Zusammenkunft unter Lunas schwindendem Angesicht
Hoch über dem Erdboden leuchtete der abnehmende Mond zwischen einzelnen Wolkenbänken hindurch, das silbrig erscheinende Licht badete die Baumwipfel eines einsamen und beinahe von Menschenhand unberührten Waldstückes in seinem einzigartigen Glanz. Und tief in diesem kleinen Stück geschützter Natur erschien, als der Mond seinen höchsten Punkt erreicht hatte, flackerndes Leuchten.
Als schwacher, kaum zu erahnender Schein bahnte sich das Licht von Feuern seinen Weg durch das Unterholz des Waldes, nur wenige Meter konnte das Leuchten die nächtlichen Schatten unter dem Dach des Waldes zurückdrängen und so den Suchenden den Weg weisen. Doch diese Suchenden schufen sich ihre eigene Wege, fanden auch ohne Hilfestellung ihre ganz persönlichen Pfade zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch, wobei ihre Bewegungen sich in nächtlichen Wispern und Rauschen des Waldes verloren, als wären sie selbst Schatten ohne Körper. Nicht einmal die nächtlichen Jäger wurden in ihrer Nahrungssuche gestört, obwohl die Neuankömmlinge mehrere Male die Pfade unterschiedlicher Räuber und ihrer Beute kreuzten. Vor den Augen der schleichenden Gestalten, schälte sich schließlich, nach etwa einer Stunde des Pirschens zwischen den Schatten des nächtlichen Waldes, eine kleine Lichtung aus den Tiefen der unberührten Vegetation, die der Ursprung des schwachen Lichtes und damit auch das räumliche Ziel der nächtlichen Reise darstellte. Schon der erste Blick verriet, dass dieser Ort sorgfältig für ihren ungewöhnlichen Zweck vorbereitet worden war und dabei das unterschwellige Gefühl verbreitete, auf die ankommenden Personen zu warten. Der Geruch von Ölen, brennenden Kräutern, Baumharz und vor kurzem bewegter Erde hing wie ein sanfter Schleier in der Luft und verstärkte so noch die Empfindung, dass man Zeuge von etwas außergewöhnlichem und besonderem sein würde, für die auf die Lichtung tretenden Personen.
Die flackernden Flammen der kleinen, in bronzenen Schalen gefangenen, Feuer erleuchteten mit ihrem gelben, warmen Schein die kleine Waldlichtung und malten tanzende Schatten auf Sträucher und Bäume. Jeder kleine Windhauch brachte Bewegung in Flammen und Schatten, die in ihrem gegensätzlichen Tanz darauf reagierten und das nächtliche Gesicht der Lichtung in fließendem Wandel hielten, nicht unähnlich dem Wesen der anwesenden Personen, die sich in lockerem Kreis um die Feuerschalen verteilt hatten. Der Boden der Lichtung war von Blättern, Ästen und anderen störenden Elementen befreit worden, so dass der bloße Waldboden zu sehen war, was auch den Grund für den starken, erdigen Geruch erklärte, der sich so passend in das olfaktorische Arrangement der Kräuter und brennenden Öle einfügte. In Mitten der fünf symmetrisch angeordneten Feuerschalen saß eine dunkelblonde Frau, deren lange Haare in einem einfachen Zopf gebunden waren, im Schneidersitz auf dem bloßen Waldboden. Das kurzärmlige, ausgeblichene Baumwollhemd und die Jeans an ihren Beinen zeigten Spuren von Ruß und anderem Schmutz, die dem aufmerksamen Beobachter deutlich machen sollten, dass diese sich noch nicht lange in einem so aufgeräumten Zustand befand. Etwas Baumharz hatte sich auf die rechte Wange der Frau verirrt, so dass es die Stellung der hohen Wangenknochen betonte, die allerdings vom eindringlichen Blick der bernsteinfarbenen Augen in der Wahrnehmung des Betrachters verdrängt werden würden.
Und der Blick dieser Augen war es auch, der die Neuankömmlinge schweigend Platz nehmen ließ, ohne Fragen zu stellen oder durch Worte die friedliche Stille des Ortes zu stören. Schweigend und ebenso leise wie während ihres vorangegangenen Weges durch den Wald, nahmen die sechs Personen, vier Männer und zwei Frauen Plätze auf dem Waldboden ein, wobei sie sich unbewusst zu einem Halbkreis ausrichteten, dessen Mitte von den Feuerschalen und der dunkelblonden Frau gebildet wurde. Diese verfolgte mit ihrem Blick die Bewegungen der Anderen, wobei die leichten Drehungen ihres Kopfes die Kette um ihren Hals in Bewegung setzte, so dass die aus Knochen geschnitzten Elemente leise über das Hemd rieben und mit ihren wie poliert wirkenden Flächen das Licht der Feuer für Sekundenbruchteile einzufangen schienen. Und so wie der flackerende Schein der Feuer, die Gestalt in ihrer Mitte mit Licht und Schatten zeichnete, so wurden auch die, sich niederlassenden Gestalten erhellt, so dass sich ihre Jugend, die in Gesicht und Körpersprache zu erkennen war, nicht länger verbergen ließ. Ebenso blieben die neugierigen und ein wenig ratlosen Blicke, der im Feuerschein leuchtenden Augen, in Richtung der schweigsamen Frau nicht verborgen, deren schmale Lippen von einem Lächeln gekräuselt wurden, welches nur zum Teil freundlich war und die bernsteinfarbenen Augen nicht ganz erreichen konnte. Und gerade weil sie die Fragen in den Blicken ihrer jungen Zuschauer wahrgenommen hatte, blieb sie schweigend sitzen und dehnte das Schweigen noch weiter aus, so dass nach den leisen Bewegungen erneut nur die leisen Stimmen der Flammen und des Windes auf der Lichtung wahrzunehmen waren, während sie ihre Blick über die, vor ihren überschlagenen Beinen, ausgebreiteten Tontiegel wandern ließ und dabei die Vollständigkeit der gemahlenen Kristalle, Salze und Kräuter überprüfte, die sie für das folgende Geschehen benötigen würde. Sie konnte förmlich spüren, wie ihr Schweigen an den Nerven ihrer Gäste zu nagen begann und dadurch wieder Unruhe in den neugierigen Geistern erzeugte, die schon bald auf Befriedigung drängen würde. Und gerade als das deutliche Atemholen zu hören war, welches einer Frage vorrausgehen musste, richteten sich ihre bernsteinfarbenen Augen wieder auf versammelten Personen und gebot mit ihrer erhobenen linken Hand Ruhe.
„Ihr alle seid hierher geschickt worden, um die Legenden über unsere Herkunft… und unsere Aufgabe zu erfahren. Jeder von euch ist noch grün hinter den Ohren und denkt doch, dass er nach ein paar Monaten schon alles weiß…“ begann sie mit klarer, kraftvoller Stimme zu sprechen und obwohl die Worte kaum lauter als ein Flüstern waren, schienen sie die gesamte Lichtung zu erfüllen und alles andere verstummen zu lassen. Wieder musste sie die Hand heben, als einer der Männer einen Einwand vorbringen wollte und diesen so zur Ruhe auffordern, was dieser mit einem ärgerlichen Knurren aufnahm, aber dennoch der Aufforderung Folge leistete.
„…Jetzt spreche ich und ihr werdet mir zu hören, bis ich meine Geschichte erzählt habe. Danach könnt ihr Fragen stellen. Aber erst NACHDEM ihr gehört habt, was ich zu erzählen habe. Verstanden?“ fuhr sie weiter fort, in ihrer Stimme klang nun ein knurrender, drohender Unterton mit, der wenig mit gespielter Zurschaustellung zu tun hatte, sondern mit der beängstigenden Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit eines wilden Tieres erklang. Dabei schienen ihre Augen wie von einem inneren Feuer erhellt zu leuchten und ihre Lippen hatten sich zu einem Ausdruck verzogen, den man ein Lächeln hätte nennen können, wenn sich dabei ihre Zähne nicht so deutlich gezeigt hätten, die feucht und scharf im Schein der kleinen Flammen glitzerten. Die Reaktion auf Stimme, Körpersprache und Worte erfolgte unverzüglich, die Häupter der Zuschauer senkten sich und der Störenfried stieß ein leises, erschrockenes Keuchen auf und neigte nicht nur seinen Kopf, sondern drehte ihn seitlich und bot so symbolisch seine Kehle dar, am ganzen Körper bebend und den schwachen Geruch von an Panik grenzender Angst verströmend.
„Nachdem das nun geklärt ist, können wir ja endlich anfangen.“
Mit diesen Worten streckte sie ihre Hände nach den Tontiegeln aus und begann deren Inhalt mit langsamen Bewegungen in die brennenden Bronzeschalen zu geben. Beinahe augenblicklich veränderte sich die Stimmung auf der Lichtung als die Flammen auflodernd ihre Farben wechselten, der Geruch der verbrannten Kräuter die anderen Gerüche der Lichtung überlagerte und dichter, grau-weißer Rauch aufzusteigen begann. Dies alles hätte nun ein Chaos aus den unterschiedlichen Sinneseindrücken werden müssen, doch stattdessen bildete sich, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, ein kontrollierter Ablauf, welcher den leise gesummten Anweisungen der Frau zu folgen schien. Wie Schlangen kräuselten sich die Rauchsäulen über der blonden Frau zusammen, innerlich erleuchtet von gefärbten Bahnen aus Feuer, die den Gesetzen der Physik zu trotzen schienen, und bildeten so ein Sphäre aus Rauch und Feuer, die immer weiter anwuchs, bis innerhalb des kugelförmigen Gebildes mit einem Mal eine Landschaft, geformt aus eben jenem Rauch und den feurigen Bahnen, Gestalt anzunehmen begann.
„Vor langer Zeit, als die Welt der Geister und die Welt des Körperlichen sich ohne Grenzen überlappten, als Geister, Mensch, Pflanze und Tier sich noch eine Ebene der Existenz teilten. Vater Wolf hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Welt der Sterblichen und die Welt der Geister in Balance zu halten, so dass keine Seite über die andere einen Vorteil erlangen sollte. Als mächtigstem Jäger im Reich der Geister, mit dem Beistand seiner Geliebten Luna, die ihm acht Söhne schenkte, konnte er diese Aufgabe für Jahre, Jahrhunderte erfüllen und mit der Zeit standen ihm, dank seiner Söhne auch, Mitstreiter bei, die ihm halfen beide Welten im Einklang zu halten. Doch wie bei allem was existiert neigte sich auch die Zeit des großen Wolfes irgendwann dem Ende zu und wie in einem Rudel weltlicher Wölfe, spürten und fühlten die Söhne die Schwäche des Vaters und begannen ihn herauszufordern. Noch konnte der Vater Wolf die Kämpfe für sich entscheiden, da keiner der Söhne gewillt war ihn zu töten. Doch schließlich….“
Mit klarer, fester Stimme und dem selbstbewussten, getragenen Tonfalls einer erfahrenen Vortragenden begann die blonde Frau zu erzählen und der Inhalt ihre Worte spiegelte sich im Geschehen innerhalb der Sphäre wieder, nicht nur Bilder konnten die verblüfften und gleichzeitig gebannten Zuschauer wahrnehmen, auch schwache Geräusche und Gerüche der Ereignisse, welche die Sinneseindrücke vervollständigten, drangen langsam in ihr Bewusstsein vor. Und diese Sinneswahrnehmungen waren so stark und einnehmend, dass die beobachtenden Personen, einer nach dem anderen, in eine Trance fielen und so die Geschichte nicht nur sehen, hören und riechen konnten, sondern sie im wahrsten Sinn des Wortes miterleben würden.
Mit einem zähnefletschenden Lächeln im Gesicht fuhr die blonde Frau mit ihrer Erzählung fort und warf wieder etwas von den zerstoßenen Kristallen in die, auf den bronzenen Schalen brennenden, Feuer, so dass die Flammen einmal mehr aufloderten und der Geruch der jenseitigen Welt auf der Lichtung Einzug hielt.