DER FALL DES IKARUS
Angeregt von Uta Grüns Installationen, Station 25, Schwabacher Kunsttage, Ortung VII
Eigentlich hieß er Thomas Gelder, aber seine Mutter hatte ihn nur Tommy genannt. Tommy war in der Schule stets strebsam und fleißig gewesen. In der Mathematik tat er sich besonders hervor und er fiel den Lehrern nicht nur durch seinen Eifer auf sondern auch, weil er immer Geld hatte. Und er hatte so viel Geld, dass er schon deshalb bei seinen Kameraden mehr als beliebt war. Nur das Geld hatte er auf ordentliche Art erworben: jede freie Minute nutze er, um hier einen Handgriff zu tun, dort zu helfen wo nötig. Dafür gab ihm gerne jeder Unterstützte ein paar Münzen. Und dann fand er einen Taschengeldjob, der ihn weiter unabhängig werden ließ.
Bald nach der Schulzeit begann seine goldene Ader. Alles, was er unternahm, wurde ihm zu Geld. Innerhalb seiner Ausbildung, er lernte Bankkaufmann, hatte er durch Zufall einen Lottoschein ausgefüllt und eine bedeutende Summe gewonnen. Er nutzte diesen Betrag zum Erwerb von einer Immobilie, die er wenig später zu einem ungleich höheren Betrag verkaufte. Dieses Geld wanderte wieder in den Erwerb von Immobilien, durch deren Vermietungen er weiterhin gute Einnahmen erzielte. So vermehrte sich sein Vermögen ohne großes Zutun. Schon nach wenigen Jahren war er ein wirklich gemachter Mann.
Tommy lebte weiterhin sparsam, hielt sein Vermögen zusammen und träumte von einem wirklich großen Wurf. In dieser Zeit begann sein Vater, ihn Ikarus zu nennen, weil er immer davon träumte, noch höher hinaus zu wollen. Auf der Karriere- und Vermögensleiter. Eines Tages hatte er so viel Geld in seinen Besitz gebracht, dass sich mit seinem Vermögen eine gewisse Macht und sehr viel Einfluss zu verbinden begannen. Natürlich musste er dafür auch viel arbeiten und irgendwann ereilte ihn der erste Herzinfarkt. Tommy oder Ikarus erholte sich davon erstaunlich gut und lernte auf seinen Macht- und Geldflügeln immer höher aufzusteigen in jener Welt, die sich Finanzwelt nennt.
Ein guter Freund – ob dieser das wirklich war, ließ sich später nicht mehr sagen – eröffnete ihm den Zugang zur Börse. Mit traumwandlerischer Sicherheit begann Tommy Ikarus dort zu spekulieren und konnte Gewinne ohne Ende abschöpfen. Selbstverständlich ließ er den guten Freund daran Teil haben, weil dieser ihm immer die entsprechenden Tipps gab. Tommy hatte seine ursprünglich ihm angeborene Vorsicht verloren. Es machte einfach Spaß, in diesem neuen Marktbereich eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. Sponsorengelder von seiner Seite flossen in alle nur erdenkliche, Gewinne bringende Institutionen und eine boomende Wirtschaft unterstützte seinen Höhenflug.
Doch eines Tages wendete sich das Blatt. Die Weltwirtschaft steuerte auf eine große Krise zu. Die Investitionen, die Tommy Ikarus getätigt hatte, trugen nicht mehr. Zunächst konnte er durch seine Intelligenz und sein Finanzgeschick vieles abwenden, aber große Teile seines Vermögens waren in Schuldverschreibungen gebunden und seine Schuldner nicht mehr in der Lage, Rückzahlungen zu leisten. So begann Tommy abzustürzen. Tiefer und tiefer ging der Fall.
Nach nur wenigen Jahren hatte Tommy Ikarus nicht nur seine Flügel verloren sondern stand vor den Trümmern dessen, was er sich einst aufgebaut hatte. Was nun, Tommy Ikarus?
© HeiO 27-08-2011