Der Neue
Ziemlich froh über die Tatsache, dass Wochenende ist, verbringe ich wohl oder übel die gesamte Zeit zu Hause. Einerseits, weil ich eh nicht wüsste wo ich hingehen könnte (mal abgesehen vom Garten und dem Supermarkt/Drogeriemarkt um die Ecke) und andererseits, ja, ich gebe es zu, wegen dem naheliegenden Umstand, der mit gewissen Personen zusammenhängt. Dass der Typ mich offensichtlich stalkt, ist irgendwas zwischen nervend und gruselig, aber dass er meinen Namen, bezieungsweise meinen Spitznamen kennt, den ja auch nur die wenigsten benutzen, ist da schon ein wenig komischer. Irgendwann, nach mehreren Stunden der Unkonzentriertheit für die gerade anstehenden Aktivitäten, versuche ich mir einzureden, er hätte mich verwechselt. Diesen Gedanken verwerfe ich jedoch schnell wieder und überlege, ob es nicht vielleicht doch ein Zufall war. Schließlich komme ich zu dem Schluss, dass ein Typ, in den ich hineingelaufen bin, mich verfolgt und anscheinend der festen Überzeugung ist, ich gehöre zu einer Art Fanclub und mich unbedingt dazu bringen will, das auch zuzugeben.
Am Montag Morgen muss ich mir eingestehen, dass ich keine andere Wahl habe, als heute einfach normal in die Schule und wieder heim zu gehen. Selbst wenn ich mir in Gedanken schon ausmale, was genau ich diesem Idioten an den Kopf schmeißen werde, falls er mir auf dem Schulweg auflauert. Im letzten Augenblick überlege ich mir das ganze anders. Für was hat man denn einen iPod, der eine gute Methode dafür ist, andere Leute zu ignorieren.
Fast schon enttäuscht komme ich in der Schule an, ohne auch nur eine Menschenseele gesehen zu haben, mit Ausnahme eines stinkigen Busfahrers, der beinahe eine weißhaarige Dame mit Krückstock überfahren hätte. Da ich stark bezweifle eine solche Perrücke könnte man kaufen, hake ich diese Oma als ungefährlich ab. Nachdem ich sämtliche Gesichter im Schulflur genauer inspiziert habe, reiße ich mich langsam zusammen und frage mich, ob sich so Wahnvorstellungen anfühlen. Vielleicht neige ich zu ernsthafter Paranoia? Die ersten drei Stunden Unterricht vergehen relativ ereignislos, außer dem Gekritzel auf den Ecken meiner Arbeitsblätter, die wiedereinmal zeigen, dass sich die kreative Ader meiner Mutter bei mir nie richtig durchgeschlagen hat und ich gebe meine gespielte Interesse am Unterrichtgeschehen auf. Während Mathe wäre ich beinahe eingenickt, doch als die Stimme des Lehrers zu mir durchdringt, zucke ich förmlich zusammen und frage: „Was? Äh, ich meine wie bitte, Sir?“
„Ich sagte gerade, dass sie sich mit ihrer Begeisterung ja gerdezu freiwillig für diese Aufgabe melden.“
„Welche Aufgabe denn?“ will ich verwirrt wissen.
„Sie dürfen unseren neuen Schüler herumführen, ihm die Schule zeigen und alle Fragen beantworten“, antwortet er mit einem fiesen Lächeln.
„Ach ja, wenn ich ihn irgendwo sehe richte ich es ihm aus“, erwiedere ich versuche mich daran zu erinnern, wann er einen Neuen erwähnt hat. Einige in der Klasse lachen, nur ich finde das Alles nicht besonders lustig.
„Er wartet im Sekreteriat, darauf, dass sie ihn abholen, wie ich bereits erwähnt habe, Miss…Wie war ihr Name noch gleich?“ Tja, so ist das immer am Anfang des Schuljahres. Die Lehrer entscheiden schon mal, ob sie dich mögen oder nicht und wie sie dich demendsprechend das Jahr über behandeln, aber deinen Namen lernen sie nie.
„Na dann werde ich ihn mal abholen gehen, oder?“ sage ich und stürme, ohne eine Antwort auf seine Frage und eine Erlaubnis abzuwarten, aus dem Raum. Auf dem Weg rege ich mich einerseits über diesen Vollpfosten von Lehrer auf und mache mir andererseits Sorgen wegen dem Neuen. Könnte es denn tatsächlich sein dass er…?
„Entschuldigen sie, ich soll hier den neuen Schüler abholen“, bemerke ich und die Sekritärin sieht auf.
„Ja, er wartet da drüben“, meint sie und deutet auf die Tür zum Nebenzimmer. Nervös gehe ich hinein und atme beim Anblick des blonden Haarschopfs der dort sitzt, auf.
„Bist du der Neue?“ frage ich.
„Ne, ich habe nur was ausgefressen und warte auf den Rektor.“ Mist! „Ich glaube du suchst den da drüben. Ist echt n´ komischer Typ. Hat mir vorher Glück gewünscht und gemeint, der Direx sei heute ganz gut drauf und wäre sicher nicht so streng mit mir“, erklärt er und nickt zur anderen Seite des Raumes hinüber. Als ich sehe, wer da lässig an der Wand lehnt, denke ich bei mir, dass ich es die ganze Zeit wusste und mich verzweifelt an die Hoffnung geklammert habe, es wäre wirklich nur irgendjemand, der plötzlich hier her gezogen ist.
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe. Vielleicht ein triumphierendes Grinsen auf seinem Gesicht, zur Verdeutlichung dessen, dass er dieses mal gewonnen hat. Obwohl ich ja selbst nicht verstehe, was er sich unter dem Ganzen vorstellt. Das „Gewinnen“ hört sich an, als halte er alles für ein Spiel, indem es nur darum geht, wer den fiesesten Spruch loslässt.
Statdessen lächelt er ein wenig nervös, so wie jemand, der nicht weiß, was los ist und wo er hingehört. Genau wie jeder normale Neue an einer Schule eben.
„Hey, ich bin Jared, aber nenn‘ mich Jay. Ich bin neu hier“, begrüßt er mich. Ach nee, denke ich.
„Ist ja eigentlich klar“, fügt er noch hinzu und verdreht dabei die Augen, wie wenn er sich total blöd vorkommen würde. Oh mann, ich kann es nicht glauben. Das will Jay doch jetzt nicht wirklich durchziehen? Glaubt er denn ich kauf ihm diese Hey-ich-bin-der-Neue-und-wir-kennen-uns-bis-gerade-eben-noch-nicht-Geschichte ab? Mal ehrlich, der Junge ist echt schräg drauf.
„Ich bin Keira, aber dass wissen wir ja beide oder?“ antworte ich und maschiere schon mal los in richtung Chemiesaal, denn gerade eben ist der Gong ertönt, ohne auf Jay zu warten. Nebenbei frage ich mich, ob Jared wohl sein richtiger Name ist. Oder ob er ihn erfunden hat, unter dem Vorwand er wolle mit über achtzehn doch noch mal einige Kurse in meinem Jahrgang machen, indem er wahrscheinlich der Älteste ist.
„Sag mal, gibt es hier eigentlich eine Art Schuluniform?“ kommt es plötzlich von hinten.
„Nur wenn du vorhast Cheerleader zu werden. Was ich dir aber abraten würde, nicht dass dir die Uniform vielleicht nicht stehen würde oder so, aber naja, du weißt schon…“, bemerke ich sarkastisch und drehe mich dabei unterm gehen zu ihm um, gehe jedoch immer noch in relativ zügigem Tempo vor ihm.
„Hm, dann bist du also kein Cheerleader? Einfach keinen Bock oder zu unsportlich?“ fragt er frech.
„Ehrlich gesagt finde ich diese dämlichen Puschel-Teile ziemlich lächerlich. Da ist so ein Football viel nützlicher.“
„Ach ja, und was willst du damit, ihn böse anstarren?“
„Naja, nehmen wir mal an da gibt’s nen Typen der dich nervt. So ein richtig harter Wurf könnte schon mal eine Gehirnerschütterung zur Folge haben, meinst du nicht auch?“
„Das meinst du doch nicht ernst oder?“ Nein verdammt, denke ich. Ist er echt so bescheuert und erkennt Sarkasmus nicht wenn er ihm auf der Nase hockt. Außerdem könnte ich nicht einfach einem neuen Schüler einen Football an den Schädel ballern. Aber vielleicht dem gruseligen Kerl, der mich verfolgt hat. Okay, eigentlich gibt’s da keinen Unterschied. Oder doch?
„Klar, was glaubst du denn.“
Tatsächlich ist er wie ausgewechselt. Als wären wir uns nie an dieser Ecke oder in diesem Laden begegnet. Und – selbst nach diesen paar Sätzen – merke ich, dass ich den Kontakt mit Menschen jeden Tag mehr und mehr vermisse.
„Ist es denn wirklich so schwer in unserer Schule einen Raum zu finden?“ fluche ich vor mich hin, als ich nach Hause komme. Jetzt schon, nach zwei Tagen, bin ich total genervt von meiner neuen Aufgabe. Oder liegt es einfach daran, dass ich keinen Bock habe bei dieser Scheiße mitzuspielen.
„Sag mal, bist zu dem armen Jungen auch so?“ will Mum wissen. Gestern, als ich ihr von Jay erzählt habe, hat sie mir erst einmal eine Predigt darüber gehalten, wie er sich fühlen muss, da er ganz neu hier ist und ich die einzige Vertrauensperson bin, die er hat, Blabla.
Diesmal gebe ich jedoch keine Antwort und stampfe sofort hinauf in mein Zimmer. Ich darf mich von seiner „netten“ Masche – auch wenn sie mehr durchgehend sarkastisch und ironisch ist – nicht unterkriegen lassen. Was kann ich denn dafür, dass ich von naturaus Menschen mag? Grrr, ich darf einfach nicht zulassen, dass ich anfange ihm zu vertrauen. Oder ihn sogar zu mögen. Zum Glück habe ich sein Verhalten unserer ersten Begegnungen noch deutlich in Erinnerung und muss mir immer wieder einprägen, dass er mich VERFOLGT hat. Hallo? Vielleicht ist der Typ ja ein Killer? Oder einfach nur geisteskrank? Möglicherweise höre ich demnächst in den Nachrichten von einem Gestörten, der aus einer Psychatrie entlaufen ist? Um mich zu beruhigen, durchsuche ich erstmal meine iPod-Playlist nach einem Lied und entscheide mich für eins von Evanescence, die ich letztes Jahr auf einem Konzert live gesehen habe. Dann schalte ich den Laptop an und schaue kurz auf Facebook vorbei, um mich abzulenken. Fünf Leute haben ihr Profilbild aktualisiert, Drei sind in einer Beziehung, und alle anderen haben irgendeine Statusmeldung geliked. Super spannend. Jetzt ist Jay schon wieder in meinen Gedanken. Soll ich ihn in Facebook adden? Ne, sonst denkt er noch er interessiert mich. Mein Blick fällt auf das riesige The Vampire Diaries – Poster quer über meinem Schreibtisch und mir fällt wieder ein, dass gestern ja die 20. Folge der dritten Staffel im Fernsehen kam. Verdammt, jetzt muss ich die Online schauen. Wenigstens lenkt mich das von nervenden Stalkern ab.
Heute habe ich doch tatsächlich gemerkt, dass Jay die Hälfte meiner Kurse belegt hat. Aber zur allgemeinen Erleichterung sitzt er nicht neben mir. In keinem. Denn die „beliebten“ Mädchen, vor allem Caroline und ihre Clique haben in ihm offenbar ihr neustes Ziel entdeckt und schließen schon Wetten darüber ab, wann sie ihn sich angeln werden. Ich würde den Armen zwar eher als ihr nächstes „Opfer“ bezeichnen, aber scheinbar gefällt ihm das Ganze doch irgendwie. Wie allen Jungs an der Schule. Obwohl ich ja nicht wirklich nachvollziehen kann was genau bitte an Caroline’s pink-lackierten-3-Zentimeter-Krallen so toll sein soll.
Aber wenigstens hat er jetzt etwas, mit dem er sich beschäftigen kann und muss mich nicht dauernd irgendetwas fragen. Andererseits wird er die „Coolen“ wohl kaum um den Weg zum nächsten Klo fragen, schließlich wäre das eine Gefahr für seinen neuerdings errungenen Coolnessfaktor. Und mit dieser Annahme habe ich doch auch noch Recht. Denn in der Mittagspause, die ich auf der Treppe zu den Musiksälen verbringe, kommt er, von einem bis zum anderen Ohr grinsend und mit einem pinken Kussmundabdruck auf der Wange auf mich zu.
„Tut mir leid, aber ich habe keinen Lippenstift in Farbe Baby-Doll bei mir“, fahre ich ihn an.
„Glaubst du denn ernsthaft dass ich was von denen will? Ach komm“, meint er und es wundert mich, dass er meine Aussage nicht wie gewöhnlich überhört hat.
„Und, was willst du jetzt?“
„Ich wollte fragen, ob du nicht vielleicht Lust hättest irgendwann was zu unternehmen.“ Dass er sich doch tatsächlich traut das jetzt zu fragen.
„Wie, mit dir?“ Kann ja sein, dass er mich verarschen will.
„Nein, mit dem Weihnachtsmann. Natürlich mit mir, du Dummerchen“, erklärt er. JA, er will mich eindeutig reinlegen. Aber wir können ja mal mitspielen. Gute Miene zum bösen Spiel sozusagen.
„Klar, an was hast du denn so gedacht? Ich bin für soziemlich alles offen.“ Naja, wenn er eine verlassene Straße bevorzugt, würde ich vermutlich krank machen.
„Was hälst du vom…Pizza Centre? Nur so, ich lade dich ein weil du mir immer hilfst“, schlägt er vor. Gut, damit hat er festgestellt, dass das kein Date ist. Wenn es eines gewesen wäre, wäre ich nicht gekommen.
„Das Pizza Centre?“ platze ich heraus. Das hätte ich als aller letztes erwartet.
„Ja, hast du was dagegen? Wir haben da im Keller unseren Proberaum und ich dachte mir es wäre ganz okay…aber wenn du da nicht hinwillst…“
„Du spielst in einer Band?“ Das sind ja wirklich interessante Tatsachen, die da ans Licht kommen, mal sehen, was es über ihn noch so zu wissen gibt.
„Äh, ja. Ich bin Songwriter und spiele Schlagzeug und manchmal, wenn wir einen Song spielen, der grauenvoll schief ist auch Lead-Sänger…“ Er grinst.
„Dein Mund steht offen“, bemerkt er, nachdem ich ihn eine Minute lang angestarrt habe und lächelt mich frech an.