Kapitel 3
„Alexej? Kann ich kurz mit Ihnen reden?“
Er schaute verträumt auf und blickte schließlich wieder auf das Bild, das er in den Händen hielt. Jedes Mal, wenn er es betrachtete, stiegen ihm Tränen in die Augen. Warum musste sie nur so zeitig gehen? Womit hatte sie das nur verdient?
Jeden Tag hing er nur noch seinen Gedanken nach. Er war kaum noch dazu fähig, seinen Beruf als Hüter durchzuführen. Doch wenn er es einmal tat und eines der Monster erwischte, prügelte er so sehr auf es ein, dass zum Schluss nichts mehr übrig blieb. Es war der einzige Weg, die Trauer und die Wut endlich zu überwinden. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass ihr Verlust einen Teil von ihm mitgerissen hatte. Er würde nie mehr derselbe sein, egal, was geschah.
Niemand konnte seine Lilly je ersetzen.
„Kommen Sie bitte mit, Alexej, es ist wichtig.“
Widerwillig stand er auf und folgte Miss Felice, Lillys damaliger Kunstlehrerin, in ihren Raum. An den
Wänden hingen zahlreiche Zeichnungen, sie erstreckten sich über die gesamten Wände.
„Und zwar habe ich hier etwas gefunden. Es ist ein Bild, das sie damals gezeichnet hat. Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Ihr Wunsch war es eigentlich, die Zeichnung noch fertigzustellen, doch ich bin mir sicher, dass es Ihnen auch so gefallen wird. Auf der Rückseite befindet sich sogar noch eine Widmung…“
Alexej bedankte sich bei Miss Felice und verließ den Kunstraum wieder. Langsam ging er über das weite Schulgelände und ließ sich auf ihrer Bank nieder. Anschließend holte er zögernd die Zeichnung hervor und las sich aufmerksam die Widmung durch. Sofort kamen ihm wieder die Tränen, und erneut ließ er seinen Gefühlen freien Lauf.
Ich öffnete schnell die Augen und richtete mich auf. Dieser Traum eben, er war so real… Es war, als hätte ich Alexej wirklich weinen sehen…
„Lady Eveline!“ Alexej, der bis vor einigen Sekunden ruhig neben mir gesessen hatte, sprang plötzlich auf. „Wie geht es Ihnen?“
„Soweit gut, nur…“ Erst jetzt bemerkte ich den stechenden Schmerz in meinem rechten Bein, doch das war nicht meine einzige Sorge. Auch der Traum setzte mir wieder schwer zu. „Was ist passiert?“
„Sie haben gegen Christoph gekämpft. Und nun ja… er hat Ihnen das Bein gebrochen, als er Sie traf.“
Ich sah ihn erschrocken an und zog langsam meine Decke zurück. Tatsächlich zierte ein dicker Gipsverband meinen Oberschenkel. „Oh, und… Und nun? Wie soll ich so trainieren?“, fragte ich verzweifelt. Ich konnte nicht noch mehr Zeit meines Trainings verpassen, ich lag so schon weit hinter den anderen.
„Keine Sorge, die Wunde wird schnell wieder zuheilen. Die Krankenschwester hier hat ein besonderes Mittel dagegen, und spätestens in einer Woche werden Sie wieder fit sein.“
Erleichtert seufzte ich und sah mich um. Anscheinend befand ich mich im Krankenzimmer der Schule, es war ein Einzelzimmer und ziemlich dürftig möbliert. Außer meinem Bett, einem Schrank und einem Tisch mit den vier dazugehörigen Stühlen gab es hier nichts.
Alexej nahm vorsichtig meine Hand und sah mir in die
Augen. „Als ich Sie habe schreien hören, habe ich schon das Schlimmste erwartet. Ich bin froh, dass es Ihnen weder besser geht, Lady Eveline.“
Ich lächelte ihn kurz an und beugte mich ein Stück zu ihm vor. Langsam näherte ich mich seinem Gesicht und wartete auf seine Reaktion. Er tat jedoch nichts, er saß nur da und wartete ab. Kurz bevor ich seine Lippen berührte, erkannte ich, dass er vorsichtig seine Augen schloss und meinen Kuss erwidern wollte. Doch gerade, als ich ihn küssen wollte, kamen Zanolla und Christoph in mein Zimmer gestürmt. Schnell lehnte ich mich wieder in mein Kissen und warf die Decke über mich, damit niemand sah, wie Alexej meine Hand hielt.
„Miss Ledoux, es tut mir sehr leid, was heute Morgen vorgefallen ist.“ Zanolla schubste Christoph nach vorne. „Na los.“
„Es tut mir leid“, nuschelte er.
„Was? Ich habe dich nicht verstanden“, zog ich ihn auf.
„Ich… ich wollte mich bei dir entschuldigen“, stammelte er.
Zanolla warf ihm einen finsteren Blick zu und schickte ihn wieder in seinen Unterrichtsraum. Sie selber blieb
jedoch. „Miss Ledoux, ich möchte nicht unhöflich wirken, doch ich hoffe, dass auch Sie Ihre Fehler eingesehen haben.“
Für einen Moment blieb mir die Luft weg. „Meinen Sie etwa, ich wäre daran schuld, dass ich hier mit einem gebrochenen Bein liege?“, fuhr ich sie an.
„Nein, aber Sie hätten gar nicht erst auf seinen dummen Vorschlag eingehen müssen.“
„Ich habe ihn nicht ohne Grund angegriffen, er hat mich provoziert!“, schrie ich sie an. Alexej drückte sanft meine Hand, um mich zu beruhigen. Ich wandte mich zu ihm und fragte mich, ob ich Zanolla erzählen sollte, worum es bei unserem Kampf eigentlich ging, schließlich wusste er selber nicht einmal darüber Bescheid. „Christoph hat behauptet…“ Ich hielt kurz inne und suchte nach den richtigen Worten. „Er hat behauptet, dass Alexej und ich zusammen sind.“
Natürlich hatte keiner der beiden von seinen Behauptungen gehört, sodass Zanolla als auch Alexej mich erstaunt ansahen. In seinem Blick erkannte ich jedoch nicht nur Trauer, sondern auch Enttäuschung.
Ich hätte ihm davon erzählen sollen, egal ob jetzt oder
schon vor dem Kampf. Niemals hätte ich mich auf Christoph einlassen sollen, schon gar nicht, wenn ich geschwächt war. Meine Fehler hingen über mir wie eine dunkle Regenwolke.
Zanolla hatte nichts mehr zu sagen. Meine Worte gaben ihr erst einmal zu denken, sodass sie sich nur noch bei mir entschuldigte und schließlich verschwand.
Als sie weg war, dürfte ich mir sofort Alexejs Standpauke anhören. „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Danach war doch gleich der Kampf, und…“
„Meinst du, es geht mich nichts an, wenn andere so über uns reden?“
„Ich weiß, Alexej, aber…“
„Eveline, du musst das wieder klarstellen. Stell dir vor, Christoph fängt an, hier irgendwelche Gerüchte über unsere angebliche Beziehung zu verbreiten!“ Er steigerte sich richtig in dieses eigentlich kleine Problem herein.
„Komm erst mal wieder runter!“ Meine Nerven lagen total blank. Erst hatte ich mit Christoph gekämpft, was
mich total erschöpft hatte. Nun lag ich mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus. Doch am meisten störte es mich, wie Alexej darüber redete. Er tat so, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen. Als wären all diese schönen Momente, die wir bisher geteilt hatten, völlig unnötig. Ich bildete mir jedes Mal ein, eine besondere Spannung zwischen uns zu spüren, sobald ich ihm zu nahe kam. Doch langsam glaubte ich, dass da nichts war und auch nie gewesen ist. Alexej war zehn Jahre älter als ich, noch dazu ist er mein Hüter.
Und er hat kein echtes Interesse an mir.
Ohne noch ein Wort zu verlieren, schubste ich ihn vom Bett. Er sah mich nur verwirrt an, doch anscheinend hatte er an meinem wütenden Blick erkannt, dass ich meine Ruhe brauchte.
Sobald er das Zimmer verlassen hatte, drückte ich mein Gesicht in das Kissen und fing an zu weinen.
Nach einer Weile schlief ich wieder ein, aber diesmal gab es keinen ungewöhnlichen Traum.
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, hatte ich überhaupt keine Lust, aufzustehen. Mein gesamter
Körper schmerzte noch immer, vor allem war es aber mein Bein, das mir Probleme bereitete. Langsam rutschte ich an die Bettkante, nahm die Krücken zur Hand und ließ mich vorsichtig herunter. Zuerst stolperte ich etwas, doch mit einem verletzten Bein zu laufen war leichter, als ich gedacht hatte. Gerade als ich zu einem Silbertablett voller Snacks gehen wollte, öffnete sich die Tür.
„Lady Eveline, darf ich herein kommen?“
Als ich Alexej in der Tür stehen sah, sank meine Stimmung wieder auf den Nullpunkt. „Was wollen Sie?“, fragte ich.
„Nun ja, ich wollte mich mit Ihnen noch einmal wegen unserem Gespräch gestern Abend unterhalten.“
So schnell ich konnte humpelte ich zu ihm und sah ihn scharf an. „Und was ist, wenn ich gar nicht mit Ihnen reden will?“
„Lady Eveline, ich weiß, dass ich mich gestern etwas im Ton vergriffen hab, doch..“
Ich fing laut an zu lachen und wandte mich von ihm ab. „Ja, Sie haben sich im Ton vergriffen. Als wäre dies nicht das geringste Problem.“ Langsam ging ich wieder
zu dem Tablett und nahm mir ein belegtes Brötchen herunter.
„Es tut mir leid, aber…“
„Gehen Sie bitte. Ich will erst einmal in Ruhe essen und noch ein wenig schlafen.“ Ich sah seinen Gesichtsausdruck nicht, aber ich spürte trotzdem, wie er mich mit seinem Blick förmlich durchbohrte. Schließlich seufzte er laut und verließ mein Krankenzimmer.
Als ich wieder alleine im Zimmer war, fing ich beinahe wieder an zu weinen. Dieses Mal hielt ich die Tränen jedoch zurück. „Er ist es nicht wert, Eve…“, sagte ich immer wieder leise vor mich hin.
Nachdem ich zwei Brötchen gegessen hatte, ging ich wieder zum Bett und legte mich hin. Ich war schon wieder total erschöpft, obwohl ich nichts Anstrengendes getan hatte. Dann kamen noch diese höllischen Kopfschmerzen dazu, die auf einmal in meinem Hinterkopf pochten. Ich lag noch eine halbe Ewigkeit wach im Bett, bis mich der Schlaf einholte. Ich wusste jedoch, dass es keinen normalen Traum geben würde, denn sobald ich meine Augen schloss und in den Traum gerissen wurde, verschwanden auch die Kopfschmerzen.