Pantothenic Acid warfen gerade in Windeseile ihren Kram in den Tourbus. Sie waren spät dran. Die Proben mit Bandneuzugang Poison Dave, hatten länger gedauert als geplant, doch schließlich hatte die Band nach dem mysteriösen Tod ihres ursprünglichen Gitarristen Mike vor über einem Jahr lange pausiert und so waren Frank, Incredible Jürgen und Paul, der sich Dr. Pepe nannte, etwas eingerostet. Bis schließlich Dave dazu kam ... Poison Dave brachte die nötigen Eier mit, um dem verbliebenen Häufchen Elend von einer Band kräftig in den Arsch zu treten. Hochgewachsen wie ein Baum und mit atemberaubend langer Mähne, war er die Inkarnation des Rock’n’Roll. Vor allem aber war Dave ein Gitarrengott. Er spielte die Elektroaxt, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan - was, wie er selbst behauptete, auch der Fall war. Wenn Dave in die Saiten schlug, standen die Münder reihenweise offen. Zum Solo wanderte seine Hand selbstsicher über das Griffbrett wie Jesus übers Wasser. Dave hatte Pantothenic Acid gerettet und heute Abend stand endlich der große Come-Back-Gig an.
»Dave, hast du die verdammte Setlist eingepackt?«, fragte Frank, der am Heck des Busses stand und Dave beim Festmachen der Instrumente zuschaute.
»Immer cool, Mann! Alles schon eingepackt«, murmelte Dave durch geschlossene Lippen, in denen eine heruntergebrannte Zigarette klemmte.
Frank warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Sag mal, willst du heute echt Brain Slasher spielen? Die Nummer haben wir nur dreimal geprobt. Wir könnten auch problemlos ein paar andere ...«
»Immer cool, hab ich doch gesagt«, fuhr Dave dazwischen. »Hat doch gut geklappt in der Probe, oder nicht? Und wenn sich einer verspielt, kann sich nach dem geilsten Solo seit dem Urknall sowieso keiner mehr dran erinnern.«
»Dein Wort in Gottes Gehör«, seufzte Frank und ging ins Haus zurück, um beim Packen zu helfen.
»Scheiße Paul, wo hast du den dämlichen Zettel mit der Adresse hingelegt?«, brüllte Jürgen, der heute den Bus fahren würde, aus der Küche, die zum Proberaum gehörte und eher wie das Labor eines mexikanischen Drogenbarons aussah.
»Den Arsch habe ich mir damit abgewischt«, rief Dr. Pepe, dem Paul zu unspektakulär für sein Bühnenalterego klang, während er die Becken des Schlagzeugs in den Bus wuchtete.
»Hergott, Paul, das ist nicht witzig. Seh ich aus, als hätte ihr mir ein Navi an die Backe geklebt?«
»Komm runter, sonst krieg ich heute dein Bier, Mann. Die Adresse hab ich im Kopf. Fahr einfach in die Paulusstraße. Den Schuppen erkennst du eh an den langhaarigen Verrückten, die auf uns warten und die Vorbeigehenden um Kleingeld anbetteln.«
In der Paulusstraße pulsierte derweil bereits das Leben, obwohl es längst stockfinster war und nur die Laternen ihre diffusen Lichtkegel auf dunklen Asphalt warfen. Über die Bürgersteige schlenderten immer wieder kleine Gruppen von Kindern und Jugendlichen in ausgefallenen Kostümen, vollgepackt mit schweren Tüten voller Süßigkeiten. An Halloween auch jenseits von Amerika längst ein gewöhnlicher Anblick, inzwischen fast so traditionell geworden wie Weihnachten, und in eben jener Tradition fand auch dieses Jahr wieder das inzwischen legendär gewordene »Rock Your Ass To A Pumpkin!«-Minifestival in Kingsleys Bretterverschlag statt, einer zum Konzertsaal umgebauten alten Schulaula.
Für den schmalen Taler gab es hier Jahr für Jahr kräftig was auf die Ohren. Das Festival war inzwischen so beliebt, dass der Besitzer des heruntergekommenen Ladens die Gäste übereinandergestapelt hätte, wenn man ihm nicht wegen der Brandvorschriften aufs Dach gestiegen wäre. Dieses Jahr war die Halle besonders üppig gefüllt, denn neben Bands wie Aki Tatsu, Wolkenhammer und Railways Of Greece waren es natürlich vor allem Pantothenic Acid, die heute Nacht ihren ersten Gig nach langer Zeit und natürlich mit neuem Gitarristen geben würden.
Die schwitzende Menge war bereits unruhig, da es nach Wolkenhammer eigentlich so weit sein sollte. Immer wieder schlich sich ein kleiner übergewichtiger Mann, der sich als so etwas wie Elvis verkleidet hatte, dazu aber eine unpassende dicke Brille trug, auf die Bühne, um zu verkünden, dass Pantothenic Acid sich noch etwas verspäten würden. Noch ein, zwei Mal diese schlechte Nachricht, so dachte er, dann würden diese Wahnsinnigen wie die hungrigen Löwen auf die Bühne stürmen und ihn in Stücke reißen. Er gestikulierte wild mit den Händen, um sich etwas Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Pantothenic Acid brauchen noch ein paar Minuten, aber ich ... ich darf bekannt geben, sie sind, also ja, sie sind bereits auf dem Weg«, stammelte er aufgeregt ins Mikrofon. Es war eine spontane Lüge, aber die Hoffnung starb zuletzt und die Hoffnung sorgte auch dafür, dass niemand anfing, Kinsleys Bretterverschlag zu Kleinholz zu verarbeiten.
Wie ein gebeugter Sklave schlich der kleine Mann sich gerade wieder von der Bühne, als ihm einer der Veranstalter etwas zurief. Sofort stand das zu kurz geratene Elvisduplikat kerzengerade. Ein Grinsen schlich sich auf sein pausbäckiges Gesicht und sofort macht er kehrt und rannte zurück ans Mikrofon. »Ladies and Gentlemen, ich darf verkünden, dass die grandiosen ... die unvergleichlichen ... die legendären ... Pantooooothenic Acid angekommen sind! Nur ein paar Minuten noch, dann werden sie den Bretterverschlag mit ihrer Musik in den Vorhof zur Hölle verwandeln und ...«
»Halt die Schnauze!«, rief jemand aus der Menge.
»Hör doch auf zu labern und verpiss dich endlich!«, schrie ein anderer und bekam gehörigen Applaus dafür.
»Dämliche Saubande«, murmelte der kleine Mann und schlich noch immer grinsend und winkend von der Bühne. Der Vorhang schloss sich und im selben Moment knatterte der völlig verrostete VW-Bus mit Jürgen am Steuer auf den Hof.
»Los Jungs, wir sind mehr als spät dran. Bei Guns N’ Roses habe ich die scheiß Warterei gehasst und ich will nicht genauso enden«, sagte Jürgen. Schon flogen die Türen auf, alle vier Bandmitglieder sprangen aus dem Bus und machten sich daran, die Instrumente in den Bretterverschlag zu schaffen.
Der kleine, dicke Mann, der gern wie Elvis ausgesehen hätte, stürmte laut keuchend wie ein Marathonläufer aus dem Gebäude und hielt auf die Band zu. »Endlich, Jungs! Seid ihr denn wahnsinnig? Die rasten da drinnen schon komplett aus. Wollt ihr, dass die mich lynchen?«
»Wenn’s zur Show passt?«, brummte Paul und drängte sich mit Bass und Gitarre unter den Armen vorbei.
»Hier, mach dich mal nützlich«, sagte Dave und drückte dem verdutzten Mann die Becken in die Hand.
Drei Kinder, verkleidet als Dracula, Freddy Kruger und ein in ein weißes Laken gehülltes Gespenst erspähten das rege Treiben und eilten mit ihren Tüten auf den Hof. »Süßes, sonst gibt’s Saures!«, rief das Gespenst und hielt prompt den bereits gut gefüllten Beutel auf. Der hünenhafte Dave sah auf die drei Dreikäsehochs herab und das Gespenst hielt die Tüte etwas höher.
»Macht euch vom Hof, sonst knack ich eure Schädel und zieh mir euer Hirn durch die Nase rein«, gab Dave mit bierernster Miene zu verstehen.
»Oh«, machte das Gespenst, schluckte hörbar laut und trat drei Schritte zurück. »Weg hier, Leute«, flüsterte Miniaturdracula und schon waren die drei auf dem geordneten Rückzug.
In Kingsleys Bretterverschlag konnte man die Energie des Abends riechen. Sie duftete nach Schweiß, Bier, Zigaretten und etwas Undefinierbarem, dessen Ursprung niemand, der es wahrnahm, wirklich ergründen wollte. In der Zuschauerhalle wartete eine elektrisierte Menge auf den finalen Auftritt. Dicht an dicht gedrängt, standen die verschwitzten Liebhaber der lauten Musik vor der Bühne und starrten auf die geschlossenen Vorhänge, hinter denen der eifrige Aufbau der Instrumente nur zu erahnen war. Bald würde es so weit sein, die Gottheit es Underground-Punkrock würde zurückkehren, vor ihre Jünger treten und mit ihrem Sound die Scheiße aus ihren längst geschändeten Trommelfellen herausspielen.
Hinter der Bühne ging der Aufbau deutlich weniger spannend vonstatten. Die Jungs stolperten über ihre eigenen Füße, während sie ihre Instrumente herbeischleppten. Selbst der kleine, dicke Elvis war noch immer dabei, bepackt wie ein Esel und unter seiner Last schnaufend wie ein asthmatisches Nilpferd. Dave und Frank waren dabei, das Schlagzeug zusammenzuschrauben, weil alle in der Band erstens der Auffassung waren, dass es zum Rock’n’Roll gehörte, alles selbst zu erledigen und zweitens - was weitaus wichtiger war - auch kein Geld da war, um irgendwelche erfahrenen Roadies mit der Drecksarbeit zu beauftragen.
»Hey Dave«, flüsterte Frank.
»Hey Frank?« Dave hatte bereits eine neue Zigarette im Mundwinkel, die auf der abgedunkelten Bühne immer wieder wie ein Glühwürmchen aufglimmte und dann wieder erlosch.
»Ich finde, wir sollten nicht Brain Slasher spielen.«
»Und warum nicht? Ich hab doch gesagt, wenn ihr die Nummer nicht draufhaben solltet, ich weiß, wie sie geht. Solange Jürgen seinen Text einigermaßen auf die Reihe kriegt, ist alles easy.« Dave zog lässig an seinem Glimmstängel.
»Ich weiß nicht«, gab Frank zur Antwort. »Irgendwie macht mir die Nummer auch Angst. Das mit den Quinten im Solo ... Die Lautstärke ... das klingt ...«
»... wie nicht von dieser Welt?«, ergänzte Dave und grinste. Im Halbdunkel der geschlossenen Bühne wirkte sein Lächeln, als wäre der Teufel persönlich gerade dabei, Zigarette rauchend das Schlagzeug zusammenzuschrauben. »Glaub mir Brain Slasher wird legendär. Die Nummer macht ihrem Namen alle Ehre und wird den Leuten hier das Hirn wegpusten.«
»Genau das ist meine Befürchtung«, murmelte Frank. »Ich finde das Ding zu schrill. Auf Platte klingt das sicher geil, aber live bluten mir die Ohren davon.«
»Hm«, machte Dave.
»Willst du wenigstens auch Ohropax? Jürgen und ich benutzen die und spätestens, wenn Brain Slasher dran ist, lohnt sich’s.«
»Pah! Banausen!«, brummte Dave, stand auf und ging zum Gitarrenständer.
Wenige Minuten später waren auch die Instrumente gestimmt und alles war bereit für den großen Auftritt, den ersten Gig seit einem Jahr, das erste Mal mit Poison Dave außerhalb des Proberaums. Der kleine, dicke Mann sprang wie ein Kastenteufel durch die Lücke im Vorhang und verkündete der Menge, worauf alle so lange gewartet hatten. »Es ist mir eine große Ehre«, begann er, »euch heute Nacht ... in diesem denkwürdigen Moment ... die großen ...«
»Halt den Rand!«, brüllte jemand aus dem unruhigen Publikum. Auch er bekam anerkennenden Applaus.
»Mieser kleiner Scheißer!«, flüsterte der dicke Elvis, grinste immer jedoch weiterhin sein aufgeklebtes Grinsen und kürzte seinen Vortrag ab. »Nur heute in Kingsleys Bretterverschlag: Pantooooothenic Aciiiiid!« Während er den Bandnamen langgezogen wie einen Kaugummi ins Mikrofon schrie, hüpfte er wie ein glücklicher Flummi mit schmalziger Perücke auf und ab. Dann rannte er von der Bühne, während hinter dem Vorhang ein donnerndes Gitarrenriff seinen Anfang nahm. Die Menge tobte, Hände klatschten, Füße stampften, es wurde gejubelt und geschrien. Der Vorhang flog auf, die Bühnenbeleuchtung zuckte und blitzte. Endlich ging es los!
Pantothenic Acid, die Punk-Legende des Underground, waren zurück und gaben zum Auftakt kommentarlos die erste Nummer zum Besten: ihren Klassiker Society Has The Teenagers It Deserves. Die Band ergoss ihr markiges Soundfeuerwerk aus drei Akkorden wie aus der Gulaschkanone über die hungrigen Massen, die angesichts des fulminanten Comebacks völlig ausrasteten. Vergessen war für den Moment Altgitarrist Mike. Poison Dave spielte, als wäre er immer schon in der Band gewesen. Keine Frage, er hatte es drauf und führte Jürgen, Frank und Paul mit Pantothenic Acid auf eine völlig neue musikalische Ebene.
Nach dem ersten Song richtete Jürgen das Wort ans Publikum. »Scheiße, ihr seid die besten! So lange waren wir weg und ihr geht ab, als hätten wir gestern noch auf der Bühne gestanden. Leute, ihr seid die geilsten Fans auf diesem Dreckhaufen von einem Planeten!« Eine Welle donnernden Applauses wogte der Band zur Antwort entgegen. »Nochmals danke! Und übrigens«, er drehte sich um und deutete auf den hochgewachsenen langhaarigen Kerl an der Gitarre, »das hier ist Poison Dave. Eine Runde Extraapplaus für ihn bitte!« Die Antwort aus dem Publikum kam sofort und sie kam laut. Dave nahm sie rauchend zur Kenntnis. Eine Unterhose flog auf die Bühne. Kein Spitzenhöschen, eine Boxershorts. Niemand konnte sagen, wer das Ding geworfen hatte.
Dave schlug in die Saiten seiner Fender Squire und begann den nächsten Song: Insane People, ein weiterer Klassiker der Band aus glorreichen Zeiten unter Originalbesetzung. Weitere Songs folgten: Humility Is No Substitute For A Good Personality, You Do, The Way We Are, dann Do Not Fear Death und Don’t Be A Fool.
Anschließend war es so weit. Incredible Jürgen nahm einen Schluck Bier aus dem Plastikbecher und trat grinsend ans Mikrofon. »Und jetzt kommen wir zum Höhepunkt des Abends«, sagte er feierlich. Frank begann, rhythmisch auf dem Schlagzeug herumzutrommeln. Dr. Pepe kam mit dem Bass dazu, bis beide ein düsteres Soundbeben erklingen ließen. »Ihr alle habt nun die Ehre, unseren neusten Song zu hören«, fuhr Jürgen fort und bekam ohrenbetäubendes Gejubel aus dem gierigen Publikum zur Antwort. »Passend zur heutigen Nacht, zur Halloween-Nacht: Dieser Song ist für euch, die ihr hier seid und er heißt Brain Slasher!«
Auf das Stichwort hin stimmte Dave in Franks und Pauls Spiel ein. Ein dichter Soundteppich donnerte aus den Lautsprechern und brachte Kingsleys Bretterverschlag zum Beben. Das Publikum drehte komplett durch, wogte kraftvoll vor und zurück und knallte immer wieder gegen die Absperrungen wie ein gefangenes Monstrum. Ein Moshpit bildete sich und es wurde gepogt, als gäbe es kein Morgen. Incredible Jürgen schrie die Lyrics ins Mikrofon und wenn er eine Passage vergaß, schien das tatsächlich niemanden im völlig betörten Publikum zu stören.
Und dann setzte Poison Dave zum Solo an. Ein bitterböses Melodiegewand, das die Toten zum Tanzen gebracht hätte, flimmerte durch die Lautsprecher in die Menge. Ein hypnotisches Soundgebilde aus Hochtönen, dem sich niemand entziehen können würde.
»Zu laut, verdammt!«, rief Frank Jürgen zu, der verwirrt zum Tontechniker hinübergeschaut hatte und nun dem Schlagzeug zugewandt stand.
»Was hast du gesagt?«, brüllte er Frank zu und hielt sich zur Verdeutlichung eine Hand an eines seiner durch Ohropax geschützten Ohren.
»Ich sagte«, schrie Frank, »das ist viel zu laut. Selbst mir bluten die Ohren! Oh Gott ...« Die schrillen Quinten bohrten sich wie Messer in sein Gehirn. Mit einem Mal verlor Frank das Gleichgewicht und stürzte seitlich vom Hocker. Auf dem Boden liegend konnte er sehen, dass auch Jürgen und Paul ins Wanken geraten waren. Dave dagegen schien wie in Trance zu sein. Er rutschte auf dem Griffbrett der Gitarre hin und her und verursachte kaum zu ertragende Klangfolgen. Frank versuchte, zu Dave zu kriechen und ihn zu stoppen, als ein Blick in die Menge ihn innehalten ließ.
Durch die neblig düstere Luft des Bretterverschlags schien es, als würden die Zuschauer reihenweise kollabieren: Blut lief aus Nasen, die Augen waren hinter den Lidern verschwunden, so dass nur das Weiß zu sehen war. Von den Mündern einiger Zuschauer troff Schaum wie von den Schnauzen tollwütiger Hunde. Ein gigantischer epileptischer Anfall schien sich über das Publikum ausgebreitet zu haben. Frank hockte mit offenem Mund auf dem Bühnenboden und kämpfte mit aufsteigender Übelkeit. Im nächsten Moment stürzte Paul kopfüber von der Bühne. Doch erst ein weiterer Zwischenfall holte Frank aus seiner Starre zurück: In der ersten Reihe der zusammenbrechenden Menge beugte sich eine junge Frau mit rot gefärbter Mähne zum direkt neben ihr stehenden Mann, einem bleichen Typ mit langen schwarzen Haaren und Pickeln herüber und vergrub ihre Zähne in seinem Schädel. Der Junge verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse, während ihm Blut über die Stirn lief. Mit den Händen versuchte er, die wildgewordene Furie abzuschütteln, doch sie hatte sich an ihm festgesaugt wie ein riesiger Blutegel.
Frank rappelte sich mit letzter Kraft auf, sah verschwommen, dass Dave immer noch auf der Bühne stand, an seiner Zigarette zog und zu spielen schien, obwohl er selbst nichts mehr hören konnte. Unter größter Anstrengung warf Frank sich vorwärts und rammte seine Schulter schließlich in Daves Bauch. Dieser taumelte rückwärts und unterbrach jäh sein Solospiel. Wie durch einen plötzlich aufgedrehten Lautsprecher drang die Wirklichkeit zurück in Franks Bewusstsein: Überall hysterisches Schreien, lautes Stöhnen, zerbrechende Gegenstände - da, wo zuvor das Publikum gestanden hatte, war inzwischen ein Krieg ausgebrochen: Menschen brachen zusammen, wurden unter anderen begraben, wieder andere stürzten sich auf sie und schienen sie beißen zu wollen.
»Dave, was zum ...«, begann Frank, als Dave, der seine Gitarre fallen lassen hatte, ihn diabolisch angrinste. Langsam hob er den Arm und richtete den Zeigefinger auf Frank: »Gehiiiiiirn!«, brüllte er und stürzte sich auf ihn.
Jürgen, der gerade wieder zu sich gekommen war, sah, dass Paul von der Bühne gestürzt war und reglos am Boden vor der Absperrung lag. Dann erkannte er, dass Dave dabei war, über Frank herzufallen, der im letzten Moment einige Schritte zur Seite ging und Dave ins Leere taumeln ließ. Im nächsten Moment ging alles durcheinander: Während Frank und Dave in eine Art Kampf verwickelt zu sein schienen, brach die Absperrung zusammen und völlig verrückt gewordene Menschen tasteten sich über den Boden auf die Bühne zu. Einigen schienen die Ohren abgerissen worden zu sein, manche trugen klaffende Wunden im Gesicht, einem fehlten die Nase und die Lippen, so dass alles, was von seinem Gesicht übrig war, ein höhnisches Grinsen war.
»Daaaa, Hirrrrrn!«, brummte ein Typ, dem die halbe Kopfhaut heruntergerissen worden war. Er und einige andere stürzten sich auf den am Boden liegenden Paul. Jürgen wollte sich dazwischenwerfen, besann sich aber eines Besseren, als er sah, dass die durchgedrehten Menschen bereits begonnen hatten, Paul in Stücke zu reißen.
»Jüüürgen!« Der Ruf seines Namens ließ Jürgen zusammenzucken. Er blickte zurück auf die Bühne und sah, dass der inzwischen am Boden liegende Frank versuchte, Dave von sich wegzustoßen. Eine Sekunde später war Jürgen zur Stelle und zerrte den durchgedrehten Gitarristen an den Schultern von seinem Bandkollegen weg.
»Uaaaaaah!« Das, was einmal Dave gewesen war, blickte mit teuflisch verzerrter Fratze zwischen Jürgen und Frank hin und her.
»Was ist das hier?«, rief Jürgen Frank zu, während er versuchte, Dave zurückzuhalten.
»Ich habe keine Ahnung, Alter. Aber wir sollten hier weg, und zwar pronto!« Er richtete einen Finger auf den Zuschauerraum. Dutzende blutüberströmte Menschen versuchten ungelenk, sich auf die Bühne zu hieven. Sie stöhnten und schrien. Ihre Münder klappten auf und zu, als versuchten sie, etwas zu kauen und manche von ihnen taten das offensichtlich auch. Einem der heraufkletternden hingen mehrere Finger aus dem Mund, ein anderer biss von einer wabbeligen Masse ab, die er in der Hand hielt und die nur noch vage als Gehirn gedeutet werden konnte.
Jürgen und Frank sahen sich kurz an. Im nächsten Moment ließ Jürgen von Dave ab und stürmte zusammen mit Frank von der Bühne. Sie rannten, so schnell sie konnten, durch das verrauchte Hinterzimmer. Einer der Bühnenhelfer hockte vor einem Tisch und fraß den Tontechniker auf, dessen Arme und Beine dabei wild zuckten. Der Helfer schien die beiden flüchtenden gar nicht zu bemerken und riss genüsslich weitere Stücke aus dem am Boden liegenden Mann heraus.
Draußen war das rege Treiben der Halloween-Nacht inzwischen abgeebbt. Nur vereinzelt waren noch kleinere Gruppen von Menschen auf der Paulusstraße unterwegs.
»Was für eine abartige Scheiße! Was ist da gerade drinnen passiert? Und wo ist Paul?«, rief Frank keuchend, während sie über den Parkplatz auf den Tourbus zuhielten.
»Paul ist tot, Alter! Den haben sie ... Ich weiß nicht, was da passiert ist. Irgendwas war mit der Musik. Mit dem Song. Das Solo war zu laut oder zu ... Die Melodie hat sie durchdrehen lassen. Ich ... ich habe auch keine Erklärung dafür, aber ich habe es ja auch gemerkt. Für einen Moment wollte ich ...«
»Jemanden umbringen?«, ergänzte Frank.
» So in der Art, ja.«
»Hast du den Schlüssel?«
Jürgen klopfte seine Hosentaschen ab. Für einen Moment blieb die Zeit stehen, dann fand er, wonach er suchte. »Ja Mann, hier!« Er zog den Schlüsselbund aus der Tasche, steckte ihn ins Schloss des alten VW-Busses und stellte fest, dass er die Tür gar nicht abgeschlossen hatte. »Steig ein! Wir hauen hier ab und holen die Bullen!«
Wenige Sekunden später setzte der Bus mit quietschenden Reifen zurück. Als er auf der Straße zum Stehen kam und Jürgen den ersten Gang einlegte, flog die Vordertür zu Kingsleys Bretterverschlag auf und eine träge Masse aus blutenden und wankenden Zombies ergoss sich wie von der Hölle ausgespuckt auf die Straße, um über die armen Seelen herzufallen, die in dieser Halloween-Nacht noch unterwegs waren.
Durch den Seitenspiegel konnte Jürgen sehen, wie mehr und mehr durchgedrehte Menschen auf die Straße taumelten, wie sie stürzten, sich wieder aufrappelten, vor Laternen liefen und denen nachstellten, die vor ihnen flohen. »Weg hier, weg hier, weg hier«, murmelte Jürgen immer wieder, während er den Bus weiter beschleunigte.
»Wir haben’s geschafft, Alter. Wir haben’s geschafft«, stammelte Frank vom Beifahrersitz aus.
»Ja, wenn du das so nennen willst? Den Rest sollen die Bullen machen. Ich will nur raus aus diesem Albtraum.«
»Paaaaaantothenic Aaaaaaaaacid«, ertönte es plötzlich aus dem hinteren Teil des Busses - ein Schrei wie eine Kreissäge.
»Was zum?!«, schrien Frank und Jürgen zugleich. Frank fuhr auf dem Sitz herum. Eine blutüberströmte Gestalt, die ein wenig aussah wie ein zu klein geratener Elvis Presley, bahnte sich zuckend ihren Weg nach vorn. »Hiiiiiiirn! Fleiiiisch!«, stammelte das Etwas und warf sich in Richtung Fahrersitz. Frank versuchte, den durchgedrehten kleinen Kerl zurückzuhalten, doch seine Hände rutschten von dem blutigen hirntoten Ding ab, das seine Zähne sofort in Jürgens Hals vergrub.
Jürgen schrie und versuchte, auf die Bremse zu treten. Eine Blutfontäne schoss aus seinem Hals und spritzte gegen die Windschutzscheibe. Durch das Rot hindurch konnte Frank, der noch versuchte, Jürgen von dem beißenden Ding zu befreien, gerade noch erkennen, dass der Bus direkt auf einen Baum zuhielt. Jetzt schrie auch Frank. Dann wurde alles schwarz.
Bis die tatsächliche Opferzahl ermittelt werden konnte, vergingen mehrere Wochen. Noch Tage darauf mussten Polizisten durchgedrehte Menschen erschießen, die wahre Massacker angerichtet hatten und auch vor Polizeibeamten nicht Halt machen wollten. Die Zeitungen spekulierten über eine angebliche neue Droge, die aus Asien herübergeschwappt sei. Andere berichteten von biologischen Kampfstoffen, von einer völlig neuen Art von Terroranschlägen und wilden militärischen Experimenten. Immer wieder fanden sich angebliche Insider, die ihr Wissen gegen Geld an die Boulevardblätter weitergaben. Doch sie alle waren Scharlatane, keiner von ihnen hatte eine schlüssige Erklärung für den Albtraum parat, der in der Nacht des 31. Oktober stattgefunden hatte. Und so blieb alles ein Mysterium, das allem der Bilder aus Fernsehen und Presse wegen in den Köpfen der Leute hängen bleiben sollte. Eine große Boulevardzeitung titelte etwa: »ALS HALLOWEEN REAL WURDE!« Direkt darunter war das Bild von einem langhaarigen Mann, der mit aufgerissenem und blutverschmiertem Mund auf den Fotografen zustürzte. Polizisten hatten ihn sofort erschossen. Die Bildunterschrift fragte, ob so wohl der echte Michael Myers aussehen könnte und verriet, dass es sich bei dem durchgedrehten Mann um den sogenannten Poison Dave, Gitarrist der bei dem fürchterlichen Unglück ebenfalls umgekommenen Punkrockband Pantothenic Acid, handelte.