Kapitel 9
Es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Alexej und ich waren wieder auf dem Schulgelände unterwegs und ließen uns auf der Bank nieder, auf der wir uns immer unterhielten, so wie damals, als ich ihm meine Narben zeigte.
Am Tag zuvor war er nicht in der Schule gewesen, da er einen Auftrag auf dem Festland hatte. Mich hatte er jedoch nicht mitgenommen, was ich ihm den gesamten Tag lang -und auch heute- übel nahm.
„Und, wie war es auf dem Festland?“
„Ganz in Ordnung, nur haben mir Ihre schlauen Kommentare gefehlt.“
Mein Grinsen wurde breiter und wich allmählich einem sanften Lächeln. „Ich habe Sie auch vermisst.“ An dem Tag hatte ich mir andauernd unsere Fotos angesehen, die wir in der Stadt hatten machen lassen. Wenn ich es mir lang genug ansah, konnte ich mir vorstellen, wie er neben mir lag. Dabei berührte ich seine braunen, wuscheligen Haare und sah ihm tief in seine eisblauen Augen…
Zögernd griff er nach meiner Hand und ich fädelte meine Finger in seine. Eine Zeit lang sahen wir uns nur an, bis er seine Hand langsam in die Jackentasche gleiten ließ. Aufmerksam beobachtete ich, wie er eine kleine, aufwendig verzierte Schachtel hervorholte und mir vor die Nase hielt. „Den habe ich Ihnen mitgebracht.“ Er lächelte mich an und öffnete die Schachtel. In ihr befand sich ein wunderschöner Rosenkranz.
„Das…“ Alexej hatte mich so überrascht, dass ich sprachlos war. Der Kranz war so wunderschön… Es bestand aus einer langen, goldenen Kette, an der kleine, rote Rosen angebracht waren. In der Mitte befand sich ein goldenes Kreuz, das mit kleinen Rubinen verziert war. Um es herum wand sich eine Rosenranke, an der große, rote Blüten zu sehen waren. „Danke, Alexej, ich…“
„Schon gut. Wenn ich Sie schon allein lassen musste, dann will ich es wenigstens wieder gut machen.“ Er drückte meine Hand und beugte sich zu mir, um seinen Kopf an meine Schulter zu legen. Eine Weile blieben wir noch so sitzen, während ich über unsere Zukunft nachdachte.
Uns verband mehr als nur Freundschaft, doch was war es?
Hatte ich mich in ihn verliebt, oder er sich sogar in mich?
Sanft fuhr ich ihm mit der Hand durch die Haare und genoss diesen Augenblick. Selten war er mir so nahe, und ich liebte es immer, wenn er sich mir so öffnete. Denn meistens behielt er seine ernste Miene bei, doch er schaffte es nicht immer, und nun geschah es öfters, dass ich ein Lächeln an ihm sah. Schließlich wurde auch er im Umgang mit mir sanfter und zeigte mir gegenüber seine Gefühle. Jedoch konnte ich nie erkennen, was er wirklich für mich empfand, ob er mich eher für eine Schwester oder nur eine Freundin hielt. Diese Frage quälte mich die ganze Zeit, denn vielleicht konnte ich endlich meine Gefühle für ihn verstehen, wenn ich eine Antwort darauf wüsste.
Plötzlich sprang Alexej auf und stellte sich vor mich. Einer der Lehrer war gerade vorbei gekommen und hatte anscheinend auch ihn aus seinen Gedanken gerissen.
„Also… Bringen Sie mich noch zu meinem Zimmer?“, fragte ich verlegen.
„Natürlich, Lady Eveline.“ Er führte eine kurze Verbeugung durch und zog mich von der Bank. Glücklich hakte ich mich bei Alexej ein und lief mit ihm zurück zum Wohngebäude.
„Lady Eveline?“
Ich öffnete langsam die Augen und blinzelte einige Male, um mich an das Licht zu gewöhnen. Ich befand mich wieder im Krankenzimmer der Schule…
Alexej saß neben mir und sah mich besorgt an. „Geht es Ihnen gut?“ Ich versuchte, mich aufzusetzen, doch er hielt mich zurück. „Bleiben Sie erst einmal liegen, Sie müssen sich noch ausruhen.“
„Was.. was ist passiert?“, fragte ich verwirrt. Ich konnte mich nur noch an meinen Traum erinnern. Es war das erste Mal, dass ich etwas aus meiner Vergangenheit sah, doch trotzdem war ich froh darüber, diesen Tag noch einmal erlebt zu haben.
„Sie haben drei Tage lang durchgeschlafen, denn eine Sukkubus hat Sie angegriffen und beinahe…“ Er stockte bei dem Wort getötet, doch genau das war es, was passiert wäre, wenn er mich nicht gerettet hätte. Nun fielen mir auch wieder die Einzelheiten ein… Wie er auf die Frau schoss und mich auf seinen Armen in das nächste Hotel brachte, um mich zu versorgen. Und auch an unser Gespräch konnte ich mich nun wieder erinnern. Mir war es auf einmal peinlich, dass ich ihm von meinem Traum erzählt hatte, und ich hoffte, dass er es durch die Aufregung wieder vergessen hatte.
„Es tut mir leid, ich hätte nicht aus der Schule fliehen sollen, und…“ Dicke Tränen stiegen mir schließlich in die Augen. Ich konnte sie nicht mehr zurückhalten und wandte mich von Alexej ab.
Ohne zu zögern rückte er näher heran und legte seine Arme um mich. „Nein, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte Sie nicht alleine lassen dürfen.“ Ich drückte meinen Kopf an seine Brust und schluchzte laut. Auch als Direktorin Zanolla das Zimmer betrat, ließ er mich nicht los, sondern zog mich nur noch näher an sich.
„Miss Ledoux, kann ich kurz mit Ihnen reden? Alleine?“
„Ich werde hier bleiben, auch wenn es Ihnen nicht passt.“
„Nowakow, wie können Sie…“ Zanolla war zu entrüstet, um ihren Satz zu Ende zu bringen.
„Ich will, dass er hier bleibt“, platzte es aus mir heraus. „Was auch immer Sie zu sagen haben, Alexej kann es auch erfahren.“
Sie starrte mich wütend an und redete schließlich weiter. „Miss Ledoux, ich hoffe Ihnen ist klar, dass wir Ihren Vater über den Vorfall informieren mussten. Er ist bereits in der Schule und wird sie gleich besuchen.“ Als sie von meinem Vater sprach, zuckte ich zusammen. Alexej bemerkte meine Reaktion sofort und drückte mich noch näher an sich. „Und bis dahin sollten sie Ihr Schäferstündchen beendet haben.“ Ohne noch ein Wort zu verlieren, drehte sie sich um und verließ das Zimmer wieder.
„Alexej, Sie bleiben doch hier, wenn er kommt… oder?“
„Natürlich“, flüsterte er mir ins Ohr.
Keine Sekunde später kam mein Vater auch schon zur Tür herein. „Eveline Hortensia Ledoux, was hast du dir nur dabei gedacht?“ Er schrie mich förmlich an, als er auf mein Bett zuging. Als er bemerkte, dass Alexej noch bei mir saß, hielt er inne. „Nowakow, was machen Sie denn hier? Nehmen Sie sofort Ihre Finger von meiner Tochter!“
Doch er bewegte sich nicht, seine Arme ruhten immer noch auf meinem Rücken. „Ich bleibe bei ihr, bis sie wieder in ihr Zimmer kann.“
„Das ist kein Grund, ihr so nahe zu kommen.“ Ich sah, wie die Wut in meinem Vater aufloderte.
„Sie hat geweint und brauchte jemanden, der für sie da ist“, erwiderte Alexej trocken. Und tatsächlich war es so gewesen. Auf einmal wandte er den Kopf von meinem Vater ab und küsste mich flüchtig auf den Mund. Ich erschrak sofort und spürte, wie ich rot wurde. Als ich ihm in die Augen sah, erkannte ich seine Belustigung an dieser Situation, doch gleichzeitig auch seine Zuneigung mir gegenüber. Nur wenige Zentimeter lagen zwischen uns und ich fragte mich, ob er auch soweit gehen würde, mich richtig zu küssen… Beruhigend strich er mir über den Rücken und umging dabei bewusst meine Narben.
„Nowakow“, drohte mein Vater, „Sie verlassen sofort dieses Zimmer, oder ich werde Sie persönlich hinausschleifen.“
Ohne auf Alexejs Reaktion zu warten, sprang ich vom Bett auf und stellte mich vor meinen Vater. Jede Bewegung schmerzte zwar, doch im Moment war es mir wichtiger, Alexej zu verteidigen. „Lass ihn in Ruhe! Er macht hier nur seinen Job, und das weißt du!“
Bevor ich reagieren konnte, holte mein Vater weit aus und schlug mir mitten ins Gesicht. Ich taumelte rückwärts und versuchte schnell, mich wieder zu fassen. Noch vor seinem nächsten Angriff trat ich ihm so in den Bauch, wie wir es beim Kampfsport gelernt hatten. Er sackte zu Boden und erhielt von mir noch einen Schlag auf den Rücken, der ihn endgültig ausschaltete. Langsam drehte ich mich wieder zu Alexej und sah ihn an. Sein Blick zeigte keine deutlichen Gefühlsregungen, doch ich konnte mir vorstellen, dass ihm das, was ich gerade getan hatte, nicht gefiel.
„Gehen wir lieber auf Ihr Zimmer. Um Ihren Vater wird man sich kümmern.“ Er kam eilig auf mich zu und nahm mich wieder auf seine Arme. Langsam schritt er mit mir über das Schulgelände und sah sich dabei aufmerksam um.
„Glauben Sie, er wird Sie entlassen?“, fragte ich traurig. Ich war zu schwach, um ihm ins Gesicht zu sehen, und legte meinen Kopf auf seine Schulter.
„Nein. Und wenn, dann würde ich trotzdem als Hüter in Venedig bleiben.“
Einige Minuten später kamen wir schon auf meinem Zimmer an. Vorsichtig öffnete er die Tür und legte mich auf das Bett. Anscheinend hatten sie bemerkt, was ich mit meinem Zimmer angerichtet hatte, und es wieder repariert. Ich war froh, dass Alexej kein Wort darüber verlor.
„Bleiben Sie erst einmal liegen. Sie müssen sich noch ausruhen.“
„Und… werden Sie hierbleiben?“
„Ja“, sagte er sanft und lächelte mich an.
Kurz bevor ich einschlief, bemerkte ich noch seine Lippen auf meiner Stirn.
Kapitel 10
„Alexej, hör auf!“, schrie ich verzweifelt.
Er rannte durch mein Zimmer, verwüstete es und brüllte mich dabei die ganze Zeit an.
Ich lief in mein Badezimmer und hockte mich ängstlich auf die Fliesen. Alexej hatte sich so plötzlich verändert… Zuerst hatten wir normal miteinander geredet, und auf einmal war er wie ausgewechselt. Er wurde laut, schlug mich und war schließlich auf alles losgegangen, was in meinem Zimmer stand, als wäre er in eine Art Raserei verfallen…
Sein Geschrei war noch zu hören, doch er war stehen geblieben. Er hatte bemerkt, dass ich weggelaufen war.
„Lilly, komm sofort wieder her!“, rief er wütend, doch ich hielt mich weiterhin im Bad versteckt. Ich hörte seine Schritte, als er langsam zur Tür kam. „Ich habe gesagt, du sollst aufhören, dich zu verstecken“, sagte er, als er den Raum betrat. Anstatt zu antworten, sah ich ihn jedoch nur verängstigt an. Er trat näher an mich, packte mich an meinem Hemd und zog mich grob nach oben. „Na, hast du jetzt immer noch so eine große Klappe?“ Als wäre es kein Problem für ihn, warf er mich zurück in mein Zimmer. Ich landete auf dem Fußboden und rieb mir den Arm, auf den ich gefallen war. Alexej stellte sich vor mich und starrte mich seltsam an. Anscheinend hatte auch er endlich die Wunde an meinem Kopf entdeckt, die er mir vor einigen Minuten erst zugefügt hatte.
„Lass mich in Ruhe“, flüsterte ich, sodass er mich kaum hören konnte. Dennoch lächelte er mich hämisch an, blieb jedoch, wo er war.
„Ach Lilly, es hätte alles so schön werden können, wenn du nicht durchgedreht wärst…“ Wieder setzte er dieses schiefe Grinsen auf, das ich vorher noch nie an ihm gesehen hatte, und auch nie wieder sehen wollte.
Er stand noch eine Weile so da, und bevor er schließlich doch etwas tat, entschied ich mich, den ersten Zug zu wagen. Ich sprang schnell auf und rannte los. Er versuchte, mich am Arm zu packen, doch ich wich ihm geschickt aus, öffnete die Tür und rannte durch das dunkle Wohngebäude hinaus auf das Schulgelände. Erneut hörte ich, wie er nach mir rief, doch ich bezweifelte, dass er mich hier finden würde. Nach einigen Minuten, die ich durch den kleinen Wald gelaufen war, ließ ich mich schließlich erschöpft vor einen Baum fallen, um dort die restliche Nacht zu verbringen. Es dauerte nicht lange, bis Alexejs Rufe, die immer noch weit entfernt waren, erloschen und ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen hatte Alexej sich zwar beruhigt, doch aus irgendeinem Grund zog er es nun vor, mich völlig zu ignorieren.
Er tat einfach so, als wäre ich nicht da.
Ich riss erschrocken die Augen auf und sah mich um. Es war ja eine Sache, Alexej in meinen Träumen zu sehen, doch seit ich wusste, wer das Mädchen im Traum war, wurde alles nur noch unheimlicher. Und wieder einmal stellte ich mir die Frage, wieso das alles passierte. Warum sollte Alexej mich schlagen und anschließend verfolgen? Hatte es etwas damit zu tun, worüber wir vorher geredet hatten? Oder war er einfach in eine Art Raserei verfallen? Und vor allem, wie kam es, dass ich in meine eigene Zukunft sehen konnte?
Nach diesem Traum war ich noch erschöpfter als vorher, obwohl ich sogar in meinem Traum noch geschlafen hatte. Langsam glaubte ich, dass alles einfach viel zu kompliziert war, um es zu verstehen, doch ich konnte auch nicht ruhig bleiben und so tun, als wäre da nichts.
„Was ist denn los?“ Alexej setzte sich auf.
„Nichts, tut mir Leid… hab ich dich geweckt?“
„Ist nicht so schlimm.“ Er beugte sich zu mir herunter und küsste mich sanft. Ich konnte gar nicht glauben, dass dieser zärtliche Alexej sich später zu so einem Monster entwickeln sollte. Langsam löste er sich wieder von mir und ließ sich zurück auf die Matratze fallen. „Lilly, ich muss mit dir noch über etwas reden…“
Oh nein. Anscheinend hatte er doch nicht vergessen, was ich in der Nacht meiner Flucht zu ihm gesagt hatte. „Ich möchte jetzt nicht…“
„Wir müssen darüber reden“, sagte er eindringlich. „Lilly, woher wusstest du, dass du nicht sterben würdest?“
„Ich hatte einfach so ein Gefühl, und? Ist das jetzt was Besonderes?“, fragte ich genervt.
„Nimm das bitte nicht auf die leichte Schulter…“ Er drehte sich zu mir und nahm meine Hand. „Gut, du hast gemerkt, dass du überleben wirst, aber… du hast gesagt, dass du gesehen hättest, wie du stirbst…“ Seine Stimme glitt in einen besorgten Ton ab.
„Ich war fast bewusstlos, Alexej, da redet man nun mal so einen Quatsch.“
„Nein, normalerweise macht man so etwas nicht. Deswegen will ich ja auch mit dir reden.“
Ich wandte mich von ihm ab und starrte ins Leere. Ich erinnerte mich genau an den Tag, an dem Nathan bei mir war. Er hatte nicht einmal daran gedacht, mit mir zu reden und zuzuhören, und genau diesen Fehler hielt ich ihm wieder vor. „Ach, jetzt willst du auf einmal reden“, zischte ich ihn an. „Und was war an dem Tag, als Nathan hier war?“
Er sah mich finster an. „Das ist etwas ganz anderes.“
„Nein, ist es nicht. Du hörst nur bei den Dingen zu, die dir gefallen, und sobald dir etwas gegen den Strich geht schaltest du auf stur.“
Alexej stand langsam auf und lief im Zimmer auf und ab. Nach einigen Minuten blieb er schließlich stehen. „Lilly, bitte hör auf damit.“
„Siehst du, genau das meine ich!“
„Hör sofort auf!“, schrie er.
Ich zuckte zusammen und starrte ihn nur an, während er seinen Gang fortsetzte.
„Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, doch du weißt ganz genau, dass es nicht stimmt. Ich bin immer für dich da gewesen, egal, was passiert ist. Ich habe deine ganzen verdammten Wunden versorgt, sobald du nur einen Kratzer hattest. Ich habe dich in die Kirche getragen, als du im Schlaf geschrien hast.“ Er stellte sich vor mich und seine Miene verdüsterte sich. „Und ich habe dich vor der Sukkubus gerettet, aber von dir kommt nichts.“
„Alexej, ich…“
„Von dir kommt nichts außer deinem dämlichen Gestotter von wegen es tut dir Leid. Denn etwas anderes, als ständig dein kindisches Verhalten zu entschuldigen, kannst du nicht.“ Er kam zum Bett zurück und beugte sich herunter, sodass er mir direkt ins Gesicht sehen konnte. „Außer zum Vögeln bist du eh zu nichts zu gebrauchen“, flüsterte er.
Ohne vorher nachzudenken, holte ich weit aus und traf Alexej mit der flachen Hand im Gesicht. Zuerst sah er mich verdutzt an, doch dieser Blick wich schnell seiner finsteren Miene. Er zerrte mich aus dem Bett und warf mich auf den Boden.
„Wag es dir nicht noch einmal, so mit mir umzugehen!“, schrie er. Ich kauerte mich auf dem Boden zusammen, doch er packte mich am Arm und zog mich wieder nach oben. „Als hättest du nicht schon genug angerichtet!“ Er ballte seine Hand zur Faust und schlug mir mitten ins Gesicht.
Ich schrie kurz auf und stürzte wieder. „Aljoscha…“, flüsterte ich, denn mehr brachte ich im Moment nicht raus.
Er stürmte durch mein Zimmer und warf dabei sämtliche Möbel um, während er nicht damit aufhörte, mich zu beleidigen. Ich hielt mir die Hände vor die Augen und hoffte, dass es endlich vorbei sein würde.
Und plötzlich hatte es Klick bei mir gemacht. Es war wie in meinem Traum. Alexej hatte mich geschlagen, ich spürte denselben Schmerz wie letzte Nacht. Noch dazu mein verwüstetes Zimmer und die Tatsache, dass er immer noch gegen mich wetterte.
Morgen würde all das vorbei sein. Er wäre nicht mehr mein Aljoscha, er wäre einfach nur irgendwer, der hier an der Schule lebte, doch das wollte ich erst recht nicht. Also stand ich vorsichtig auf und versuchte, mich ihm zu nähern. „Aljoscha… bitte hör auf damit…“, sagte ich so leise, dass kaum ich es hören konnte. „Aljo…“ Alexej drehte sich ruckartig um und stieß mir das Stuhlbein, das er gerade in der Hand hielt, ins Gesicht. Ich taumelte nach hinten und ließ mich gegen die Wand fallen, während sich alles drehte. Ich fing gerade noch seinen Blick auf und sah, wie er mich finster anlächelte.
„Das hast du davon“, rief er mir zu.
Und ab da lief alles wie in meinem Traum ab.
Ich lief ins Bad, um mich in Sicherheit zu bringen, doch natürlich fand er mich auch dort. Er schrie mich an, warf mich hinaus und bedrohte mich erneut.
Bis ich schließlich die Initiative ergriff und vor ihm weglief. Irgendwie war es schon seltsam; eigentlich war doch Alexej mein Hüter, der Mann, der mich beschützen sollte, doch nun musste ich vor ausgerechnet ihm fliehen.
Durch meinen Traum wusste ich glücklicherweise wohin ich laufen musste, um in Sicherheit zu sein, doch mir gefiel der Gedanke daran, alleine draußen zu schlafen, trotzdem nicht. Dennoch dauerte es nicht lange, bis ich einschlief und endlich wieder meine Ruhe hatte.
Am nächsten Morgen wusste ich zuerst nicht, wo ich mich befand. Ich hatte höllische Kopfschmerzen und das meiste, was gestern passiert war, hatte ich vergessen. Doch das Wichtigste war mir geblieben: Alexej hatte mich geschlagen und in allen Beziehungen beleidigt. Ich hätte nie gedacht, dass er zu so etwas fähig wäre, vor allem, nachdem wir uns im Schwimmbad so nahe gekommen waren. Anscheinend war alles nur eine Lüge gewesen, um mich rumzukriegen. Egal, was ich gedacht hatte zwischen uns zu spüren, egal, wie sanft er immer wieder zu mir war, es hatte nichts zu bedeuten.
Ich stand vorsichtig auf und stützte mich dabei an der riesigen Eiche neben mir ab. Wenn ich zu meinem Zimmer zurückging, würde Alexej vielleicht noch da sein, und es wäre sicher nicht gut, wenn mich ein anderer Schüler so sah. Also entschied ich mich dazu, zu Nathan zu gehen. Er hatte sein Zimmer ebenso wie Alexej im Schulgebäude, auch, wenn er nur als Gast hier war.
Langsam schlich ich mich an den Rand des Wäldchens und kundschaftete die Lage aus. Anscheinend schliefen noch alle, denn auch wenn Sonntag war, sobald die Schulglocke das erste Mal läutete, würden alle aufstehen. Ich traute mich aus dem Schatten des Baumes heraus und versuchte, einen Blick auf die Turmuhr zu erhaschen. Kurz vor 7. Halb 8 würden alle aufstehen.
Ich trat noch einen Schritt auf die Wiese und sah mich erneut um. Gut, es war niemand zu sehen, ich hatte also freie Bahn. Sofort sprintete ich los und lief zum Schulgebäude. Es lagen ungefähr 200 Meter vor mir, also kein großes Hindernis nach dem ganzen Lauftraining in der Schule. Doch gerade, als ich die Tür des Schulgebäudes öffnen wollte, kam er mir entgegen. Alexej sah mich kurz an, schüttelte den Kopf…
Und lief einfach weiter. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, was passiert war, ließ er mich hier einfach stehen. Keine Entschuldigung, kein weiterer Schlag, gar nichts. Bevor ich das Gebäude betrat, drehte ich mich noch einmal zu ihm um. Unsere Blicke trafen sich und für einen Moment glaubte ich, Tränen auf seinem Gesicht zu sehen.
Es dauerte eine Weile, bis ich Nathans Zimmer gefunden hatte, und kurz darauf läutete die Schulglocke. Ich hörte, wie der Tag für die anderen begann. Sie liefen schwatzend über den Schulhof, rannten über die Flure auf der Suche nach irgendwelchen Lehrern, oder blieben einfach auf ihrem Zimmer und drehten die Musik auf. Ich jedoch saß nur auf Nathans Bett und starrte vor mich hin. Es war, als wäre ich in einer Art Trance. Weder war ich dazu fähig, mich zu bewegen, noch Nathan zuzuhören, wie er auf mich einredete. Es war einfach alles zu unwirklich gewesen, was letzte Nacht passiert war.
Alexej konnte mich nicht geschlagen haben, nicht außerhalb eines fairen Kampfes. Er war mein Hüter, er war dazu bestimmt, mich mit seinem Leben zu schützen, egal was geschah. So wie gestern dürfte er nicht über mich reden, er konnte nicht einfach sagen, dass ich dumm, kindisch und zu nichts zu gebrauchen war. Das war nicht Alexej gewesen, irgendetwas musste mit ihm passiert sein, das ihn so verändert hatte. Irgendetwas, das auch mich bald einnehmen und verändern würde.
„Evi!“
Erschrocken sah ich zu Nathan auf, der mir eine Schachtel Zigaretten in den Schoß geworfen hatte.
„Nimm dir eine.“
Ohne großartig darüber nachzudenken, zog ich mir eine der Zigaretten heraus und zündete sie an. Okay, sonderlich gut schmeckte es beim ersten Mal wirklich nicht, doch wenigstens lenkte es mich etwas ab.
„Und, geht es dir besser?“
Ich nickte ihn vorsichtig an und blickte an mir herunter. Nathan hatte meine Wunden schon versorgt… „Danke, Nat…“, sagte ich leise.
„Kein Problem.“ Er stand von seinem Stuhl auf und setzte sich neben mir auf das Bett.
Langsam ließ ich mich zur Seite fallen und landete mit dem Kopf auf seinem Schoß. „Nat, ich will nicht mehr“, flüsterte ich.
„Evi, du schaffst das schon. Es gibt genügend andere Männer, und…“
„Es geht nicht nur darum! Alexej war sonst immer so nett, und nun… ich weiß auch nicht, was mit ihm geschehen ist, doch was, wenn mit mir dasselbe passiert?“ Ich legte die Hände vors Gesicht und zog langsam an meiner Kippe.
„Warum solltest du genauso werden?“
„Weil Alexej genau dieselbe Wut in sich trägt wie ich! Er hat mir so oft erzählt, dass er Dinge macht, in denen er sich nachher selber nicht wieder erkennt! Er wird auf einmal wütend oder schreit rum und…“
„Das heißt aber nicht, dass es bei euch auf dasselbe hinausläuft. Evi, ihr seid zwei völlig unterschiedliche Typen, wer weiß was er gerade für Probleme hat…“
Ich griff nach dem Aschenbecher und warf den Stummel hinein. „Darfst du hier drin eigentlich rauchen?“
„Keine Ahnung, bis jetzt hat noch niemand etwas dagegen gesagt.“ Nathan grinste mich an und strich mir sanft die Haare aus dem Gesicht. „Bitte mach dir nicht mehr so viele Sorgen deswegen. Du verunstaltest nur dein hübsches Gesicht.“
Ich lächelte ihn kurz an und schloss schließlich die Augen, um noch ein wenig zu schlafen.
Nach einigen Stunden stand ich vorsichtig auf und sah mich um. Nathan war nicht mehr hier… Damit er sich keine Sorgen machte, schrieb ich ihm einen kurzen Zettel, wohin ich gegangen war, und gab ihm auch über den Verlust einiger Zigarettenschachteln Bescheid, die ich mir in die Taschen des Hemdes stopfte. Schließlich verließ ich das Zimmer und schlich zurück zum Wohngebäude.
Als ich in meinem Zimmer ankam bemerkte ich zuerst, dass es wie nach meinem Ausbruch wieder ordentlich hergerichtet war. Allerdings glaubte ich nicht, dass diesmal die Schule dafür verantwortlich war, wahrscheinlich hatte Alexej selbst alles wieder zusammengeschustert, damit niemand etwas bemerkte. Ich kippte die Schachteln auf mein Bett und nahm mir eine der Kaffeetassen als Aschenbecher. Nathan würde man es sicher erlauben, im Gebäude zu rauchen, doch sobald es jemand bei mir merken würde, bekam ich sicher Ärger.
Dennoch steckte ich mir noch eine Zigarette an, bevor ich mich endgültig ins Bett fallen ließ und weiterschlief.
Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker bereits um vier Uhr, doch da Alexej mich sowieso ignorierte und das Training sicher ausfiel, stellte ich ihn nochmals auf halb sechs.
Als dieser mich erneut wachklingelte, gab ich mich schließlich geschlagen und ließ mich aus dem Bett fallen. Der Aufprall war zwar nicht besonders angenehm, doch wenigstens war ich nun wach. Ich schleppte mich den ganzen Morgen lang zwischen Bad und Stube hin und her, da ich immer irgendetwas vergaß, und war nach einer halben Stunde endlich fertig für die Schule. Naja, abgesehen von meinem (wieder einmal) blauen Auge und der riesigen Platzwunde an meiner Stirn.
Und kaum war ich in der Schule angekommen, ging das Getuschel auch schon los. Einige Schüler hatten anscheinend den Lärm in meinem Zimmer mitbekommen und drehten sich nun ihre eigene Story, während andere mir nur einen mitleidvollen Blick zuwarfen und dabei dezent auf meine Stirn und mein Auge zeigten.
„Okay, Leute“, platzte es schließlich aus mir heraus. „Wenn ihr irgendwelche Fragen habt, dann kommt zu mir, anstatt irgendwelche schwachsinnigen Gerüchte zu verbreiten.“
Schweigen.
„Also, doch…“
„Stimmt es, dass dein Schätzchen dich geschlagen hat?“ Die Menge trat aufgeregt zur Seite und offenbarte Alessia, die grinsend an einer der Säulen lehnte.
„Er hat mich in einem fairen Kampf getroffen, das ist alles.“
„Und woher die Platzwunde?“
„Ich bin gestürzt“, antwortete ich kühl. Dass alles nur eine Lüge war, brauchte keinen zu interessieren.
„Ach, aber ist es nicht seltsam, dass dir Nowakow nun, wo dieser Lärm bei euch im Zimmer war, aus dem Weg geht? Wo ist er eigentlich?“ Alessia sah sich verwirrt um. „Ihr habt euch doch immer so gut verstanden.“
„Hör zu, Alessia. Wenn du nicht sofort aufhörst, diesen Mist zu erzählen, werde ich dich genauso fertig machen wie bei unserem letzten Kampf“, fauchte ich.
„Ach, diese Niederlage werde ich schon verkraften.“ Sie trat näher an mich. „Die Frage ist nur, ob du es auch kannst“, flüsterte sie mir im Vorbeigehen ins Ohr.
Ich ballte die Fäuste, hielt mich jedoch zurück und lief an den anderen Schülern vorbei zu meinem Raum.
Wie ich schnell feststellte, war auch dort die Gerüchteküche ordentlich am Brodeln. Falls Alessias Bemerkungen auch hier angekommen waren, hielt ich die Aufforderung, Fragen an mich zu stellen, lieber zurück. Ich hatte keine Lust, mir noch mehr Anspielungen auf Alexej und mich anzuhören. Also setzte ich mich ruhig auf meinen Platz und versuchte, die durchbohrenden Blicke der anderen zu ignorieren. Nach einer Weile klingelte es endlich zur Stunde, doch Celina schaffte es noch rechtzeitig, sich neben mich zu setzen.
„Du, ich weiß, es wird dich mittlerweile nerven, aber… was ist dran an den Gerüchten?“
„Kommt drauf an, was du gehört hast.“ Ich sah kurz zu ihr und lächelte sie an, bevor ich mich wieder auf die Matheaufgabe konzentrierte, die der Lehrer an die Tafel geschrieben hatte.
„Naja, von Alexej und dir, dass… dass er dich geschlagen hat. Außerhalb eines Kampfes.“
„Das hat dir sicher Alessia erzählt, oder?“
„Nein, Felicia.“ Sie deutete mit dem Kopf auf das Mädchen, das in der letzten Reihe saß. Sie hatte lange, blonde Korkenzieherlocken und ein hübsches Gesicht, doch wie ich mitbekommen hatte, schien sie auch vom Charakter her sehr umgänglich zu sein, trotzdem hatte ich nie ein Wort mit ihr gewechselt.
„Oh, ja. Ich glaube aber nicht, dass sie es sich selber ausgedacht hat. Apropos Felicia… Willst du heut mit zu mir kommen?“
„Zum Lernen?“
„Quatsch, zum Feiern. Mit Christoph, Felicia und den anderen.“
„Hm, klar, warum nicht.“ Bisher hatte ich nie jemanden zu mir eingeladen, da immer Alexej bei mir war. Vorher war es mir auch nie aufgefallen, doch ich kannte meine Mitschüler kaum, da ich nur mit ihm etwas unternommen hatte, anstatt mal zu feiern oder einfach mit den anderen abzuhängen. Auch Celina schien das schon aufgefallen zu sein, sodass sie sich sichtlich über meine Einladung freute.
Ich erwiderte erfreut ihr Lächeln, bevor ich mich wieder dem Lehrer zuwandte.
Den restlichen Tag über verhielten sich die anderen relativ ruhig, doch meine Einladung zu der kleinen Party schien meine Klassenkameraden wieder in Aufruhr zu versetzen. Einige kamen sogar zu mir und fragten, ob sie auch kommen könnten, sodass ich langsam überlegte, ob mein Zimmer wirklich für die gesamte Klasse reichte. Also machten wir einen neuen Treffpunkt aus.
Nach dem Unterricht war ich schon auf dem Weg in mein Zimmer, als Zanolla wieder auf mich zugestürmt kam.
„Miss Ledoux, Ihr Vater möchte Sie sprechen.“
„Und? Wo ist er?“
Sie sah mich erstaunt an und schüttelte schließlich den Kopf. „Er wartet auf Ihrem Zimmer.“
„Genau da wollte ich doch gerade hin“, blaffte ich sie an und setzte meinen Weg fort. Okay, der Schulleiterin gegenüber so zu reden war vielleicht etwas krass, doch was konnte sie mir schon antun? Mein Vater überreichte der Schule regelmäßig hohe Spenden, doch wenn ich von der Schule fliegen würde, wäre der Scheck genauso schnell weg, wie er ihn ausgestellt hatte.
Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete, schlug mir sofort der Geruch von Zigarettenqualm entgegen. Naja, wenigstens wusste es mein Vater nun.
„Eveline, kannst du mir das bitte erklären?“
Noch bevor ich die Zimmertür geschlossen hatte, hielt er eine der vielen Schachteln hoch, die ich in meinem Nachtschrank verstaut hatte. „Die habe ich gestern von Nathan bekommen.“ Verdammt. Ich hätte ihn dann lieber nicht reinziehen sollen.
Mein Vater warf mir jedoch nur einen argwöhnischen Blick zu und beließ es dabei. „So, und nun zu der Sache mit Nowakow.“
„Dad, da ist nichts, wirklich.“
„Und was hatte das im Krankenhaus dann zu bedeuten?“
„Wir sind nur befreundet. Er ist mein Hüter, weißt du noch? Da kommt es halt mal vor, dass man sich besser kennenlernt und anfreundet anstatt ständig nur diesen förmlichen Scheiß abzuziehen.“
Er schüttelte den Kopf und erhob sich von meinem Bett. „Eveline, du kannst nicht mit jedem Mann, den du hier kennenlernst, etwas anfangen.“
„Aber das tue ich doch gar nicht!“, protestierte ich.
„Vielleicht noch nicht, doch ich sehe schon kommen, dass es wieder so losgehen wird.“ Oh man, jetzt redete er schon wie Alexej.
Ich sah ihn wütend an, riss eine der Zigaretten aus meiner Schachtel und zündete sie mir noch im Zimmer an. „Du weißt, dass das nicht stimmt“, zischte ich ihn an.
„Mach die Zigarette aus.“
„Nein, das werde ich nicht.“
„Eveline, mach die Zigarette aus.“
„Vergiss es.“
„Und ob du wirst, ansonsten werde ich dich sofort von dieser Schule abmelden!“
„Dann tu das doch!“, schrie ich.
Mein Vater sah mich entsetzt an und war tatsächlich für einen Moment sprachlos.
„Ich hasse es hier, ich wollte noch nie an diese verdammte Schule! Es war immer dein Wunsch, dass ich hierher gehe, doch mich hast du ja nie gefragt! Ich wäre viel lieber in Brest geblieben!“
Er wandte den Blick ab und durchquerte das Zimmer. „Ja, und in Brest hättest du dann als Hure geendet.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trat er auf den Flur hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Voller Wut warf ich ihm noch einen Stuhl hinterher, der mit einem lauten Krachen gegen das robuste Holz der Tür prallte. Nach diesem Gespräch brauchte ich unbedingt etwas zu trinken. Und damit meinte ich keine normalen Getränke, sondern sehr viel Alkohol für meine spätere Party.
Kurze Zeit, nachdem mein Vater gegangen war, verließ auch ich mein Zimmer und rannte zu Nathan.
„Was machst du denn hier?“
„Ich wollte dich um einen Gefallen bitten“, sagte ich mit dem bezauberndsten Lächeln, das ich aufbringen konnte.
„Okay, also… Komm erst mal rein.“
Ich tänzelte hinter Nathan ins Zimmer und beförderte die Tür mit einem gekonnten Tritt ins Schloss. Danach nahm ich neben ihm auf dem Sofa Platz.
„Worum geht’s?“
„Also, vielleicht hast du ja von der Party gehört, die heut im Wald steigen soll…“
„Hm, nein, bis jetzt noch nicht, aber danke für die Info.“
„Deswegen bin ich ja hier. Ich nehme dich auch mit hin, doch… wir bräuchten noch einige… Getränke… an die ich sehr schwer herankomme.“ Ich warf meine Beine über seinen Schoß und rückte näher an ihn.
„Du meinst Alkohol?“
Die Antwort sparte ich mir und lächelte ihn stattdessen nur an.
„Ja, klar, was sonst. Weißt du, Eve, ich hatte eigentlich gedacht, dass du mich gut genug kennst um zu wissen, dass ich dir wirklich jeden Wunsch erfülle, auch ohne dass du dich mir an den Hals wirfst.“ Er grinste mich an und zog mich noch näher an sich. „Allerdings nehme ich das Angebot sehr gerne an.“ Langsam beugte er sich zu mir, um mich zu küssen, und ich drückte ihn eilig weiter herunter. „Bin ich dir zu langsam?“
„Wir müssen dann noch die Party vorbereiten, Casanova.“
„Keine Sorge, die werde ich schon nicht vergessen“, flüsterte er, bevor er seine weichen Lippen auf meine drückte.
Nachdem wir eine geschlagene Stunde nur auf der Couch gelegen und rumgeknutscht hatten, rappelten wir uns wieder auf und plünderten alle Alkoholvorräte, die Nathan in seinem Zimmer hatte. Ihm tat es zwar selber weh, alles an ein paar Jugendliche abzugeben, doch da er wusste, dass er mit mir auf die Party gehen würde, war der Schmerz schnell vergessen.
Schließlich gingen wir mit voll bepackten Rucksäcken und Taschen an die entlegenste Stelle des Waldes. Dort gab es einen winzigen Teich, einige Bänke, und –was besonders für ein Lagerfeuer praktisch war- eine kleine Fläche, an der kein Gras mehr wuchs. Wir luden einfach alles hinter den Bänken ab und blödelten die restliche Zeit, bis die anderen kamen, einfach nur herum und zündeten ein kleines Feuer an.
„Hey Eve, ihr seid ja schon da!“ Celina kam zusammen mit Felicia, Christoph, Abbé und dem Rest der Klasse angelaufen.
„Klar, jemand muss euch doch den angemessenen Empfang bereiten.“ Ich lehnte mich weit nach hinten, sodass Nathan mich vorsichtshalber festhielt und fischte einige Flaschen Kirschlikör aus meinem Rucksack. „Das ist übrigens Nathan, unser heutiger Sponsor für den gesamten Alkohol.“ Ich grinste die anderen an und verteilte die Getränke.
„Cool. Danke, Nathan.“
„Kein Problem.“ Er grinste und sah sich meine Klassenkameraden, die sich gerade rund um das Feuer verteilten, genau an.
„Wie spät ist es eigentlich?“, fragte Felicia, die gerade ihr erstes Bier geleert hatte.
Nathan warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. „Kurz nach 11. Ihr habt doch morgen wieder Unterricht, oder?“
„Klar“, antwortete ich, bevor ich einen großen Schluck vom Wodka nahm.
„Oh, okay. Hättet ihr eure Party nicht aufs Wochenende verlegen können?“
„Dann würde es doch nicht so viel Spaß machen“, lachte Christoph, der im Laufe des Abends immer näher an mich gerückt war.
Innerhalb der nächsten Stunde verabschiedeten sich einige Leute und verschwanden auf ihr Zimmer. Anscheinend war es ihnen doch zu riskant, oder sie hatten einfach keine Lust, uns beim Trinken zuzusehen, denn Christoph, Nathan, Celina, Felicia und ich standen mitten im Geschehen. Während Celina sich die ganze Zeit über mit Lucas, der ebenfalls sturzbetrunken war, vergnügte, zog Felicia es vor, philosophische Gespräche mit Dominik und Stella zu führen.
„Aber weißt du“, sagte sie schließlich, „es is‘ toll, wie wir zusammhaltn.“
„Du bist doch völlig betrunken“, lachte Stella, die gerade mal vier Bier getrunken hatte.
„Ja, aber sieh‘s ma so, die Welt is‘ viel aufregender wenn du betrunkn bist.“ Sie musste über ihre eigenen, genuschelten Worte lachen und fiel dabei gegen Dominik, der ebenfalls in einen Lachanfall ausgebrochen war. „Oder Dominik?“
Doch statt der gewohnten Antwort fiel dieser über Felicia her, wodurch erneut beide in heiteres Gelächter ausbrachen.
„Eeeeeeve!“, ertönte Celinas Ruf von der anderen Seite des Feuers.
„Ja?“ Ich kämpfte mich zwischen Christoph und Nathan, die sich beide um mich stritten, nach oben.
„Kommst du her?“
„Geht nich“, rief ich, während Nathan mich bereits zurück zu sich zog und auf mich stürzte. „Nat, lass es. Ich unterhalte mich grad mit Cel.“
„Na und? Sie ist doch genauso beschäftigt.“
Mein Kichern wurde erneut von seinem drängenden Kuss erstickt.
„Lass mich ma ran.“ Christoph schubste Nathan ein wenig zur Seite und legte sich über mich.
„Christoph was‘n los?“
Er beugte sich zu mir und stieß mir seine Zunge in den Hals, doch unser Kuss währte nicht lange, da auch Nathan sich vernachlässigt fühlte. Doch als er an der Reihe war, drängte Christoph sich nicht dazwischen sondern zog es vor, mir hastig meine Sachen vom Körper zu reißen.
„Hey.“ Ich drehte mich zu ihm und lachte ihn an. „Aufhörn.“
„Schon fertig.“, lallte er fröhlich und stieß Nathan nun wirklich zur Seite.
„Willst du wirklich?“, fragte ich vorsichtig, schließlich lag ich nackt vor allen anderen, und jeder konnte uns sehen. Aber wenn ich genauer darüber nachdachte, war es mir doch egal. Außer Stella waren alle mindestens genauso betrunken wie ich, und sie würde kaum etwas weitererzählen.
Statt einer Antwort küsste er mich erneut und ich sah schon im Augenwinkel, wie Nathan uns näher kam.
„Wenn, dann musst du schon an uns beide denken.“ Er legte sich quer über mich und fing zuerst an, mich zu streicheln. Im Gegenteil zu Christoph schien Nathan nicht allzu betrunken zu sein, oder er ließ es sich einfach nicht anmerken.
„Was soll das hier werden?“, ertönte Alexejs tiefe Stimme. Er kam aus der Richtung des Schulgebäudes gelaufen und versuchte, die Situation zu überblicken, doch einiger unserer Truppe waren bereits davon gelaufen, so wie Celina und die anderen, die sich nun auf den Weg machten. Nur meine Männer und ich blieben dort, wo wir waren.
„Eveline, sind Sie verrückt geworden!?“, rief er entsetzt, als er mich nackt, noch dazu mit Zigarette und Wodka in der Hand, auf der Erde liegen sah. Dennoch konnte er seinen Blick nicht von meinem Körper abwenden und beäugte mich mit diesen klaren, eisblauen Augen, wie er es damals schon öfters getan hatte.
„Wolln Sie auch?“, fragte ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Stehen Sie sofort auf.“ Anscheinend hatte Alexej den Witz nicht kapiert.
Ich drehte mich langsam auf den Bauch, ging auf alle Viere und stand zum ersten Mal seit einigen Stunden wieder auf den Beinen. Und ich musste zugeben, so, wie sich alles drehte, war es nicht gerade ein angenehmes Gefühl. Ich schwankte noch ein Weilchen hin und her, bis ich mich schließlich an Christoph und Nathan wandte, die bis dahin nur dagestanden und das Geschehen beobachtet hatten. Bevor ich nur ein Wort gesagt hatte, reichte Nathan mir schon meine Sachen, lächelte mich an und zündete mir eine neue Kippe an, da meine andere irgendwann im Dreck gelandet sein musste.
„Danke“, brachte ich geradeso heraus, ohne irgendwie besoffen zu klingen, und stolperte in meinen Rock. Bei dem Oberteil half mir zum Glück Nathan, sonst hätte ich es höchstwahrscheinlich mit der Zigarette abgebrannt.
„Das hier behalt ich aber“, sagte Christoph, der stolz meinen BH und den String hochhielt.
„Gib her!“ Ich versuchte, an meine Sachen zu kommen, fiel jedoch irgendwie über meine eigenen Füße und landete auf Christoph, der mich immer noch angrinste und schließlich stürmisch küsste.
„Es reicht jetzt.“ Alexej zog mich nach oben und hielt mich weiter am Arm fest. „Sie gehen zurück auf Ihre Zimmer. Sofort.“ Er bedeutete Christoph und Nathan zu gehen, doch erst als ich ihnen zunickte und versicherte, dass alles gut gehen würde, setzten sie sich in Bewegung.
Kurz darauf ließ Alexej mich los, sodass ich mich ein wenig von ihm entfernen und auf eine der Bänke setzen konnte.
„Eveline, was haben Sie hier getan?“
„Spaß gehabt.“ Ich lächelte ihn wieder an und zündete mir eine neue Zigarette ein, nachdem ich die abgebrannte auf die Erde geworfen hatte.
„Hören Sie lieber auf damit.“ Er wollte mir gerade die Zigarette aus der Hand reißen, doch ich war schneller und drehte mich gekonnt von ihm weg.
„Sie habn mir nix zu sagn“, zischte ich ihn an.
„Ich nicht, aber Ihr Vater.“
„Ich habe keinen Vater mehr, seit ich an dieser gottverdammten Schule bin!“, schrie ich. Mit einem Mal war mein Verstand wieder völlig klar. Ich zog eifrig an meiner Kippe und war kurz davor, sie Alexej vor Wut ins Auge zu drücken.
„So etwas sollten Sie niemals sagen. Ihr Vater hat mehr für Sie getan, als Sie glauben.“
„Na klar. Kein Wunder, dass Sie zu ihm halten, Sie sind genauso ein Arschloch. Und ihr beide haltet mich für nichts Besseres als eine billige Hure, was für ein Zufall.“ Ich sprang wütend auf und wollte mich schon umdrehen um zu gehen, doch er zog mich erneut zurück und drückte mich fest gegen einen der Baumstämme.
„So, wie du dich verhältst, bist du es auch nicht!“
„Doch, ich bin immer noch besser als du, denn wenn ich ein Mann wäre, würde ich niemals die Frau schlagen, die ich liebe.“
Er riss entgeistert die Augen auf und ich glaubte für einen Moment, diese Zuneigung zwischen uns zu spüren, mit der er mir auch sonst begegnet war. Stattdessen wurde er wieder der eiskalte Krieger, entfernte sich einige Schritte von mir und schlug mir mit der Faust in den Bauch, sodass ich mich vor Schmerzen krümmte. „Meinst du, ich würde so etwas tun, wenn ich dich lieben würde? Du bist nichts wert, so wie deine Kinder nichts wert sein werden. Und ich hoffe, dass ich noch den Moment erleben werde, in dem ich deine widerwärtige Brut mit meinen eigenen Händen auslöschen kann.“ Er sah voller Hass auf mich herunter und holte gerade mit seinem Bein aus, als ich gegen ihn sprang und ihn zu Boden riss. Hastig suchte ich nach einer Waffe und fand neben mir eine Glasflasche, die ich an dem Baum neben uns zerbrach.
„Ich hasse dich!“, schrie ich ihn unter Tränen an. Dabei hielt ich ihm noch eine der Scherben an den Hals, doch Alexej schien das alles nicht zu interessieren. „Ich hasse dich, du Idiot...“ Ich senkte langsam den Kopf und ließ das Glas fallen.
Sofort schubste Alexej mich von sich und stand auf, als wäre nichts passiert. „Dann haben wir ja wenigstens etwas gemeinsam“, sagte er kühl. Er verschwand in die Richtung, aus der er zuvor gekommen war und ließ mich einfach liegen.