich vermuten lässt, dass sich Silver Rose hier auf der Akademie aufhält.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Der Absender behauptet, dass er uns Silver Rose zurzeit nur überlässt“, sagte Mrs Allison ernst und betonte das letzte Wort besonders, „Außerdem kündigte er an, sie sich bei Zeiten zurückzuholen.“
Der Mann schien nachzudenken, zumindest sagte er nichts.
Ich hockte unterdessen nach wie vor unter dem Fenster. Ein schiefes Grinsen lag auf meinen Lippen und eine Augenbraue verschwand unter meinem Pony. Da hatte wohl doch noch jemand herausgefunden, wo „Silver Rose“ steckte. Dumm gelaufen, das nächste Mal musste ich anscheinend noch gründlicher sein.
„Das klingt sehr interessant“, sagte der Mann auf einmal und alleine schon durch seine Stimme wusste ich, dass er ein kaltes Lächeln auf den Lippen haben musste.
„Also mich beunruhigt die Nachricht viel eher“, bemerkte die Schulleiterin, „Denn wenn das kein Scherz war, würde es bedeuten, dass wir ein gewaltiges Informationsleck haben. In keiner der Akten der Schüler hier taucht der Name Silver Rose auch nur ein einziges Mal auf...“
„Beruhige dich“, sagte der Herr nur unbeeindruckt, „Zurzeit habe ich sowieso mehr Interesse daran, ein neues Versuchsobjekt zu finden, das sich hoffentlich als positiv erweist.“
Das schien das Stichwort für Mrs Allison zu sein, ich hörte einige Tasten klimpern und es wurde ruhig. Scheinbar las sich der Gesprächspartner der freundlichen Direktorin gerade die Liste der stärksten Schüler durch. Die Gelegenheit nutzte ich um einen weiteren Blick durch das Fenster zu riskieren. Da die beiden am Monitor standen, sollten ihre Rücken zu mir gekehrt und damit auch keine Gefahr für mich vorhanden sein. Ich musste nur aufpassen, dass sich meinen Schatten nicht im Monitor spiegelte. Dann war es aus mit meiner kleinen Lauschaktion und ich konnte einpacken, denn dann würde es mir an den Kragen gehen.
Jedoch hielt ich mich ganz nahe am Fensterrahmen und spähte in den Raum. Obwohl es in dem Büro ziemlich warm sein musste und auch Mrs Allison wieder die dünne, dunkellilane Bluse trug, schien der Mann den pechschwarzen Mantel einer freizügigeren Kluft vorzuziehen. Dabei spürte ich ein weiteres Mal, was für eine ungeheure Macht der nette Mister Unbekannt ausstrahlte. Ich konnte mir nicht erklären woran das lag, genauso wenig wie bei Anika, doch mein sechster Sinn und selbst meine übrigen Sinne spürten es mehr als deutlich. Zudem flößte mir dieser Herr auch noch weit mehr Angst ein als Anika es schon geschafft hatte. Wenn ich ihn ansah, lag mir nur ein Wort auf der Zunge: Monster.
„Hmmm...“
„Haben Sie jemanden ins Auge gefasst, Mister VanDyke?“, fragte Mrs Allison sofort.
„Ja.. zumindest habe ich etwas Interessantes gefunden...“ Van Dyke drehte den Kopf und blickte zum Fenster. Gefolgt von dem leicht irritierten Blick von Mrs Allison trat er direkt vor die Scheibe und öffnete sie ganz. Er lehnte sich nach draußen und sah in beide Richtungen, sowie nach oben und unten. Dann lächelte er auf einmal wieder leicht und schloss das Fenster.
„Das Experiment wird dieses Mal im Labor hier auf dem Gelände stattfinden“, sagte er, während er mit wenigen Schritten den Raum durchquerte, „Bereite alles Nötige vor, ich werde mich melden, sobald wir beginnen.“
„Äh.. eine gute Fahrt zurück zum Hauptquartier“, sagte die Direktorin noch, dann fiel die Tür bereits ins Schloss.
Ich starrte Mr Folker ziemlich überrascht an, der mich vor wenigen Sekunden erst am Arm gepackt und von der Rückseite des Lehrergebäudes weggezogen hatte. Kurz darauf hatte ich gehört, wie ein Fenster geöffnet worden war, scheinbar hatte mich der Lehrer vor der Entdeckung bewahrt.
„Du solltest dich bei so etwas nicht erwischen lassen“, bemerkte Mr Folker und wandte sich zum Gehen, „Die Direktorin ist da nicht sehr zimperlich.“
Damit ließ er mich stehen und ich war noch zu überrascht, um etwas darauf zu erwidern. Kam mir das nur so vor oder wurde in letzter Zeit alles schräger? Gerade mit den Informationen, die ich durch die Belauschung von Mrs Allison und dem mysteriösen Mr VanDyke erhalten hatte, wurde ich mir immer sicherer, dass hier wirklich etwas vor sich ging. Denn wenn ich mich gerade nicht verhört hatte – was war ich doch froh über meine selbst gebastelte Wanze, die ich unter dem Fenster angebracht hatte und deren Empfänger in meinem kleinen Ohrring versteckt war – gehörte dieser VanDyke zur Scythe Society. Und das bedeutete auf jeden Fall irgendetwas. Ich konnte nur noch nicht sagen was. Doch es musste etwas Bedeutsames sein, etwas Wichtiges.
Schließlich machte ich mich wieder auf den Weg zurück zu Gebäude Nummer 4. Als ich den Hauptweg betrat, sah ich gerade noch, wie ein grauer Sportwagen vom Parkplatz hinter dem Lehrergebäude schoss und direkt auf das schmiedeeiserne Tor in gut vierzig Metern Entfernung zu hielt. VanDyke sprach von acht positiven Fällen, davon zwei aus dieser Akademie. Ich fragte mich, was wohl mit diesen positiven Fällen geschehen war. Und vor allem: Was genau hatte man mit ihnen angestellt? Diese Frage beschäftigte mich noch am meisten. Zumindest, bis ich gut drei Minuten später vor meinem Zimmer stand.
„Höchst unerfreulich“, murmelte ich und sah die angelehnte Tür mit zusammengekniffenen Augen an. Irgendwer war in meinem Zimmer gewesen. Und das bestimmt nicht nur, weil er sich im Raum geirrt hatte. Schließlich war die Tür normalerweise verschlossen. Also hatte dieser jemand etwas gewollt. Jetzt war die Frage, ob es gut war, dass ich nicht da gewesen war, oder nicht.
Vorsichtig öffnete ich die Tür und sprang gleich wieder einen Satz zurück. Es gab ein lautes Geräusch, als ein bestimmt ein Meter hoher und breiter Eisblock auf den Boden krachte und zu unzähligen kleineren und größeren Eissplittern zerbarst. Hätte mich das Ding erwischt, wäre ich jetzt tot oder hätte einen gebrochenen Schädel. Höchst wahrscheinlich sogar beides.
„Wirklich sehr freundlich.“ Meine Stimme klang resigniert, obwohl mir der Schreck ziemlich im Nacken saß. Da wollte ein gewisser jemand anscheinend sichergehen, dass ich auf jeden Fall starb.
Noch vorsichtiger als eben schon schob ich die Tür ganz auf und lugte misstrauisch ins Zimmer. Soweit ich sehen konnte waren keine weiteren Überraschungen vorbereitet worden. Na ja, wenn ich getroffen worden wäre, wäre alles Weitere sowieso überflüssig gewesen. Allerdings bot sich mir trotzdem ein wenig aufbauender Anblick.
Im Grunde konnte man sagen, dass mein Zimmer einem Schlachtfeld glich. Auf meinem Schreibtisch regierte das Chaos, mein Bett war ziemlich verunstaltet worden, der Schrank hatte auch einiges abbekommen und die Plauderecke, wie ich die Ecke mit dem Kaffeetisch und den gepolsterten Stühlen nannte, war ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden. Zudem hatte sich jemand den Spaß gemacht den Großteil meiner Bücher vom Regal zu nehmen, duzende Seiten herauszureißen und alles dann auf den Boden zu feuern. Zu meinen Füßen lagen außer Büchern und hunderten einzelnen Seiten noch Stofffetzen, die wahrscheinlich von meinem Bettzeug stammten, ein fast völlig zertrümmertes Bild und meine weißen Rosen, die ehemals auf dem Tisch in der unbenutzten Plauderecke standen.
„Da hat sich wohl jemand ausgetobt.“ Ich bückte mich und hob eine der Buchseiten auf. Sie stammte aus einem Roman über Ritter des fünfzehnten Jahrhunderts, ich hatte das Buch mal sehr gemocht. Jetzt war davon nicht mehr viel übrig.
Ein Blick zu den Schubladen und Fächern meines Schreibtisches genügte, um zu sehen, dass die Schutzmechanismen aktiviert worden waren. Bei jeder einzelnen Schublade konnte ich die kleinen Klingen sehen und an einigen entdeckte ich sogar etwas Blut. Zumindest hatte die Falle funktioniert, der Inhalt meines Schreibtisches war unangetastet geblieben.
„Oh mein Gott...“
Ich drehte mich um und erblickte die Vertrauenslehrerin Mrs Lane. In letzter Zeit hatte ich sie nicht mehr gesehen, weshalb es mich etwas überraschte, dass sie ausgerechnet jetzt in der Tür zu meinem Zimmer stand und ziemlich fassungslos wirkte.
„Wollten Sie etwas von mir?“, fragte ich nach einigen Sekunden.
„Äh.. eigentlich nein“, sagte Mrs Lane und wurde ernst, „Ich rufe ein paar Leute, die das Chaos hier beseitigen.. Wer um Himmels Willen war das?“
„Jemand, der mich anscheinend nicht leiden kann“, antwortete ich schlicht und stieg über die Splitter des Eisblocks hinweg, „Und ich denke, dass ich damit schon alleine fertig werde. Ist ja im Prinzip nicht viel. Ich bräuchte nur neue Bettbezüge, Decke und Kopfkissen, da meine in ihrem Zustand ungeeignet sind. Den Rest kann ich selbst beseitigen.“
„Aber.. das kann doch nicht wahr sein“, sagte Mrs Lane, die inzwischen auch das Eis entdeckt hatte, „Es ist ein Wunder, dass dir nichts passiert ist. Ich war eigentlich auf dem Weg zu Leon, aber als ich den Knall gehört habe, bin ich hochgekommen...“
„Und haben das Durcheinander meines Zimmers entdeckt.“ Ich seufzte. „Nichts für ungut Mrs Lane, aber wenn jemand anderes sich durch dieses Zimmer wühlt, habe ich kein gutes Gefühl. Besorgen Sie mir nur neues Bettzeug und vielleicht ein paar Mülltüten, damit tun Sie mir einen größeren Gefallen als wenn sie hier jemanden reinschicken, dem ich auf die Füße treten kann.“
Für bestimmt fünf Sekunden sah mich die Vertrauenslehrerin durchdringend an, doch dann nickte sie. „In Ordnung. Ich denke, dass du das besser beurteilen kannst als ich. Aber wenn du etwas brauchst, sagst du bescheid.“
„Klar.“
Sobald sie verschwunden war, schloss ich die Tür und stöhnte erstmal herzhaft. Noch besser konnte es ja kaum werden. Nachdem ich meinen Blick ein weiteres Mal durch mein Zimmer hatte streifen lassen, begann ich damit meine Rosen zusammenzusammeln. Bei einer der weißen Schönheiten fiel mir auf, dass Blut an ihren Dornen klebte. Wenn mein Verdacht stimmte, war Anika mit dem tödlichen Gift meiner Rose in Berührung gekommen. Das würde allerdings bedeuten, dass sie inzwischen tot war. Doch das konnte ich kaum glauben. Besser gesagt war ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass sie noch lebte. Also war entweder jemand anderes in Kontakt mit der Rose gekommen oder das Gift wirkte bei Anika aus irgendeinem Grund nicht. Woran das lag, konnte ich im Moment nur spekulieren.
Eine von mittlerweile unzähligen Fragen, die durch meinen Kopf geisterten, während ich langsam wieder etwas Ordnung in das Chaos meines Zimmers brachte. Die zerfetzten Buchseiten schmiss ich gleich mitsamt den Büchern, aus denen sie stammten, in einen der Müllsäcke, die mir ein Mann zwischenzeitlich gebracht hatte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er noch nie so ein schon fast katastrophales Durcheinander gesehen. Tja, es schaffte sich halt auch nicht jeder gleich eine Feindin an, die einen nach dem Leben trachtete.
„Dieses Talent habe nur ich“, stellte ich mit einem Seufzen fest und stand auf. Ich hatte es geschafft sämtliche zerstörten Bücher, einzelne Blätter und auch die Überreste des einen Bildes in die Müllsäcke zu verfrachten. Meine Rosen konnte ich noch retten und stellte sie wieder in einer neuen, heilen Vase auf den Tisch in der Ecke. Dass mein Kleiderschrank nun einige dicke Striemen hatte, konnte ich nicht ändern, aber immerhin hatte sich niemand an dem Inneren meines Schrankes vergriffen. Daher ging ich davon aus, dass meine Sicherheitsmaßnahme auch hier funktioniert hatte. Das beruhigte mich wenigstens etwas.
Gegen Abend hatte ich es schließlich auch geschafft auf meinem Schreibtisch wieder etwas Ordnung herzustellen und das Blut von den Schubladen zu wischen. Zum Glück war das Buch, dass die Falle für den Schreibtisch aktiviert hielt, eines der wenigen, die von der Zerstörung verschont geblieben waren. Das Bücherregal sah jedoch trotzdem reichlich leer aus.
Meine letzte Befürchtung hatte ich mir für den Schluss aufgehoben und bewahrheitete sich, als ich die Tür zum Badezimmer öffnete. Auch hier hatte die Unordnung sich an die Macht gekämpft und ein Gemisch aus Duschgel, Haarshampoo, Feuchtigkeitscreme, richtigem und vermeintlichem Parfüm war großzügig auf dem Boden und sogar an den Wänden verteilt. Wäre meine Laune nicht schon vor Stunden an ihrem Tiefpunkt angekommen, wäre sie jetzt wahrscheinlich noch ein ganzes Stück weiter nach unten gerauscht.
Eigentlich hätte ich wütend sein, in Anikas Zimmer stürmen und sie zur Rede stellen müssen, doch irgendwie war ich einfach nur vollkommen kaputt. Dieser Tag hatte es, wenn man die unzähligen Rätsel in meinem Kopf und meine strapazierten Nerven betrachtete, in sich gehabt und mir fehlte einfach die Kraft mich noch mal aufzuregen. Für heute hatte ich weiß Gott genug. Außerdem war ich mir nicht so sicher, ob es wirklich klug wäre, jemandem wie Anika die Meinung zu sagen. So wie ich das sah, wäre das mehr als nur dumm.
„Was soll´s? Morgen ist ein neuer Tag...“ Mit diesen Worten ließ ich mich um halb eins endlich ins Bett fallen. Ich war fix und fertig, dabei hatte ich heute noch nicht mal eine Mission gehabt. Es war zum verrückt werden, wenn man die Kraft dazu aufbrachte.
Der schwarze Sportwagen schoss über die Autobahn auf direktem Weg nach Pescara, einer Stadt an der Nordostküste Italiens. Gegenüber, nicht weit von der westlichen Küste zum Mittelmeer, lag Rom, von dem wir allerdings mehrere tausend Kilometer entfernt waren.
Unser Chauffeur drückte auf Wunsch, den ich mehr als Befehl deuten würde, von unserer netten Begleiterin Anika mächtig auf die Tube. Ich hatte schon so manche Autos neben und hinter uns hupen gehört. Von den über ein duzend beinahe-Unfällen ganz zu schweigen. Ein Wunder, dass noch kein Streifenwagen an unserer Heckstange klebte.
Meine Laune war allerdings schon seit Anika vor einigen Tagen in der Akademie angekommen war auf nimmer Wiedersehen im Keller verschwunden. Außerdem hatte ich böse Vorahnungen bezüglich unseres Auftrags, den wir dieses Mal zu dritt ausführen sollten.
Ich blickte in den Rückspiegel und sah Anika, die ihre langen blonden Haare heute hochgesteckt und wie immer einen überheblichen Ausdruck im Gesicht hatte. Sie saß direkt neben Train und klammerte sich an seinen Arm, während sie mit gelangweiltem Blick auf die Fahrbahn blickte. Mein Teampartner verzog keine Miene und blickte schon die ganze Zeit über stur aus dem Fenster.
Wenn ich ihn sah, brodelte es in mir gefährlich. Während der letzten Tage hatte ich mehrmals versucht mit ihm zu reden, doch entweder funkte Anika dazwischen oder wenn ich ihn mal alleine zu fassen bekam, wich er meinen Fragen beharrlich aus. Keine einzige Antwort hatte ich in den letzten gut sechsundneunzig Stunden erhalten. Das frustrierte mich ungemein. Es hatte fast den Anschein, dass Train mich gar nicht mehr richtig wahrnahm. Als wäre ich irgendein Tier, das ihm zwar gelegentlich über den Weg lief, dem er jedoch keine Beachtung schenken brauchte. Und das machte mich fertig. Da kam ich selbst meinen besten Einredungs- und Verdrängungskünsten nicht mehr gegen an. Es verletzte mich, dass er mir noch nicht mal mehr guten Morgen sagte. Er sagte gar nichts zu mir. Dabei waren wir doch vor kurzem noch fast wie die besten Freunde gewesen. Warum war jetzt so plötzlich alles ganz anders? Was war aus Team Eleven geworden?
Eine gute halbe Stunde später kämpften wir uns durch den Feierabendverkehr von Pescara. Unser Zielort lag beinahe direkt am Yacht-Hafen. Als ich daran dachte, musste ich kurz daran denken, dass über diesen Hafen vor einiger Zeit etwas in den Nachrichten gekommen war. Es hatte mal eine gewaltige Explosion eines Lagerhauses gegeben mit mindestens zwanzig Toten. Schon komisch, dass unsere Mission jetzt ausgerechnet in dieser Gegend stattfinden sollte. Noch seltsamer fand ich es jedoch, dass sich die Direktorin, die bis auf das erste Mal eigentlich immer unsere Missionsbesprechungen übernahm, mit den Informationen dieses Mal ziemlich zurückgehalten hatte. Der Name des Mannes, den wir töten sollten, lautete Justin Sinclair. Er lebte mit einem guten Duzend Männer in einem recht großen Gebäude fast unmittelbar am Yachthafen. Sehr viel mehr wussten wir allerdings nicht. Soweit ich es mitbekommen hatte, war auch die Überwachung kaum erwähnenswert. Also wer auch immer Justin Sinclair war, er war entweder ziemlich leichtsinnig oder rechnete nicht damit, dass jemand kommen und ihn umbringen könnte. Und das konnte verschiedene Gründe haben.
Plötzlich machte der Fahrer eine abrupte Bremsung, bei der ich ohne den Sicherheitsgurt höchstwahrscheinlich an der Frontscheibe geklebt hätte.
„Passen Sie doch auf!“, fuhr Anika ihn sofort wütend an.
„Der gute Mann kann auch nichts dafür, wenn die Ampel rot wird“, bemerkte ich nur trocken und spürte sofort diesen teuflisch kalten Blick im Rücken. Darüber dachte ich jedoch nicht nach, Anika wollte mich so oder so umbringen, also war es im Prinzip egal ob ich sie nun aufregte oder nicht. Von fliegenden Gegenständen, über Gift in meinem Essen oder Trinken bis hin zu Säuren kannte ich mittlerweile viele Arten, wie man jemanden töten konnte. Ohne das jahrelange Training und meinen sechsten Sinn wäre ich inzwischen wohl schon lange unter der Erde.
Manchmal in den letzten Tagen hatte ich mich auch gefragt, wie ich es eigentlich schaffte diese offensichtlichen Mordversuche vor Anja zu verbergen. Zum Glück kaufte sie mir meine mitunter ziemlich absurden Erklärungen und Vermutungen ab. Auch wenn es mir nicht gefiel, sie ständig belügen zu müssen, war es besser für sie. Erstens würde sie sich sonst nur Sorgen machen und möglicherweise noch auf dumme Ideen kommen, und zweitens konnte ich auf diesem Weg hoffentlich verhindern, dass sich Anika auch noch an Anja vergriff. Denn das wollte ich auf gar keinen Fall. Anja war seit über zehn Jahren meine erste beste Freundin wieder und ich wollte sie nicht verlieren.
Nicht wie einen gewissen Jungen, der noch immer nur teilnahmslos aus dem Fenster starrte. Hätte ich nicht so einen eisernen Willen, wären mir bei meiner langsam immer stärker werdenden Verzweiflung bestimmt schon lange die Tränen gekommen.
„Tse, du solltest dich mit deinen Kommentaren nicht so aufspielen“, konterte Anika zickig, „Das haben schon ganz andere bereut.“
„Das glaube ich“, flüsterte ich und seufzte lautlos.
Wenig später hatten wir unseren Zielort erreicht. Ein dreistöckiges Gebäude aus dunkelroten Backsteinen, das schon recht alt aussah, lag nur einen Katzensprung entfernt. Wir stiegen aus dem Auto und der Fahrer fuhr augenblicklich weiter um die Ecke, damit niemand Verdacht schöpfte. Während Anika einfach losging und Train ihr folgte, sah ich mich noch kurz um. Es war jedoch niemand zu sehen und so holte ich rasch wieder zu den beiden auf.
„Wie sollen wir eigentlich vorgehen?“, fragte ich, auch wenn ich fast das Gefühl hatte mit zwei Tiefkühlschränken zu reden, „Wir wissen noch nicht mal, ob Justin Sinclair überhaupt zu Hause ist, geschweige denn wo er sich befindet oder wie es mit der Bewachung aussieht...“
„Wir klingeln einfach“, unterbrach mich Anika und ihr Blick hätte kaum genervter und gelangweilter zugleich aussehen können. Außerdem konnte ich in ihren Augen sehen, wie sehr sie Lust hatte mich umzubringen. Es war schon unheimlich, fast so schlimm wie es bei Train am Anfang gewesen war.
„Sehr lustig.“ Ich konnte Anika nicht leiden. Abgesehen von ihrem Wunsch mich tot zu sehen war es ihr Charakter, den ich am wenigsten ausstehen konnte. Leute wie sie waren das Letzte.
Der Gegenkommentar blieb jedoch aus. Noch bevor ich bis drei gezählt hatte, waren Anika und Train plötzlich mit einem Satz über die Mauer gesprungen und gedachten anscheinend das dreistöckige Haus durch eines der Fenster im Erdgeschoss zu betreten. Gerade als ich ebenfalls über die Mauer gehüpft war, hörte ich ein Scheppern und konnte davon ausgehen, dass die beiden keine Gnade vor dem Fenster gehabt hatten. Jedoch sprang ich keine fünf Sekunden später ebenfalls durch das nun kaputte Fenster und lief hinter den beiden her.
Nur nebenbei gestattete ich meinem Hirn die Bemerkung, dass es zurzeit ganz den Anschein hatte, dass Train und Anika das Team waren und ich der Anhang, der nicht dazu gehörte.
Ich ließ der Bitterkeit über diese Erkenntnis jedoch keine Chance und rannte die Treppe hoch. Auch von innen sah das Haus ein wenig altmodisch aus. Es machte eigentlich einen recht gemütlichen Eindruck, auch wenn ich fast das Gefühl hatte, dass dieses große und vor allem in die Länge gezogene Haus nicht nur als Wohnhaus diente. Durch einige angelehnte Türen konnte ich Schreibtische mit PCs und duzenden Akten sehen. Jedenfalls schien dieser Justin Sinclair irgendetwas zu betreiben, war nur die Frage was. Dass ich höchst wahrscheinlich keine Antwort auf diese Frage erhielt, kümmerte mich jedoch kaum. Ich hatte derzeitig reichlich andere Sorgen im Kopf.
In dem Moment war ein Schuss zu hören und ich beschleunigte mein Tempo. Dann stand ich auch schon in der Tür zu einem etwas größeren Arbeitszimmer. Drinnen standen Train, Anika und ein Mann, den ich auf Mitte dreißig schätzte. Seine Haare waren von einem dunklen Rot und reichten ihm fast bis auf die Schultern. Außerdem machte er einen recht fitten Eindruck und so wie ich das sah, verdankte er es seiner Fitness auch, dass er noch lebte. Er stand ein Stück neben einem hohen Aktenschrank, in dem ich eine Kugel entdecken konnte. Es schien ziemlich knapp gewesen zu sein und da Anika noch immer eine schwarze Pistole erhoben hatte, ging ich davon aus, dass sie geschossen hatte.
„Wer seid ihr?“, fragte Justin Sinclair in erstaunlich ruhigem, wenn auch ernstem Ton. Kurz richtete sich sein Blick auf mich, ehe er wieder zu Anika und Train blickte, der direkt neben ihr stand.
„Das müssen Sie nicht wissen“, blaffte Anika nur und entsicherte ihre Pistole, um ein weiteres Mal zu schießen. Sie schien etwas wütend darüber zu sein, dass sie nicht gleich beim ersten Mal getroffen hatte.
Ich war allerdings noch etwas verblüfft darüber, wie ruhig der Mann vor uns blieb. Schließlich stand die Situation denkbar schlecht für ihn. Jedoch sollte ich schon einen Moment später merken, warum sich Justin Sinclair keine großen Sorgen gemacht hatte.
Gerade als Anika abdrücken wollte, war ein Rattern zu hören und mehrere geheime Türen sprangen auf. Bestimmt fünf Männer standen von einer zur nächsten Sekunde im Raum und schossen mit ihren Maschinenpistolen auf uns. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass wir nicht getroffen wurden, denn die Schützen verstanden etwas von ihrem Werk.
Ich benutzte die offene Tür als Schutz und zog meinen Revolver aus der Tasche. Er lag schwer in meiner Hand, ich hatte dieses Ding von der Akademie nie richtig gemocht. Meine alte Waffe war viel besser gewesen. Allerdings war dies ein ungünstiger Zeitpunkt, um über die Vergangenheit nachzudenken und ich feuerte zwei Schüsse ab, auch wenn ich niemanden traf. Einzig der Schreibtisch, hinter dem Justin Sinclair in Deckung gegangen war, hatte jetzt eine Kugel im Holz stecken.
Plötzlich hörte ich einen lauten Fluch und als ich einen Blick an der Tür vorbei riskierte, sah ich, dass Anika anscheinend von einer der Kugeln gestriffen worden war. Sie hielt sich den Oberarm, während sie mit Train zusammen weiter auswich als gäbe es nichts Leichteres. Der Treffer schien nur Glück gewesen zu sein.
„Verflucht, Rückzug“, knurrte Anika und sprang auf einmal gefolgt von Train aus dem Fenster. Vermutlich landeten sie draußen in einem der Bäume, die neben dem Haus wuchsen.
Ich wollte auch gerade hinterher, als das Feuer prompt nur noch auf mich gerichtet wurde. Wäre ich in dem Moment nicht so blöd gewesen mit dem Fuß umzuknicken, hätte ich kaum ein Problem damit gehabt dem Hagel von Kugeln auszuweichen, doch so fiel es mir schon schwer meinen Knöchel nur zu belasten. Verflucht, verdammt noch mal!
„Stellt das Feuer ein!“
Augenblicklich erstarb der Kugelhagel und ich zog hinter der Tür die Stirn kraus.
„Komm raus“, sagte eine Männerstimme in befehlendem Ton, sie gehörte zu Justin Sinclair, „Du hast keine Chance, also ergib dich freiwillig!“
„Tse.“ Ich verzog das Gesicht. Warum musste mein Fuß ausgerechnet jetzt verstaucht sein?! Es wäre so einfach gewesen mit einem Satz durch das Fenster zu springen und zu verschwinden. Doch das war so nicht mehr möglich. Natürlich konnte ich auch meinen Auftrag ausführen und Sinclair erschießen, nur würde ich dann mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit als Schweizer Käse enden. So ein Mist auch! Warum musste das ausgerechnet mir passieren?
„Sicher deinen Revolver und schieb ihn rüber zum Fenster“, sagte Justin Sinclair, „Sei nicht dumm, Junge.“
Dass mein Gesichtsausdruck trotz der schlechten Lage ein wenig entglitt, konnte ich nicht verhindern. Wieso hielten mich eigentlich alle erst für einen Jungen? Sah ich mit der schwarzen Schirmmütze und dem langen, lavagrauen Mantel wirklich wie ein Junge aus? Die Akademie musste dringend mal eine Änderung der Arbeitsklamotten vornehmen, langsam nervte mich das richtig.
„Und wenn ich es nicht tue?“ Meine Frage klang trotzig.
Ein Schuss erklang und schlug in die Tür.
„Ich möchte nur ungern ein Kind erschießen müssen“, bemerkte Sinclair.
Ich wog meine Chancen ab, doch ich musste leider einsehen, dass ich hier wohl den Kürzeren zog. Die fünf Männer und auch Sinclair schienen alle samt ihres Handwerks mächtig zu sein und ich bezweifelte, dass ich in meinem Zustand gegen alle sechs ankommen würde. Und wer wusste, ob nicht noch weitere Leute irgendwo in den umliegenden Zimmern hockten?
„Das ist meine letzte Warnung“, sagte Sinclair ernst.
Ich stieß ein leises Seufzen aus und gab meinem Revolver einen Stoß, sodass er über den weinroten Teppich bis hin zu Fenster rutschte. Das war das erste Mal in meinen Jahren als Auftragsmörderin, dass ich einen Auftrag nicht ausführen konnte und geschnappt wurde. Irgendwie komisch, wenn ich daran dachte, dass ich mich früher aus viel verzwickteren Lagen befreit und allen immerzu ein Schnippchen geschlagen hatte. Ich war wohl nur noch ein Wrack.
Als einer der Männer mit entsicherter Maschinenpistole die Tür schloss und damit meine Deckung zunichtemachte, saß ich mit dem Rücken an der Wand und angewinkelten Knien auf dem Boden. Dieses Bild von mir am Boden musste schön jämmerlich aussehen, wie ich mit einem freudlosen Lächeln feststellte. Die Mütze lag neben mir auf dem Boden.
„Ein Mädchen!“, stieß der Mann überrascht aus und warf einen Blick zu Sinclair, der hier anscheinend der Chef war.
„Habt ihr ein Problem damit?“, fragte ich trocken und warf den Männern einen kühlen Blick zu.
Auch Sinclair wirkte im ersten Moment ein wenig überrascht, als er meine schulterlangen, orangenen Haare sah. Er und die Männer fingen sich jedoch rasch wieder und ich wurde in den Keller geführt. Es war ein karger Gang, der scheinbar einmal der Länge nach unter dem Haus verlief. Von diesem Gang aus zweiten einige Räume nach rechts und links ab und in einen von ihnen wurde ich gesetzt. Er sah fast aus wie ein Verhörzimmer. Ein Tisch und zwei Stühle aus Metall standen einsam und verlassen in dem in kühlen weiß gestrichenen Raum. Eine grelle Neonröhre bildete die einzige Lichtquelle. Es fehlte im Prinzip nur noch die getönte Scheibe.
Mich setzten zwei Männer mit kurzen braunen Haaren einfach auf einen der Stühle und verließen dann wieder das Zimmer. Kurz hörte ich noch wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, dann wurde es still und ich blieb mit meinen Gedanken allein.
„Also langsam kann es doch kaum noch weiter bergabgehen, oder?“, fragte ich leise, doch die Wand gab mir keine Antwort. Normalerweise hätte schon dreimal versucht das Schloss zu knacken und von hier abzuhauen, doch meine Nerven waren irgendwie schon seit mehreren Tagen am Ende. Ich war so niedergeschlagen wie das letzte Mal bei dem Tod meiner Eltern und mir fehlte einfach die nervliche Kraft, mich jetzt aufzulehnen. Wer wusste schon, was die Männer mit mir vorhatten? Wahrscheinlich würde in spätestens einer halben Stunde der Streifenwagen vor der Tür stehen und ich ins Gefängnis gebracht werden. Immerhin hatte ich versucht diesen Justin Sinclair zu töten.
Dabei fiel mir allerdings auch wieder ein, wie ruhig der Mann gewesen war. Er schien noch nicht mal sonderlich überrascht gewesen zu sein, dass jemand gekommen war, um ihn umzubringen. Doch woran lag das? Auch die übrigen Männer hier schienen über genügend Kampferfahrungen zu verfügen, sodass sie einen der besten Auftragsmörder und seine Begleitung in die Flucht schlugen und mich gefangen nehmen konnten. Ich meine, wäre ich nicht von den ernüchternden Erkenntnissen der letzten Tage ohnehin so fertig gewesen, hätte das Ganze schon anders ausgesehen, aber trotzdem. Wo war ich hier gelandet und wen hatten wir da eigentlich erschießen sollen?
Es dauerte nicht lange, da hörte ich, wie der Schlüssel im Schloss erneut gedreht wurde und ein Mann die Tür öffnete. Ich erwartete einen Polizisten, doch meine Erwartungen wurden enttäuscht. Der Mann blieb allerdings beinahe sofort stehen und sah mich verblüfft an. Meine Miene sah allerdings bestimmt ähnlich verdutzt aus.
„Du schon wieder...“, stellte Mr Iron erstaunt fest, „Also langsam wird es wirklich lächerlich.“
„Das finde ich auch“, stimmte ich zu und meine Augen wurden schmal. Das war nun unerwartet. Wo kam der Typ jetzt wieder her? Was machte er hier? Wieso begegnete ich ausgerechnet ihm schon wieder?
„Na das ist doch mal etwas.“ Iron setzte sich auf den freien Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. „Auch wenn es mich etwas verblüfft, dass ich dich jetzt auf einmal als Gefangene sehe. Die letzten Male bis du doch auch immer davongekommen.. und wo ist überhaupt dein Freund?“
Ich konnte nicht verhindern, dass mein Gesicht etwas von der Bitterkeit in meinem Innern widerspiegelte. „Das geht Sie gar nichts an.“
Iron seufzte daraufhin und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Eine Weile lang sah er mich nachdenklich an, dann sagte er: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich dich schon mal irgendwo gesehen habe.“
Einen Moment lang zog ich nur die Stirn kraus, doch dann fiel mir bei seinen Worten plötzlich ein, dass er vielleicht sogar Recht hatte. Bei einem meiner Aufträge als Silver Rose hatte ich mich mit einem Gleitschirm von einem siebzig Stockwerke hohen Haus schwingen müssen. War ziemlich aufregend gewesen, auch wenn ich hinterher zwar sanft aber etwas unelegant in einem Baum gelandet war, doch mir fiel in dem Moment etwas ein, das ich über die Jahre beinahe vergessen hatte.
Als ich ganz zu Beginn des Fluges noch ein Stück neben dem Gebäude durch die Luft geglitten war, hatte ich an einem der unzähligen Fenster einen jungen Mann Anfang zwanzig gesehen. Wenn ich mich recht erinnerte, war sein Haar blond gewesen und er hatte mich ziemlich verdattert angestarrt. Wer hätte gedacht, dass ich damals womöglich schon dem zu dem Zeitpunkt noch etwas jüngeren Mr Iron das erste Mal vor die Augen gekommen war. Jedoch hatte ich nicht vor, ihm das unter die Nase zu reiben.
„Möglich“, räumte ich allerdings ein, „Und was sind Sie eigentlich? Erst bei dieser Elektronik-Firma, dann bei dem anderen Gebäude und jetzt sind Sie hier. Wer und vor allem was sind Sie wirklich?“
Iron lächelte leicht. „Theoretisch gesehen bin ich wirklich Sicherheitschef, auch wenn ich in den letzten Monaten gleich zwei Mal meine vorübergehenden Arbeitsstellen kündigen musste. Vielen Dank übrigens dafür. Und um deine Frage zu beantworten, ich arbeitete eigentlich als Sicherheitschef für den SIS oder, was dir vielleicht mehr sagt, MI6. Auch wenn wir uns hier zurzeit auf einer Sondermission befinden.“
„Ist Ihr Einsatzgebiet nicht eigentlich England?“, fragte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue, „Wenn die italienische Regierung Sie hier erwischt, sind Sie dran.“
„Deswegen dürfen wir uns ja auch nicht erwischen lassen“, bemerkte Iron mit einem spitzen Lächeln und zwinkerte mir zu.
Ich wunderte mich ein wenig darüber, wie offen er hier mit mir sprach. War das Ganze nicht eigentlich streng geheim? Und jetzt erzählte er mir einfach davon. Mir! Ich war eine Auftragsmörderin und hatte gerade scheinbar versucht den Chef dieser Sondereinheit vom MI6 zu killen! Hallo?! War es nicht zumindest ein kleines bisschen verkehrt, dass er mir da ein ziemlich großes Geheimnis anvertraute?
„Aber inzwischen hab ich es endlich geschafft etwas über euch beide in Erfahrung zu bringen“, bemerkte Mr Iron auf einmal zufrieden, „Du und der Junge.. und demnach wahrscheinlich auch das andere Mädchen stammt von der Arrison Academy, die zurzeit von Ruth Allison geleitet wird.“
Ich versuchte mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen, aber so ganz gelang mir das nicht.
Iron lächelte daraufhin wieder leicht. „Ich muss allerdings zugeben, dass es mich und meine Kollegen einige Stunden Arbeit gekostet hat, das herauszufinden.“
„Schön“, sagte ich nach einer Weile nur, „Und weiter im Text? Sollten Sie mich jetzt nicht eigentlich verhaften oder so?“
„Vielleicht sollten wir das wirklich.“ Mr Iron wirkte bei der Feststellung zu meiner Verwirrung eher belustigt als ernst. „Immerhin wolltest du unseren Chef umbringen. Da solltest du froh sein, dass Sinclair ein sehr netter Mann ist, gerade wenn es um Kinder geht.“
„Ich bin schon lange kein Kind mehr“, stellte ich fest und verschränkte die Arme vor der Brust, während ich mich zurücklehnte. Jedoch wurde mir gerade einigermaßen klar, warum es unser Auftrag war Justin Sinclair umzubringen. Mrs Allison wollte den Mann und die Leute vom MI6 loswerden, die womöglich noch etwas über die Akademie hätten herausfinden können. Auch wenn ich trotzdem noch nicht ganz kapierte, warum wir nicht merken sollten, dass wir den Kopf einer Sondereinheit des MI6 umbringen wollten. Welcher Sinn steckte dahinter?
„Du bist aber auch noch keine Erwachsene“, warf Mr Iron ein und wurde ernst, „Und ich muss zugeben, dass es mich am Anfang ziemlich überrascht hat eine Schule für Auftragsmörder hier in Italien zu finden, als ich zum ersten Mal von meiner neuen Mission hier gehört hatte.“
Ich wartete darauf, dass er fortfuhr und endlich zum Punkt kam. Mein kühler Blick haftete an seiner schwarzen Krawatte, die locker um den Kragen seines weißen Hemdes hing.
Mr Iron seufzte schließlich und stand wieder auf. Er tat einige Schritte und blieb dann an einer der Wände stehen. „Die Arrison Academy.. nach außen hin eine Schule für Hochbegabte und reiche Kinder, nach innen eine Akademie für junge Killer. Ursprünglich wurde sie von der Engländerin Katherine Arrison geplant. Sie gehörte dem MI6 an und wollte eine Akademie für junge Agenten aufbauen. Es kostete sie harte Arbeit und schlaflose Nächte, um den obersten Rat von dieser Idee zu überzeugen. Schließlich hatte sie es aber geschafft. Immerhin war es sinnvoll eine Schule für Agenten in der Hinterhand zu haben. Es würde die Ausbildung stark erleichtern, wenn die angehenden Agenten bereits in dieser Schule alle Grundkenntnisse und einige Erfahrungen sammeln und wir dann nur noch die Ausbildung fortführen mussten. So wurde der Bau der Akademie in Auftrag gegeben. Katherine selbst wollte die Leitung der Schule übernehmen und damit sicherstellen, dass alles richtig von statten ging.“
Ich starrte den Rücken von Iron ungläubig an. Die Akademie sollte ursprünglich als Schule für angehende Agenten dienen? Wenn das wirklich stimmte, warum fand dann jetzt das genaue Gegenteil innerhalb der Mauern der Arrison Academy statt? Und irgendwie kam mir der Name Katherine Arrison auch bekannt vor, nur leider wollte mir wie immer nicht einfallen woher.
„Bevor der Bau der Akademie jedoch überhaupt beginnen konnte, gab es einen äußerst heftigen Streit in der Familie“, fuhr Mr Iron in ernstem Ton fort, „Die einige Jahre jüngere Stiefschwester von Katherine, ihr Name lautet Ruth Allison, tötete sie bei einem Gerangel und nahm die gesamten Baupläne der Arrison Academy mit sich, bevor sie für einige Jahre erstmal untertauchte. Bei uns war natürlich erstmal alles völlig von der Rolle. Der Kopf des Projektes war tot und die Pläne verschwunden. Es gab einiges Durcheinander, doch nach einiger Zeit hörte die Leitung des MI6 von einer Akademie für Hochbegabte und Reiche, die in Italien aufgebaut wurde. Per Satellit wurde der Aufbau verfolgt und allen fiel auf, dass dort gerade die Arrison Academy errichtet wurde. Unsere Akademie! Doch wir konnten nichts dagegen unternehmen, denn die Schule befand sich in Italien und dort haben wir erstens keinerlei Befehlsrecht und zweitens hätten wir dann auch preisgeben müssen, dass wir den Bau einer Akademie für Agenten planten. Somit konnten wir nicht verhindern, dass der Bau fertig gestellt wurde und schon bald die ersten Schüler dort zur Schule gingen. Es war wirklich eine Übernahme wie aus dem Bilderbuch.“
Ich saß auf meinem Stuhl und versuchte mir vorzustellen, wie das damals abgelaufen war. Ruth Allison, unsere Schulleiterin und Direktorin, hatte die Baupläne der Arrison Academy von ihrer eigenen Schwester entwendet und dann selbst den Bau eingeleitet, wenn auch in Italien. Wieso? Außerdem traf es mich irgendwie, dass diese Katherine, wo sie doch im Prinzip nur Gutes wollte, von ihrer jüngeren Stiefschwester getötet worden war. Es war schon traurig, wie die Dinge laufen konnten.
„Es kostete uns einige Mühe und vor allem viel Zeit um herauszufinden, was dort in Italien im Geheimen geschah.“ Iron war inzwischen ein Stück weiter gegangen und sah die Tür an. „Und wir misstrauten der netten Fassade der Akademie zu Recht. Denn ganz anders als wir es geplant hatten, wurden dort nun Kinder zwischen dreizehn und achtzehn Jahren zu Auftragskillern ausgebildet. Am Anfang waren wir ziemlich verwirrt darüber, dann begannen wir damit zu recherchieren und fanden heraus, dass die Leitung der Akademie, die natürlich aus Ruth Allison und ein paar uns zurzeit immer noch unbekannten Männern besteht, in irgendeiner Weise mit der Scythe Society zusammen arbeitet. Diese Organisation arbeitet irgendwo in den Schatten der Welt und selbst unsere besten Leute konnten nach jahrelanger Beobachtung nicht feststellen, was genau dort betrieben wird.“
Einiges von dem eben genannten kannte ich bereits, anderes war mir neu. Jedoch verstand ich so langsam die ganzen Zusammenhänge. Zwar hatte ich noch immer ein ziemliches Wirrwarr von Fragen in meinem Kopf, doch langsam kam wenigstens etwas Ordnung und Klarheit in meinen Gedanken-Salat.
Nun wandte sich Mr Iron wieder mir zu und sah mich mit eindringlichem Blick an. Seine Augen waren dunkel, ähnlich wie meine, und in seinem Blick lag ein seltsames Funkeln. „Wir wollen die Arrison Academy zurück. Aus diesem Grund ist unsere Sondereinheit jetzt schon seit einiger Zeit hier und behält die Akademie und ihr Treiben im Auge. Bisher kommen wir nur einfach nicht nah genug heran und es ist für uns so gut wie unmöglich dort jemanden von unseren Leuten einzuschleusen. Und viele andere Möglichkeiten haben wir nicht, denn die gesetzmäßige Lage in diesem Land lässt uns keine weiteren Ausweichmöglichkeiten als irgendwelche geheimen Operationen.“
Meine Augen wurden schmal. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie irgendetwas mit mir vorhaben.“
Nun lächelte Iron kurz wieder leicht, doch dann nahmen seine Züge erneut einen ernsten Ausdruck an. „Dies ist noch nicht alles. Das, was ich dir bisher erzählt habe, dürfte dir wahrscheinlich zum Teil schon bekannt sein.. aber es gibt da etwas, das du vielleicht auch wissen solltest.“
Er zog ein Foto aus der Brusttasche und legte es vor mir auf den Tisch. Abgebildet war eine Frau Anfang dreißig, die lange, kupferfarbene Haare und dunkle Augen hatte. Als ich das Bild so betrachtete, weiteten sich meine Augen.
„Du könntest ihr Spiegelbild in etwas jüngerer Fassung sein“, sagte Iron, „Ich weiß nicht, ob du dir schon mal deinen Familienstammbaum angesehen hast, doch nur zwei Generationen zurück taucht der Name Katherine Arrison in ihm auf. Ihre Tochter – deine Mutter – hatte nur den Namen ihres Mannes angenommen, der mit Nachnamen Randall hieß. Deswegen fällt es vielleicht nicht sofort auf, doch du stammst in direkter Linie von Katherine Arrison ab. Dein Name wird schließlich auch von Katherines abgeleitet. Du bist praktisch ihre Nachfolgerin, Kate Randall. “
Ich starrte das Bild immer noch nur ungläubig an. Dass er inzwischen meinen Namen herausgefunden hatte, schockte mich nicht annähernd so sehr wie die Erkenntnis, dass ich von dieser Katherine Arrison abstammte. Ich, eine Auftragsmörderin, stammte von einer Agentin des MI6 ab. Sie war meine Großmutter! Dieser Umstand verschlug mir für einige Sekunden erstmal die Sprache.
„Ich weiß, dass wir dich nicht dazu zwingen können zu uns überzulaufen“, sagte Iron und nun glaubte ich fast so etwas wie Mitleid in seinen Augen zu sehen, „Aber ich bitte dich im Namen der gesamten Einheit darum, dieses eine Mal mit uns zusammenzuarbeiten. Es wäre für dich so etwas eine Familiensache. Außerdem können wir es in dem Fall auch sogar rechtlich vertreten, dass du wegen des Attentats nicht eingesperrt oder der Polizei übergeben wirst, sondern weiterhin auf freiem Fuß bleibst.“
Ich beobachtete diesen Mr Iron eine Weile lang ohne etwas zu sagen. Doch so sehr ich auch suchte, ich fand keine Anzeichen dafür, dass er mir etwas vorgaukelte. Er meinte es ernst. Die Geschichte und auch seine Bitte.
Ich konnte es kaum glauben. Wir arbeiteten auf völlig verschiedenen Seiten des Gesetzes, eigentlich sollte er mich für das, was ich tat, verabscheuen, doch ich entdeckte keinerlei Anzeichen dafür. Nur ein ganz leichter Ansatz von Mitleid lag in seinen ersten Augen.
Da fiel mir ein, dass er, wenn diese MI6 Einheit meinen Namen herausgefunden hatte, wahrscheinlich auch meine Geschichte kannte. Und damit auch den Vorfall, der mich meine Familie gekostet und zur Auftragsmörderin gemacht hat, auch wenn Letzteres wohl nicht in den öffentlichen Berichten stehen dürfte. Schließlich war ich offiziell nur ein ganz normales Mädchen, das vor kurzem auf eine Akademie für Hochbegabte gewechselt war. Nicht mal Mrs Lester, mein Vormund, wusste von meinem Treiben. Der MI6 musste also wirklich gut sein, wenn sie mich als Auftragsmörderin und meine Scheinidentität in Verbindung gebracht hatte. Ich war mir nur noch nicht sicher, ob sie auch wussten, dass ich eine Zeit lang zu den berühmtesten Auftragskillern der Szene gehört hatte. Ich hoffte es allerdings nicht. Ein paar Geheimnisse hatte ich gerne um mich, sie schützten mich und gaben mir Sicherheit.
„Sie wollen also, dass ich die Akademie von innen infiltriere und mich daran mache ihre Geheimnisse aufzudecken“, stellte ich schließlich mit gelassener Stimme fest, auch wenn es mir innerlich noch immer schwer fiel das zu glauben, „Und das, was ich herausfinde, soll ich der Einheit irgendwie zukommen lassen, damit letztlich erreicht wird, dass die Arrison Academy rechtlich wieder dem britischen Geheimdienst gehört.“
„Das fasst den Plan zusammen“, sagte Iron und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand gegenüber von mir, „Uns fehlt wie gesagt nur jemand, der ausreichend Fähigkeiten besitzt in einem Nest voller Feinde zu überleben und in der Lage ist diese heikle Mission auszuführen.“
„Und warum ausgerechnet ich?“, fragte ich kühl, „Ich bin immerhin schon seit Jahren eine Auftragskillerin. Ich könnte das Angebot auch annehmen, zur Akademie zurückgehen und nie mehr etwas von mir hören lassen.“
„Dessen bin ich mir bewusst und dessen ist sich auch Justin Sinclair bewusst“, sagte Iron, „Aber dieses Risiko müssen wir eingehen, wenn wir auch nur die Aussicht haben wollen, die Akademie eines Tages wieder in unseren Händen zu sehen. Und es geht ja auch nicht nur um das Gebäude und unsere Ehre, sondern auch um die Kinder dort.“
„Stimmt, die meisten kapieren gar nicht, dass das bitterer Ernst ist“, stellte ich fest, „Kaum einer von denen dürfte in der Lage sein wirklich einen Menschen zu töten.“
„Das haben wir uns auch gedacht.“
Ich überlegte. Soweit ich das verstanden hatte, würde meinen Mitschülern dort nichts passieren. Also war die Idee des MI6 theoretisch gesehen für die Kinder das Beste. Dennoch war ich mir nicht ganz sicher. Wahrscheinlich lag es an meiner Ehre als Auftragskillerin, wenn wir denn so etwas wie Ehre besaßen, aber ich wusste noch nicht, ob ich die Akademie wirklich verraten wollte. Meine derzeitige Gefühlslage war zwar am Boden, doch das musste ja nicht unbedingt immer so bleiben.
Nach einigen Minuten, in denen geschwiegen wurde, seufzte Iron. „Überleg es dir. Ich habe dich für diese Mission vorgeschlagen, weil ich bereits gesehen habe, zu was du fähig bist. Du bist einer der Besten deines Fachs und ich glaube, du hättest auch großes Potenzial als Topagentin, doch das ist für dich wahrscheinlich nicht akzeptabel. Aber du bist aus meiner Sicht die Einzige, die uns helfen kann die Arrison Academy wieder zurückzubekommen. Deiner Fähigkeiten wegen und weil du bereits in der Akademie bist. Wie gesagt, überleg...“
Plötzlich fiel die Tür auf und gleich drei jüngere Männer stolperten ungelenk in den Raum. Alle drei waren vielleicht etwas über zwanzig, also noch ziemlich jung, wie ich etwas verirrt feststellte.
„Wo kommt ihr denn her?“, fragte Iron, der auch etwas überrascht wirkte und die Stirn in Falten gezogenen hatte, „Solltet ihr nicht eigentlich oben bei euren Aufgaben sein?“
„Na.. ja, aber zurzeit ist nicht viel los und Mr Rickson hat uns gestattet uns etwas zu entspannen, solange wir in Bereitschaft bleiben“, erklärte einer der Männer und sah dann Hilfe suchend zu seinen Kollegen.
„Tja.. und das ist unser erster Außeneinsatz...“, druckste ein anderer Mann verlegen herum, während sein Blick langsam zu mir wanderte, „Und wir haben noch nie eine richtige Auftragskillerin von nahem gesehen.. und jetzt ist eine hier...“
Der dritte Mann schwieg gänzlich und schien genauso verlegen zu sein wie die anderen zwei. Iron schien zu überlegen, was er darauf erwidern sollte.
„Ihr hört euch an wie Kleinkinder, die auf der Suche nach ihren Weihnachtsgeschenken ertappt wurden“, stellte ich jedoch trocken fest, „Seid ihr wirklich erwachsen?“
Die Männer sahen mich überrascht und mit großen Augen an. Bei ihren Blicken hätte ich beinahe angefangen zu lachen, so erschrocken und neugierig zugleich wirkten sie.
An meiner Stelle lachte jedoch Mr Iron, der die Gesichter der drei jungen Männer natürlich ebenfalls bemerkt hatte. „Keine Angst meine Herren, unser Gast ist ganz anders als die skrupellosen Kerle, die Sie sich immer vorstellen und die es sicher auch gibt.“
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Verharmlosen sollten Sie mich lieber nicht, Iron, ich bin vielleicht noch jung und ein Mädchen, aber...“
„Du bist trotzdem sehr gefährlich, Kleine“, sagte Mr Iron schmunzelnd, „Du erinnerst mich irgendwie an meine Nichte, sie ist auch eigentlich eine ganz Liebe, tut aber immer so als wäre sie unausstehlich.“
Mein Gesichtsausdruck wurde finster, auch wenn ich innerlich wiedermal die Stirn runzelte, weil mir dieser Mann einfach suspekt war. „Passen Sie auf, was Sie sagen.“
„Schon gut“, sagte Iron und blickte dann zu den drei Männern, „Möchte einer von Ihnen mit ihr reden? Ansonsten würde ich vorschlagen, dass wir uns einen Kaffee holen und mit der Arbeit weiter machen.“
Kurz redeten die drei leise miteinander, dann warfen sie mir nochmal interessierte Blicke zu, ehe sie wieder im Gang verschwanden.
„Diese jungen Agenten überraschen einen immer wieder“, stellte Iron kopfschüttelnd fest, „Na ja, aber ich verabschiede mich jetzt auch von dir, Kate. Denk noch mal über das nach, worüber wir gesprochen haben.“ Damit wollte er zur Tür raus.
„Was glauben Sie, welche Farbe mir am besten steht?“ Ich wollte noch herausfinden, ob er mich möglicherweise früher oder später doch als Silver Rose erkennen würde. Immerhin hatte ich damals mein Markenzeichen, eine silberne Rose, hinterlassen und soweit ich ihn einschätzte, sollte er in der Lage sein eins und eins zusammenzuzählen und das Mädchen mit dem Gleiter als Silver Rose zu identifizieren.
„Hm...“ Iron schien nachzudenken. „Dunkelblau würde dir sicher gut stehen, besser als dieser triste Farbton deines jetzigen Mantels.“
Irgendwie musste ich lächeln. „Dann kennen Sie wohl auch ein Geheimnis, das selbst die Akademie nicht kennt.“
Mr Iron runzelte die Stirn und sah mich fragend an, doch ich sah nur schmunzelnd die Wand an. Ich wollte diesen Typen auch mal verwirren, dieses Spiel hatte er schon oft genug mit mir gespielt, jetzt war ich auch mal dran.
Schließlich verließ er den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Abschließen tat er jedoch nicht.
Ich wartete einige Minuten lang, doch es kam auch keiner mehr, um die Tür richtig zu verschließen. Meine Stirn lag in Falten und ich betrachtete diese Tür, hinter der praktisch meine Freiheit lag. Wieso hatte Iron sie nicht verschlossen?
Die einzige Möglichkeit erschien mir so unlogisch, dass ich zunächst nicht daran glaubte, doch schließlich öffnete ich einfach die Tür und schritt durch den Gang. Wahrscheinlich überließ Iron mir die Entscheidung, ob und wann ich gehen wollte. Und anscheinend ließ er mir auch die Wahl, ob ich dem MI6 helfen wollte oder nicht. Ich wusste nicht, was er sich davon vielleicht erhoffte. Und auch wenn ich mir nicht sicher war, was ihn dazu bewog, hatte ich mittlerweile das Gefühl, dass er ein guter Mann war. Es war echt krass. Er hatte mich bereits einmal fast getötet und dennoch mochte ich ihn. Das war so unglaublich wie Schnee im Sommer.
„Obwohl, vielleicht gerade deswegen ist es im Bereich des Möglichen“, räumte ich mit einem schiefen Lächeln ein.
Als ich aber über die Treppe wieder im Erdgeschoss ankam, war ich doch ein wenig misstrauisch. Ich wartete darauf, dass jemand versuchte mich aufzuhalten. Doch auch als ich den Empfangsraum vor der Haustür erreicht hatte, war noch niemand gekommen um mich zu stoppen. Ich hatte sogar Justin Sinclair von etwas weiter weg gesehen, wie er mit einigen Akten in der Hand ein Stück durch den Flur gegangen und in einem der Zimmer verschwunden war. Eigentlich hätte er mich sehen müssen und wenn er es getan hatte, machte er sich scheinbar keinerlei Sorgen darüber, dass ich nochmal versuchen könnte ihn umzulegen. Echt seltsam. Alle miteinander.
Ich blickte zu einer Treppe, über die man auch gleich von hier aus in die oberen Stockwerke gelangen konnte. Dort oben mussten die restlichen Männer gerade bei ihrer Arbeit sein. Bei der Überwachung der Akademie und ihrem Tun. Es musste für die Leute ganz schön frustrierend sein, die Schule nur einige hundert Kilometer weiter zu beobachten und zu wissen, dass sie eigentlich dem Geheimdienst gehörte und zurzeit aber von ihren Feinden geleitet wurde. Sie taten mir schon fast leid.
Während ich das Grundstück wieder verließ und ein wenig durch die Straßen von Pescara schlenderte, musste ich auch wieder an diese Katherine Arrison denken, die scheinbar meine Großmutter war. Eine Agentin des MI6. Und ich war eine Auftragskillerin. Bei den Gedanken zog ich eine schiefe Grimasse. Schon komisch, dass eine Agentin und eine Killerin aus der selben Familie stammen konnten. Hätte mir das früher jemand erzählt, hätte ich ihn ausgelacht.
Doch nun war mir nicht nach Lachen zu mute. Die Sache mit Train und überhaupt die ganze Geschichte der letzten Tage lag schwer auf mir und meinem Gemüt. Ich hielt vieles aus. Eigentlich war ich immer eine Meisterin gewesen, wenn es um das Aushalten von nervlichen Strapazen ging. Allmählich aber hatte ich wirklich das Gefühl, dass es zu viel wurde. Ich begriff, was es bedeutete, wenn einem eine Sache über den Kopf wuchs. Kein schönes Gefühl.
Schließlich hatte ich genug vom Laufen, rief mir ein Taxi und ließ mich zurück in die Nähe der Stadt bringen, deren Namen ich mir immer noch nicht merken konnte. Der Fahrer schien mein halb italienisches, halb englisches Gebrabbel jedoch zu verstehen und brachte mich so zurück zur Akademie.
Als ich dort ankam, wurde es jedoch schon dunkel und ich war mir auch nicht ganz sicher, was mich erwartete. Schließlich hatten Train und Anika mit Sicherheit gemerkt, dass ich geschnappt worden war. Was hatten sie also erzählt, als sie alleine wieder zurückgekommen waren?
Zunächst schien jedoch alles wie immer zu sein. Ich betrat die Akademie ganz normal durch das Tor und die sonst so unfreundlichen Wärter nickten mir zu. Auch als ich über den Weg auf Haus Nummer 4 zu ging, war alles so wie ich es kannte. So langsam entspannte ich mich auch wieder. Denn wer auch immer hier für die Sicherheit der Akademie zuständig war, hatte bestimmt schon bemerkt, dass ich zurück war. Also schienen sie jedenfalls nicht zu planen, mich sofort zu verhören. Das war schon mal angenehm.
Schließlich kam ich bei Haus 4 an und blickte hoch zu meinem Balkon. Mein Blick blieb jedoch ein Stück weiter rechts hängen. Train saß dort auf seinem Balkongeländer und starrte mich an. Zu viele Emotionen lagen in seinem Blick, um sie alle auseinanderzuhalten und seine Lippen bewegten sich kurz. Wenn mich nicht alles täuschte, formten sie meinen Namen.
Ich sah ihn an und versuchte seinen Blick zu deuten. Irgendetwas schien er mir sagen zu wollen, ganz anders als in den letzten Tagen, wo er mich noch nicht mal beachtet hatte. Dann drehte er jedoch plötzlich den Kopf und neben ihm tauchte Anika auf. Kurz wirkte sie etwas erstaunt, doch dann hatte sie wieder ein heimtückisches Grinsen im Gesicht, nahm Train am Arm und zog ihn in einer übertriebenen Geste mit sich nach drinnen.
„Train...“ Die Trauer und Verwirrung in meiner Stimme waren nicht zu überhören. Was war nur los? Warum weigerte er sich mir auch nur ein Wort zu sagen? Warum ging er nun mit Anika? Ausgerechnet mit Anika?
Mit jeder Stufe nach oben in den dritten Stock schienen meine Sorgen und total verworrenen Gedanken schwerer zu werden. Zwar kannte ich nun die Geschichte der Arrison Academy und hatte auch ein paar für mich sehr wichtige Informationen bekommen, doch an meinen Problemen hatte sich nichts geändert.
Genau deshalb hatte ich es in den vergangenen Jahren vermieden Freundschaften einzugehen. Es schmerzte jedes Mal wieder, wenn man einen Freund verlor.
Als ich mich gerade auf mein Bett fallen lassen wollte, klopfte es an der Tür. Kurz zog ich eine Augenbraue hoch, dann öffnete ich. Vor der Tür stand Mrs Lane, unsere Vertrauenslehrerin.
„Guten Abend, Kate“, sagte sie mit einem matten Lächeln. Ihre Miene kam mir gleich verdächtig vor. Sie schien etwas unsicher und auch wie sie mich ansah, sagte mir, dass ich gleich irgendetwas hören würde, was ich nicht hören wollte. „Könnte ich kurz rein kommen?“
„Natürlich“, sagte ich nur und ließ die Lehrerin herein.
„Train und Anika haben bereits berichtet, dass es eine schwerwiegende Unterschätzung der Personalschaft bei eurem Auftrag gab und ihr euch deshalb zurückziehen musstet“, sagte Mrs Lane und setzte sich auf einen der Stühle in der Plauderecke, während ich meinen Schreibtischstuhl vorzog, „Du wurdest dabei von den beiden getrennt.. stimmt das?“
Ich war noch etwas verwirrt, doch dann kam mir die vage Idee, dass Train möglicherweise gelogen und nicht erwähnt hatte, dass ich gefangen genommen war. Wieso er das getan hatte und weshalb Anika, die mich schließlich hassen musste, das einfach hingenommen hatte, wusste ich nicht. Es war jedoch erstmal besser so.
„Ja.. Es hat nur eine ganze Weile gedauert einen Taxifahrer zu finden, der Englisch versteht. Sonst wäre ich schon früher wieder hier gewesen.“ Da Train diese Ausrede gewählt hatte, musste er damit gerechnet haben, dass ich mich rasch aus meiner „Gefangenschaft“ befreien würde, sprich er ging das Risiko ein, dass man herausfand, dass er gelogen hatte. Ich wusste nicht, was ich darüber nun wieder denken sollte. Hatte er darauf vertraut, dass ich es hinkriegen und zurückkommen würde?
„Achso, dann ist ja alles gut“, sagte Mrs Lane und kurzzeitig klang sie erleichtert, ehe sie auf einmal wieder ernst wurde, „Auch wenn ich dir noch eine Mitteilung machen muss.“ Sie schwieg eine Weile.
„Wenn Sie noch länger brauchen, nehm ich mir ein Buch für die Wartezeit“, bemerkte ich trocken. Mir war nicht danach zu mute länger zu warten als unbedingt nötig.
„Es tut mir leid“, sagte Mrs Lane, die sich nun sichtlich unwohl fühlte, „Aber für dich wird es erstmal keine Aufträge mehr geben. Team Eleven wird bis auf Weiteres aufgelöst.“
Ich starrte die Vertrauenslehrerin ungläubig an. Mit so ziemlich allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit.
Sie erwiderte meinen Blick und ich konnte das Mitgefühl in ihren Augen sehen. „Ich weiß nicht, was Train dazu bewogen hat dies zu fordern, aber vorerst will er wohl mit Anika auf Missionen gehen.. Es tut mir leid.“
„Wieso entschuldigen Sie sich?“, fragte ich tonlos, „Sie haben nichts Falsches getan.“
„Ich hätte versuchen sollen, mit ihm zu reden“, sagte Mrs Lane niedergeschlagen, „Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Er wirkt jetzt schon seit einigen Tagen wieder so wie in der Zeit, als du noch nicht auf der Akademie warst. Er ist wie eine andere Person, ich...“
„Würden Sie sich die langen Reden bitte sparen und mich allein lassen?“ Ich sah dabei nicht auf.
Mrs Lane fragte gar nicht, was mit mir war. Sie schien auch zu verstehen, dass ich im Moment nicht aufgeheitert werden wollte und auch keine gut gemeinten Ratschläge brauchte. Ohne ein Wort stand sie auf und verließ mein Zimmer.
Ich wankte daraufhin nur einige Schritte geradeaus und ließ mich auf mein Bett fallen.
„Wie war das doch gleich? Ein Unglück kommt selten allein? Wer auch immer das mal gesagt hat, hat verdammt recht.“ Ich vergrub mein Gesicht in dem dicken Kissen und schluchzte lautlos. Das war nun endgültig zu viel für mich. Selbst meine Nerven aus Stahlseil waren irgendwann zu überlastet und rissen.
Am nächsten Morgen zog ich mich wie mechanisch an. Gestern noch hatte ein wahrer Sturm in meinem Kopf getobt, doch seit heute Morgen herrschte Stille in meinen Gedanken. Es war als wären sie eingefroren. Ich hatte keine Lust mehr all die bitteren Erkenntnisse der letzten Tage ein ums andere Mal wiederzukauen, ich war schließlich keine Kuh. Und irgendwann reichte es mir. Sollte Train doch machen, was er wollte. Ich hatte keine Lust mehr mir darüber den Kopf zu zerbrechen.
„Guten Morgen.. Kate.“ Anja sah mich stirnrunzelnd an, als wir uns wie immer auf dem Weg trafen. Sie schien zu bemerken, dass ich nicht ganz da war.
„Morgen“, sagte ich nur und ging weiter.
Anja beeilte sich mir zu folgen. „Was ist los?“
„Nichts.“
„Wenn nichts wäre, würdest du nicht so gucken“, sagte Anja eindringlich, „Willst du nicht darüber reden?“
„Nein.“
„Wenn es wegen Train ist, ich bin mir sicher, dass es da eine ganz einfache Erklärung für gibt“, sagte Anja beharrlich, „Das wird schon wieder werden, immerhin seid ihr ein Team...“
„Es gibt kein Team“, sagte ich tonlos, „Das Team, das mal existiert hat, wurde gestern Abend aufgelöst.“
Anja starrte mich beinahe fassungslos an, sie schien das Gesagte kaum glauben zu können.
Ich ging jedoch einfach weiter. „Und du brauchst mir darüber keine Vorträge zu halten. Ich kann damit leben und es geht mich ja im Prinzip auch nichts an, mit wem Train ein Team bilden will und mit wem nicht. Lass mich mit dem Thema einfach in Ruhe.“
„Aber...“ Anja schüttelte den Kopf und lief mir hinterher. „Aber das kann doch nicht sein Ernst sein?! Ihr seid doch Freunde und alles hat doch prima funktioniert.. Wieso soll jetzt auf einmal...“
„Scheinbar ist Anika besser als ich“, stellte ich mit ausdrucksloser Stimme fest.
„Das glaube ich einfach nicht“, sagte Anja, „Das glaube ich einfach nicht!“
„Du solltest es glauben, denn es ist so.“
„Nein!“ Anja stellte sich vor mich und sah mir mit ernstem Blick in die Augen. „Du darfst nicht so schnell aufgeben! Es muss einen Grund dafür geben, wieso er das alles macht. Und bestimmt hängt das irgendwie mit dieser Anika zusammen.. Ich weigere mich zu glauben, dass die ganzen vergangenen Monate nur ein Trugbild waren. Es muss etwas passiert sein. Du...“
„Anja...“ Meine Stimme klang ein wenig gequält. „Vielleicht magst du Recht haben, aber irgendwann bin auch ich am Ende...“
„Moment mal“, unterbrach mich Anja und ihr Blick war forschend, „Heißt das, in den letzten Tagen ist noch mehr passiert? Du hast mir doch irgendetwas verschwiegen, nicht wahr? Diese ganzen komischen Geschehnisse.. waren keine Zufälle...“
Ich wollte darauf nicht antworten und schob mich an ihr vorbei.
„Kate!“, rief Anja, „Wenn du nichts tust, wird sich nichts ändern! Bitte! Du musst aufhören nur zuzusehen! Unternimm was! Das ist doch nicht mehr mitanzusehen!“
„Lass mich in Ruhe!“, schrie ich voller Verzweiflung und rannte los. Ich ließ meine wahrscheinlich beste Freundin einfach stehen und rannte auf das Schulgebäude zu. Der Sturm in meinem Kopf war zu neuem Leben erwacht und ich kämpfte verbissen gegen die Tränen an. Verdammt! Verdammt, verdammt, VERDAMMT! Warum war ich so machtlos? Und Himmel nochmal wieso hatte ich mich bloß darauf eingelassen?! Ich hätte diese Freundschaft niemals zulassen sollen. Ich hätte am besten gar nicht auf diese Akademie kommen sollen. Das hätte mir das alles erspart.
„Kate!“ Mr Walker, der schon seit einigen Minuten mit dem Unterricht angefangen hatte, runzelte die Stirn. Das Mädchen in der hintersten Reihe rechts am Gang reagierte einfach nicht und starrte nur mit leerem Blick auf ihr Buch. Und auch ihre Freundin, Anja, war nicht bei der Sache. Genauso wenig Train und auch Joey war nicht ganz beim Thema. Walkers dunkellilane Augen verdunkelten sich ein wenig, als sein Blick kurz zu dem Mädchen wanderte, das vor Train saß und mit zufriedenem Blick aus dem Fenster sah. Dabei regnete es draußen.
Anja überlegte verzweifelt, wie sie mir helfen konnte. Doch das war alles andere als leicht, gerade da ich einfach nicht darüber reden wollte, was mich bedrückte. Und hellsehen konnte Anja nicht, obwohl sie sich zurzeit nichts sehnlicher wünschte als dies zu können. Auch Train war komisch, er war nicht annähernd so nett wie bis vor kurzem noch und von dem kecken Jungen, der er gewesen war, war keine Spur mehr zu sehen. Es war wie verhext. Seid diese Anika hier war, war alles anders. Alles war durcheinander geraten.
Anja hatte durchaus bemerkt, wie ich mich im Laufe der letzten Woche immer seltsamer benommen hatte. Zudem waren auch noch diese komischen Vorfälle aufgetreten, bei denen ich mehrmals ernste Verletzungen hätte davontragen können. Anja hatte meine lahmen Erklärungen nicht eine Sekunde lang geglaubt, auch wenn sie so getan hatte als würde sie es tun. Es frustrierte sie, dass ich ihr nichts von meinen Problemen erzählen wollte. Und es machte sie traurig.
Joey versuchte sich mit dem Unterricht abzulenken, doch es ging einfach nicht. Seit er den Auftrag bekommen hatte, mich zu töten, tat er nachts kaum ein Auge zu. Als jetzt auch noch diese Anika hier her kam, die eindeutig zu den Leuten von der Spezialeinheit der Scythe Society gehörte, war es endgültig aus mit seinen ruhigen Nächten. Zwar schien sie es nicht auf ihn abgesehen zu haben, doch im Moment wusste Joey nicht, was schlimmer war. So wie ich im Moment aussah, ging es mir gar nicht gut. Genauso wenig wie Train, der eine ähnliche, ausdruckslose Maske im Gesicht hatte. Wir schienen unglücklich zu sein, beide schwiegen wir uns über unsere Probleme aus und beide waren wir abweisend zu allen, die uns helfen wollten. Es war doch wirklich zum verrückt werden.
Er wollte Train unbedingt helfen, doch so ganz allmählich wurde ihm klar, dass er dazu nie im Stande sein würde. Außerdem hatte er gemerkt, dass er die ganze Zeit über falsch gedacht hatte. Die Scythe Society war kein Ort, an dem irgendwer glücklich werden konnte. Das beste Beispiel dafür saß direkt neben ihm. Train hatte seit Tagen nicht mehr mit ihm geredet, das letzte Mal war auf dem Dach gewesen. Zu dem Zeitpunkt hatte Train behauptet, dass er genau diese Situation hier verhindern konnte. Joey hätte ihm nur zu gerne geglaubt. Doch er hatte geahnt, dass dies für eine einzelne Person unmöglich war.
Er seufzte und blickte kurz wieder zu mir, die ich noch immer mein Buch anstarrte, als würden die Buchstaben mir etwas vorsingen. In dem Moment wurde ihm klar, dass er wahrscheinlich nur eine Möglichkeit hatte, wenn er Train je wieder lächeln sehen wollte. Und das war zurzeit alles, was Joey sich wünschte. Doch dazu brauchte er mich. Ich war vermutlich die Einzige, die das erreichen konnte. Deshalb musste er mir erzählen, was wirklich vor sich ging. Ich hatte wahrscheinlich keine Ahnung davon, dass Train bereits zur Organisation gehörte, obwohl er noch keine achtzehn sondern erst Ende sechzehn war. Auch wenn er damit den Zorn von VanDyke auf sich ziehen würde, Joey wollte nicht mehr länger der hilflose Freund sein, der nur in Gedanken der große Retter war. Er wollte endlich wirklich etwas tun, das Train half. Und wenn das bedeutete, dass er mit mir reden und mich dazu bringen musste etwas zu unternehmen, dann würde er das tun.
Ich hörte das Klingeln zur Pause gar nicht. Ich sah nur, wie alle aufstanden und die meisten sich beeilten nach draußen zu kommen. So auch Train, der wortlos zur Tür ging. Ich stöhnte lautlos und erhob mich von meinem Stuhl. Währenddessen fiel mir auf, dass Mr Walker auf dem Weg hier her war und gleichzeitig sah ich Anika, die sich in der Reihe vor mir an den Plätzen vorbei schob. Gerade als sie den Gang betreten wollte und eine kurze Bewegung mit der Hand machte, schien Walker plötzlich über seine eigenen Füße zu stolpern und stieß mich dabei an, wodurch ich zwangsweise einige Schritte zurück torkelte.
„Hups, entschuldige Kate“, sagte der Lehrer mit einem schiefen Grinsen.
„Können Sie nicht mal anständig ge.. hen...“ Mir stieg der zwar nur leichte, aber dennoch beißende Geruch von konzentrierter Salpetersäure in die Nase. Ich war mir jedoch sicher, dass mich nichts dergleichen getroffen hatte. Ein Blick zu Anika genügte um zu sehen, dass sie ihr Ziel verfehlt hatte und jetzt zusah, dass sie den Raum verließ. Doch was hatte sie stattdessen getroffen? Ich sah mich mit raschem Blick um, doch ich konnte nirgendwo etwas entdecken.
„Alles in Ordnung?“, fragte Mr Walker stirnrunzelnd.
„Äh.. klar, wieso nicht?“ Wo zum Teufel war dieser Säuretropfen gelandet? Bisher hatte ich das noch bei jedem einzelnen Anschlag feststellen können. Wieso wollte es mir dieses Mal nicht gelingen?
Der Lehrer schlenderte daraufhin pfeifend wieder nach unten zum Pult und sammelte seine Zettel zusammen.
„Können wir reden?“, fragte Joey plötzlich, der fast direkt neben mir stand und mich ernst ansah.
Mein verwirrtes Gesicht musste gut ausgesehen haben. Im ersten Moment begriff ich gar nicht, was er von mir wollte, doch dann kam mir wieder in den Sinn, wie ich bereits einmal versucht hatte ihn darüber auszuquetschen, was mit Train los war. Konnte es sein, dass er genau darüber mit mir reden wollte? Ich nickte nur als Antwort auf seine Frage.
Daraufhin ging Joey durch den Mittelgang nach unten zur Tür und ich folgte ihm wortlos. Als wir gerade die Klasse verließen, blieb ich jedoch nochmal stehen und sah zu Mr Walker, der noch am Pult stand und am Ärmel seines weißen Rüschenhemdes rumfummelte, das er sich heute mal statt seiner sonst teilweise ziemlich abgedrehten Kostüme angezogen hatte.
Der Türrahmen verdeckte mich halb und als ich gerade schon weitergehen wollte, sah ich, wie Walker eine schmale Metallplatte aus dem Ärmel zog, die zuvor wohl an seinem Oberarm befestigt gewesen war. In dem Moment entdeckte ich auch das Loch in seinem Ärmel und dazu noch das tiefe Loch, das in der Metallplatte war.
„Da ist die Säure gelandet“, hauchte ich nur ungläubig.
„Puh, das war knapp“, stellte Mr Walker grinsend fest, als er die Platte von beiden Seiten betrachtete. Es fehlte wohl nicht mehr viel, dann wäre sie ganz durch gewesen. Wie er bei diesem Umstand grinsen konnte, war mir mehr als nur schleierhaft.
Ich konnte es kaum glauben. Und zwar nicht nur, weil er grinste als hätte er den Streich eines Kleinkindes entlarvt, sondern vor allem, weil er scheinbar ganz genau wusste, was Anika betrieb. Dennoch sagte er nichts. Nicht ein Wort. Kein Einziges. Es erschien mir unbegreiflich. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, warum er denn nichts unternahm, doch bevor ich so etwas Unüberlegtes tun konnte, meldete sich mein logisch denkender und Gott sei Dank noch einigermaßen funktionierender Verstand zu Wort.
Selbst wenn Walker und vielleicht sogar alle Lehrer wussten, was Anika hier betrieb, war immer noch die Frage, wer Anika war. Ich war mir zwar nicht sicher, doch sie schien irgendwie eine wichtige Person zu sein, vor der selbst die Lehrer gewaltigen Respekt hatten. Das war mir vorher schon aufgefallen, auch wenn ich zu dem Zeitpunkt noch nicht darüber nachgedacht hatte. Also kam zu meinem ohnehin schon überlaufenden Sorgen- und Gedanken-Eintopf auch noch die Frage, wer und vor allem was Anika eigentlich war. Als hätte ich nicht schon genug solcher Unklarheiten in meinem Kopf.
Mir wurde jedoch außerdem klar, dass Walker mich gerade allem Anschein nach davor bewahrt hatte in meinem dämmernden Zustand noch von der Säure erwischt zu werden. Davon hätte ich wahrscheinlich eine ernste Verletzung zu bekommen, denn das Zeug war verdammt gefährlich. Dieser Trottel von einem Lehrer hatte es gerade unauffällig geschafft mich zu beschützen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. War er vielleicht doch nicht so dämlich, wie er immer tat? Zwar konnte ich mir das irgendwie gar nicht vorstellen, doch unmöglich war es auch nicht.
„Kate?“ Joey blickte fragend über die Schulter. Seine braunen Augen waren von einem Ernst erfüllt, den ich zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte.
„Komme schon“, sagte ich nur und folgte ihm nach draußen auf den Rasen. Er ging zu der Stelle, an die ich ihn den einen Tag schon gezerrt hatte und wo wir beinahe von dem fußballgroßen Stein erschlagen worden wären. Dort waren wir allein und außer Hörweite der anderen Schüler. Joeys ernste Miene war allerdings noch immer neu für mich, seine braunen Haare glichen schließlich auch immer noch einem Vogelnest, genau wie zu dem Zeitpunkt, als ich ihn kennen gelernt hatte. Einzig sein Gesicht hatte einen zutiefst ernsten Ausdruck angenommen, der nicht zu ihm passen wollte, egal wie oft ich ihn sah.
„Ich.. will Train helfen“, sagte Joey nach einigen Sekunden des Schweigens und drehte sich zu mir um, „Aber dafür brauche ich dich.“
Ich glaube selbst in den letzten Tagen habe ich kein einziges Mal so perplex ausgesehen wie in diesem Moment.
„Er ist keine schlechte Person, auch wenn es im Moment vielleicht so aussieht“, sagte Joey und er klang irgendwie verzweifelt, „Es ist nicht seine Schuld.. Er glaubt nur, dass er keine andere Wahl hat.. Ich bitte dich, du musst ihm helfen!“
„Was...?“ Das kam so plötzlich, das ich noch nicht mal imstande war eine vernünftige Frage zu stellen. Was meinte Joey? Wovon redete er gerade?
„Du bist die Einzige, die ihm helfen kann!“, sagte Joey aufgebracht, „Was glaubst du, wie gerne ich du wäre?! Was glaubst du, wie gerne ich ihm helfen würde?! Verdammt nochmal! Aber dieser Sturkopf hört nie auf mich! Er wollte nicht auf mich hören und das ist dabei rausgekommen!“ Joey schien beinahe außer sich vor Verzweiflung und Wut zu sein, doch als er mich ansah, schien er sich wieder zu fassen.
„Aber daran kann ich nichts mehr ändern. Und ich werde wahrscheinlich auch nie etwas ändern können.. aber du kannst es. Hilf Train.. Bitte hilf ihm.“ So niedergeschlagen wie in dem Augenblick hatte ich Joey noch nicht gesehen. „Sie missbrauchen ihn nur und wollen aus ihm wieder eine Killermaschine machen. Er ist gefangen wie ein Vogel im Käfig.. Und er ist verzweifelt.. Alles nur wegen der S...“
Plötzlich erklang ein Schuss. Ich starrte Joey ungläubig an. Dann hallte ein weiterer Schuss in der Luft und der Junge vor meinen Augen sackte nun endgültig in sich zusammen. Er war schon tot, bevor er überhaupt auf dem Boden lag. Gut eine Sekunde lang sah ich ihn nur fassungslos an, dann wanderte mein Blick und richtete sich auf das Dach des Schulgebäudes. Eine Person, die ich zwar nicht genau sehen konnte aber trotzdem erkannte, packte gerade das Schafschützengewehr zusammen und richtete sich auf.
Kurz sah Anika zu mir und ich konnte das heimtückische Lächeln erahnen ohne es wirklich zu sehen. Ihre ganze, stolze Haltung mitsamt der furchteinflößenden Aura strahlten es aus. Dann verschwand sie auch schon durch den Dachaufstieg.
Daraufhin sah ich wieder Joey an. Zwei Kugeln hatten sich in seine Brust gebohrt, er hatte keine Chance gehabt. Anika hatte eindeutig verhindern wollen, dass er mir etwas erzählte. Was auch immer er mir sagen wollte, nun konnte er es nicht mehr. Doch was auch immer es gewesen war, es hing unweigerlich mit Train zusammen. Mit Train und dem Grund, weshalb er seit gut einer Woche kein Wort mehr mit mir wechselte.
„Kate! Was war das für ein Schuss?!“, fragte Anja, die zu mir gelaufen kam und dann direkt neben mir stehen blieb. Ihr Blick lag auf Joey, der reglos am Boden lag. „Was um Himmels Willen...?“
Inzwischen gesellten sich auch weitere Schüler zu uns und bald war der tote Joey von einer ganzen Horde von Leuten umringt. Es wurde wild durcheinander geredet und kaum einer verstand ein Wort des anderen. Wilde Spekulationen machten bereits die Runde, als Mr Walker zusammen mit Mr Folker über den Rasen geeilt kam und sich einen Weg durch die Schüler bahnte.
„Himmel, macht Platz!“, fluchte Mr Folker und als er nach einem der Wurfmesser in seiner Jacke griff, wichen die Schüler vor ihm ganz schnell zur Seite, sodass die beiden Lehrer endlich durch kamen.
„Oh nein...“, sagte Mr Walker, der kurz in die Knie ging und Joey an der Halsschlagader berührte, obwohl bereits allen klar war, dass jede Hilfe zu spät war.
„Zwei glatte Schüsse“, sagte Folker abschätzend, als er sich kurz die Schusswunden angesehen hatte, „Der Schütze versteht etwas von seinem Werk. Ich werde sofort die anderen Lehrer informieren.“ Damit stand er auch schon wieder auf und schob sich ein weiteres Mal an den Schülern vorbei.
Walker stand ebenfalls wieder auf, auch wenn er stehen blieb und anscheinend die Schüler davon abhalten wollte, den Toten anzufassen. „Wer hat ihn gefunden?“
„Ich.“ Ich versuchte gar nicht erst diesen Umstand zu verheimlichen. „Er wurde direkt vor meinen Augen erschossen.“
Walkers Blick schien zunächst ungläubig, doch dann wurde er wieder ernst. Er fragte auch nicht weiter nach, sondern hatte zu unser aller Überraschung auf einmal wieder ein Lächeln im Gesicht. „Gut, dann begeben sich bitte alle bis auf Kate in ihre Klassen. Wir werden den Vorfall natürlich sofort untersuchen, aber bitte habt etwas Geduld, bis die Ergebnisse raus sind.“
„Hey!“
„Unfair!“
Lautstarker Protest setzte ein.
Walker seufzte daraufhin und griff hinten an seinen Gürtel. Was er hervorholte, sah zunächst aus wie ein Metallstab, doch plötzlich verlängerte sich dieser zu beiden Seiten hin, bis er bestimmt zwei Meter lang war. Außerdem schnappte der Stab an der Spitze noch auseinander und durch irgendeinen Mechanismus kamen nun an dem einen Ende des dunklen Schafts drei lange, silberne Spitzen raus. Der gute Lehrer ließ den eleganten Dreizack einmal in seiner Hand über dem Kopf kreisen, dann richtete er ihn auf einen der Schüler, die ihm am nächsten waren und am lautesten protestierten. Allerdings waren der Junge und auch alle anderen daraufhin beinahe schlagartig still.
„Ich sagte, dass ihr in eure Klassen zurückgehen sollt“, wiederholte Mr Walker mit einem freundlichen Lächeln, „Also würdet ihr dies bitte auch tun?“
Der Dreizack verfehlte seine Wirkung nicht. Unter leisem, zum Teil verärgertem Gemurmel begannen die Schüler damit von dannen zu ziehen und sich auf den Weg in die Klassen zu machen. Anja blieb jedoch neben mir, die ich den Lehrer mit einem durchdringenden Blick ansah. Als er meinen Blick kurz erwiderte, formte ich mit den Lippen den Namen des Mädchens, das Joey erschossen hatte. Wie ich erwartet hatte, wirkte Mr Walker keineswegs überrascht, sondern seine purpurnen bis dunkellilanen Augen schienen nur noch ein Stück dunkler zu werden.
„Das kann doch nicht wahr sein...“ Anja betrachtete die Leiche von Joey. „Es sieht doch fast so aus, als würde er einfach nur schlafen...“
„Es ist wahr“, sagte ich ernst, „So ernst wie die ganzen letzten Tage.“
„So kann man es sehen“, sagte Walker nur.
Ich sah Joey ebenfalls an. Doch ganz anders, als wie manch andere in meiner Lage nun endgültig in Verzweiflung ausbrechen würden, machte mich das hier wütend. Die unzähligen Fragen in meinem Kopf stürmten wie ein fürchterlicher Hurrikane, doch dieses Mal stürmte ich mit. Meine Wut weckte meinen Verstand auch wieder richtig auf und rüttelte meine Entschlossenheit wach.
So leicht würde ich das nicht durchgehen lassen. Das war nun endgültig zu viel. Das war mehr als hinterhältig gewesen. Wenn ich jemanden umbrachte, tat ich es wenigstens von Angesicht zu Angesicht und nicht so aus dem Hinterhalt. Diese Anika kotzte mich langsam echt an. Nicht nur Train, sondern jetzt auch noch Joey? Es reichte!
„Aber damit ist Schluss“, fügte ich hinzu und mein Blick nahm die Entschlossenheit an, die sich in meinem Inneren zu einer wahren Wand auftürmte. Ich machte auf dem Absatz Kehrt und marschierte im Stechschritt auf das Schulgebäude zu. Anika würde ich mir vorknöpfen, egal wer oder was sie war.
Doch in dem Augenblick sah ich Train, der am Eingang stand und fassungslos in die Richtung von Joey starrte. Er hatte wohl auch mitbekommen, was mit seinem Freund passiert war. Sobald er jedoch merkte, dass ich auf ihn zukam, wandte er sich ab und verließ das Gebäude. Scheinbar wollte er links dran vorbeigehen und dann über die Rasenfläche hin zum nordwestlichen Teil des Waldes.
„Kate!“ Anja wollte zu mir aufholen.
„Komm mir nicht nach!“, rief ich über die Schulter und mein Ton ließ keinerlei Widerspruch zu, „Ich will dich nicht auch noch verlieren!“
Anja war wohl so überrascht, dass sie glatt stehen blieb und mich verwirrt ansah. Ich ging jedoch Train hinterher, der die Sekunden genutzt hatte den Abstand zwischen uns zu vergrößern. So leicht ließ ich mich jedoch nicht abhängen. Mit großen Schritten holte ich zu ihm auf und schnitt ihm kurz vorm Wald den Weg ab.
„Würdest du mir jetzt endlich mal sagen was hier los ist?!“, schrie ich ihn an.
„Nichts ist los.“ Train sah zur Seite. DA! Er wich mir schon wieder aus! Das gab es doch echt nicht! Irgendwo war mal Schluss!
„Rede endlich!“, schrie ich, „Joey ist TOT! Und Anika ist diejenige, die ihn umgebracht hat! Deine süße Freundin und neue Partnerin!“
Train sah jedoch nur weiterhin zur Seite und wich meinem wütenden Blick aus. Auch wenn er ein wenig gequält wirkte.
An diesem Punkt riss mein Gedultsfaden jedoch endgültig. Ich holte kurzerhand aus und scheuerte Train so kräftig eine, dass er zwei Schritte zur Seite stolperte. „Was soll dieser verdammte Mist?!“, fragte ich wutentbrannt, „Glaubst du etwa, ich weiß nicht, dass hier etwas faul ist?! Die ganzen Attentate auf mich waren alle Anikas Tun! Alle! Ihr verdanke ich es, dass ich in einer Woche so oft beinahe gestorben wäre wie in meinem ganzen Leben noch nicht! Deiner geliebten Freundin, die ja so viel besser ist als ich!“ Tränen stiegen mir in die Augen und einzig dem unbändigen Zorn in mir verdankte ich es, dass ich noch nicht angefangen hatte zu schluchzen.
Train sah mich nun doch an und zum ersten Mal seit langem konnte ich ein klares Gefühl in seinen Augen sehen: eine tiefe Bestürzung. Doch das war mir egal. Auch der Grund dafür war mir egal. Ich wollte nur endlich meinem Ärger Luft machen.
„Mach von mir aus was du willst!“, schrie ich und versuchte verzweifelt die Tränen daran zu hindern über meine Wangen zu laufen, „Aber halt endlich Anika davon ab mir mein Leben endgültig zu versauen!“
„Kate...“
„Reicht es denn nicht, dass meine ganze Familie schon tot ist?!“ Trotz meiner Mühen verlor ich am Ende doch. Tränen rannen über meine Wangen und sammelten sich an meinem Kinn, bevor sie zu Boden tropften. „Warum müssen es jetzt auch noch meine Freunde sein!? WARUM?! Erst du, dann Joey, als nächstes wahrscheinlich Anja.. reicht es nicht?! Ist es noch immer nicht genug?!“
Train sah mich wie vom Donner gerührt an und schien etwas sagen zu wollen, doch ich ließ ihn nicht. Stattdessen rannte ich an ihm vorbei in den Wald und ließ ihn stehen. Ich konnte kaum klar denken und lief einfach an den Bäumen vorbei, auch wenn ich zigmal über meine eigenen Füße oder Baumwurzeln und Sträucher stolperte.
Warum hatte ich mich eigentlich so aufgeregt? Weil Train, mein ehemaliger Freund und Partner, mir schon wieder keine Antwort gegeben hatte? Daran sollte ich doch mittlerweile eigentlich gewöhnt sein. Auch daran, dass ich in den letzten Tagen allmählich alles verlor, was ich mir in den letzten Monaten hier aufgebaut hatte, sollte ich mich doch gewöhnt haben. Außerdem war Joey zwar irgendwie eine Art Kamerad für mich gewesen, aber so nahe hatten wir uns auch nicht gestanden, als dass man sich darüber so darüber aufregen musste, dass er nun tot war.
Wahrscheinlich aber war es einfach zu Ende mit meinem Verstand. Scheinbar hatte er sich ohne dass ich es bemerkt habe verselbstständigt und führte nun ein Eigenleben. Oder waren meine Gefühle daran schuld? Ich hätte sie schon zu Beginn meiner Laufbahn als Auftragsmörderin irgendwo einsperren und den Schlüssel wegwerfen sollen. Das hatte ich nun davon.
Train wollte mir hinterher laufen. Er wollte mir endlich sagen, dass ich mich irrte. Er wollte diese verfluchte Heimlichtuerei beenden und mir sagen, was wirklich los war. Doch ausgerechnet jetzt tauchte Karin auf einmal auf, die das Ganze bestimmt mit vollster Zufriedenheit beobachtet hatte.
„Wo willst du denn hin?“, fragte sie in gehässigem Ton, „Ich hoffe, du hast bei der kleinen Einlage nicht vergessen, was...“
Die Ohrfeige riss Karin glatt zu Boden. Train hatte schneller ausgeholt und zugeschlagen, als sie gucken konnte. Nun lag sie noch etwas verdattert auf dem Boden und starrte ihn verblüfft an. Wie konnte er es wagen?
Train sah sie jedoch mit einem derart tödlichen Blick an, dass er einer Klapperschlange die Schuppen von der Haut gejagt hätte. „Wenn du es wagst, ihr etwas anzutun, wirst du mich kennenlernen“, sagte er so drohend, dass einem das Blut in den Adern gefror und nicht wieder auftaute, „Ich bin der Feuervogel der Scythe Society. Und du solltest nicht vergessen haben, warum genau ich diesen Namen trage.“
Karin starrte ihn ungläubig an. Dieser Blick weckte selbst in ihr das instinktive Gefühl von Furcht. Er jagte ihr einen richtigen Schauer über den Rücken, was ihr schon ewig nicht mehr passiert war.
Schließlich wandte Train sich von ihr ab und machte sich auf den Weg zu den vier Wohngebäuden. Im Wald würde er mich nicht finden, dazu war das Gelände einfach zu groß und verstrickt. Er musste also warten, bis ich wieder zurückkam. Dann wollte er mir erklären, was hier vor sich ging. Auch wenn ich ihn hinterher vielleicht hassen würde, er musste mir endlich die Wahrheit sagen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich stundenlang durch den Wald rannte. Natürlich waren es nur Minuten, doch so kam es mir vor. Ich war nervlich endgültig am Ende. Das eben war zu viel gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass ich gar nichts mehr hatte. Die Welt schien leer im unendlichen Sturm meines hoffnungslos überforderten Kopfes zu liegen. Für mich war es fast wie der Untergang der Welt. Vielleicht steigerte ich mich gerade viel zu sehr in die Sache rein, aber im Moment war ich unfähig einen klaren und vernünftigen Gedanken zu fassen.
Die Sache mit Train kümmerte mich doch. Viel mehr als mir lieb war und meinem Schädel gut tat. Wer weiß, vielleicht wurde ich ja gerade verrückt? Im Angesicht dessen, was sonst noch so auf mich wartete, erschien mir diese Aussicht gar nicht so unangenehm.
„Du bist echt erbärmlich“, schalt ich mich selbst mit einem leblosen Lächeln. Es war so verkrüppelt, dass meine Mundwinkel davon schon wehtaten. Was war nur aus mir geworden? War ich einst eine stolze Auftragsmörderin, so war ich jetzt nicht mehr als ein jämmerliches Häufchen Elend. Erbärmlich nicht? Und jetzt lügt nicht, Leute. Ich war echt armselig. Das mochte man doch keinem mehr zumuten.
Nur nebenbei fiel mir auf, dass es hier draußen zu still war. Normalerweise konnte man bereits die ersten Vögel singen hören, doch ich konnte keinen Laut vernehmen. Selbst der Wind schien eingeschlafen zu sein. Es war totenstill. Und doch kümmerte mich das im Moment nicht. Immer wenn ich geglaubt hatte, dass es kaum schlimmer werden konnte, war es schlimmer geworden. Die letzten Tage waren wie ein einziger Alptraum, aus dem ich wohl nie mehr erwachen würde.
In dem Moment spürte ich einen leichten Luftzug und gleich darauf ein zusätzliches Fliegengewicht auf meiner Schulter. Ich sah Pieps, den kleinen Vogel mit dem goldgelben Gefieder, nur verdutzt an. Den kleinen Piepmatz hatte ich schon seit einer Weile nicht mehr gesehen. Umso überraschter war ich natürlich, dass er ausgerechnet jetzt wieder auftauchte und mich mit schief gelegtem Kopf ansah.
„Wo kommst du denn her?“, fragte ich. Für einen Moment vergaß ich glatt all das, was mir gerade durch den Kopf gegeistert war.
Der Vogel zwitscherte, es war wirklich so als würde er mir antworten, auch wenn ich ihn natürlich nicht verstand. Pieps war schon süß.
Auf einmal schlug er jedoch wild mit den Flügeln und sauste dann hoch in die Luft. Ich sah ihm verwirrt hinterher, als sich plötzlich von hinten eine Hand auf meinen Mund legte. Meine Augen weiteten sich und noch bevor ich richtig reagieren konnte, wurden mir die Arme auf dem Rücken verschränkt und mehrere Hände packten mich unsanft. Nun bekam ich gleich drei oder vier Männer zu sehen, die weiße Kittel trugen und mich anscheinend entführen wollten. Hä? Hatte ich da was verpasst?
Bevor ich jedoch dazu kam mich mit ein paar einfachen Handgriffen zu befreien, spürte ich plötzlich, wie sich etwas Spitzes in meinen Rücken bohrte. Eine Spritze!? Was auch immer mir da gerade auf schmerzhafte Weise gespritzt wurde, es bewirkte, dass meine Glieder innerhalb von Sekunden fast so schwer wie Blei wurden. Verflucht, was sollte das werden?!
„Hey!“, rief ich, doch sofort wurde ich grob von den Männern mitgezogen, die noch nicht mal ein Wort darüber verloren, wieso sie mich anscheinend gerade abführen wollten. Dabei wäre eine Erklärung sehr freundlich gewesen!
Das Narkosemittel, das man mir über die Spritze wohl verabreicht hatte, machte es mir unmöglich meine richtigen Kampftechniken zu verwenden. Doch soweit ich konnte, versuchte ich trotzdem mich irgendwie von den Leuten zu befreien, die mich gerade auf das flache Gebäude zu schleppten, das ich bei einem meiner Streifzüge schon mal von weitem gesehen hatte. Ich trat nach den Männern und versuchte meine Arme loszureißen, aber ich konnte nicht verhindern, dass sie mich zu dem Gebäude aus braunen Backsteinen brachten.
Durch eine automatische Tür kamen wir in einen großen, kargen Raum mit einigen Stühlen unter den Fenstern. Die Wände waren hell und bis auf die Stühle gab es keine weiteren Einrichtungsgegenstände. Wahrscheinlich war das so etwas wie ein Warteraum. Allerdings sollte ich anscheinend nicht warten müssen, denn ich wurde gleich eine Treppe nach unten durch eine Tür und dann einen langen Gang entlang geschleppt. Alles war in Weiß gehalten. Schlicht, triste weiß. Wie in einem Krankenhaus oder Labor oder wo auch immer sonst noch weiße Wände an der Tagesordnung standen.
Das war mir im Moment jedoch herzlich gleichgültig, ich wehrte mich mit allem, was ich hatte; ich versuchte mit den Füßen auf dem eisernen Boden Halt zu finden, doch das war unmöglich. Immer wieder rutschte ich ab und die Hände, die mich gepackt hatten und tiefer und tiefer in das Gebäude hinein zerrten, wurden immer grober und hielten mich wie eiserne Schraubstöcke. Mehrere Türen schwangen automatisch auf als wir kamen und schlossen sich hinter uns, sodass ich hörte wie gleich mehrere elektronische Schlösser einrasteten. Ich trat nach den Männern in den weißen Kitteln und versuchte irgendwie freizukommen, doch ich schien nicht die Erste zu sein, die auf diese Weise hier runter geschleppt wurde. Die Männer konnten meinen Tritten zum größten Teil ausweichen und meine Arme bekam ich auch nicht mehr los, meine Kampftechniken konnte ich dank dem Narkosemittel sowieso vergessen. Daraufhin schrie ich wütend etwas, das ich selbst nicht ganz verstand, doch es half alles nichts.
Ich wurde in einen Raum geschleppt, der mich an einen Operationsraum und ein Labor zugleich erinnerte. Überall undefinierbare, technische Geräte und Messanzeigen, sowie Werkzeuge, wie ich sie bisher nur bei Operationen gesehen hatte. Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Und wenn ich mir den Stuhl mit den ledernen Schnallen so ansah, war es eindeutig, wo man mich hingebracht hatte. Es erinnerte mich glatt an Frankensteins Gruselkabinett, das mir im Moment jedoch hundertmal lieber gewesen wäre.
„Lasst mich los!“, schrie ich und bäumte mich nochmal auf, doch die Männer drückten mich trotz meiner vehementen Befreiungsversuche unsanft auf den unheimlichen Stuhl. Während zwei von ihnen mich gewaltsam auf den Stuhl festhielten, schlossen die anderen beiden die Schnallen an den Armlehnen des Stuhls, zwei weitere unten an den Beinen und noch einen um meine Brust. Meine Versuche mich zu befreien wurden immer aussichtsloser. Verdammt nochmal! Ich hatte noch nicht mal eine Ahnung, was die überhaupt von mir wollten!
Dann hatten sie mich anscheinend fertig verschnürt, ich konnte mich kaum noch bewegen und mich selbst zu befreien stand ganz und gar außer Frage. Ein anderer Mann schob sich anschließend in mein Blickfeld. Er trug eine große Brille und hatte stechend grüne Augen. Ich konnte in ihnen sehen, dass der Mann nicht mehr ganz dicht war. Er hatte den Verstand verloren.
„Keine Angst, das ist nur ein kleiner Picks“, sagte er mit schmieriger Stimme und der Schleim trief ihm schon förmlich von den Lippen.
„Das ich nicht lache!“, schrie ich und versuchte noch ein letztes Mal mich zu befreien, doch wie erwartet brachte das überhaupt nichts, „Was spielen Sie hier für ein Spiel? Wollen Sie mich umbringen oder was?!“
„Aber nein, Kindchen, wir wollen nur die Forschung etwas weiter voranbringen“, sagte der Mann und massierte meine linke Armbeuge mit einer Hand. In der anderen hielt er eine Spritze mit einer farblosen Flüssigkeit. „Und du hast die Ehre eine völlig neue Entwicklung auszuprobieren.“
„Auf diese Ehre kann ich verzichten!“ Diese verdammte Spritze machte mich nervös, ich hatte die Dinger schon immer gehasst und das hier war bestimmt kein Impfstoff, so viel war sicher. Und obwohl ich hasste das festzustellen, die Angst machte sich in mir breit. Mein Herz schlug immer schneller und ich musste meinen Verstand ganz schön zusammennehmen, damit er sich bei dieser Situation nicht noch verabschiedete.
„Glaub mir, wenn du das überlebst, wirst du dich wie neu geboren fühlen“, sagte der Mann lächelnd und injizierte mir die Flüssigkeit, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte.
Augenblicklich breitete sich ein höllischer Schmerz rasend schnell in meinem gesamten Körper aus und ich schrie laut auf. Ich krallte meine Finger in die Armlehnen des gepolsterten Stuhls und versuchte diese Qual irgendwie auszuhalten. Was war das? Was hatte man mir gespritzt? Ich hatte keine Ahnung. Es brannte wie Feuer in mir und ich wusste nur, dass ich das nicht ewig aushalten konnte.
Brennende Wellen pochten durch meinen gesamten Körper und als einer der anderen Männer mich an den Schultern in den Stuhl zurückdrücken wollte, schrie ich auf. Die Berührung löste einen noch viel schlimmeren Schmerz aus und ich warf mich auf dem Stuhl hin und her. Ich konnte es nicht aushalten. Es war unerträglich, als würde mich etwas von innen heraus auffressen. Ich konnte nicht mehr. Warum stellte niemand das ab? Was wollte man von mir?
Nach vielleicht zwei Minuten, in denen ich mich vor Schmerz gekrümmt und mit dem Stuhl, wäre er nicht am Boden befestigt gewesen, wahrscheinlich mehrere Meter zur Seite bewegt hätte, erschlaffte mein Körper auf einmal. Das Elektrokardiogramm, das man noch angeschlossen hatte, zeigte durchgehend die Nulllinie an und ich saß ruhig auf dem Stuhl. Mein Atem schien stehen geblieben zu sein.
Train durchfuhr auf dem Dach von Haus Nummer 4 fast so etwas wie eine Art kleiner Stromstoß. Irgendetwas stimmte nicht. Er spürte es ganz deutlich. Dann sah er Pieps dicht über ihm fliegen. Der kleine Vogel zwitscherte aufgeregt und drehte dann wieder in Richtung nordwestliche Wälder ab. Train runzelte die Stirn, doch dann kam er auf die Füße und sah dem Vogel nach.