Weil du mein Traum bist
Es ist dunkel geworden, als wir an der Brücke ankommen. Die Sterne sind unter dichtem Nebel verborgen, genau wie seine Augen auch. Bevor meine Füße die Stufen berühren, finde ich seine Hand auf meiner Schulter wieder, warm, angenehm und ohne im Geringsten aufdringlich zu wirken. "Pass auf, die Stufen sind rutschig." Ich schüttele sie ab – Es ist ungewohnt, dass er mir so nah ist, mit einer Selbstverständlichkeit, die mir immer fremd war. "Hey, ich hab flache Schuhe an und laufen kann ich bereits seit ein paar Tagen." Er wirkt beinahe verärgert, lässt die Hand aber an seiner Seite. "Ich wollte dir auch nicht unterstellen, dass du nicht laufen kannst." "Ja, das ist mir klar aber..." Mir versagen die Worte. "Ist schon okay." Die Wut ist verschwunden, nun ist er wieder ruhig und undurchschaubar, wie am Anfang des Abends. Wir überqueren die Brücke schweigend, jeder von uns hängt scheinbar seinen Gedanken nach. "Hast du Angst vor irgendetwas?" durchbreche ich die Stille. Meine Neugierde ist wie immer schwer zu stillen und hinter seinen Augen liegt irgendetwas, das ich nicht zu deuten weiß, weswegen ich mich wieder und wieder bemühe, zu sehen, was dahinter liegt. Ich weiß, die Zeit läuft gegen mich. Es ist immer so – Irgendwann wird es ihm langweilig werden mir zuzuhören und dann wird er verschwunden sein. "Ja, ich habe tatsächlich vor etwas Angst." "Verrätst du mir auch wovor?" "Ich habe Angst davor dass mein Geist irgendwann verfällt. Das ich nicht mehr in der Lage bin zu tun, was ich tun möchte." "Seltsam – Ich habe eher die Sorge, dass ich irgendwann nicht mehr dazu in der Lage bin mich so zu bewegen, wie es mein Kopf gerne möchte. Gefangen zu sein in einem zerstörten Körper, während ich noch alles mitbekomme."
Seine Hand streift meine, wieder strahle seine Wärme auf meine Haut. "Hier wohne ich." Seine Worte lassen mich aus meinen Gedanken aufschrecken. "Dann sollte ich dir wohl eine gute Nacht wünschen, oder?" "Ich kann dich auch noch mit zu dir nach Hause bringen. Wenn du den Abend noch nicht beenden möchtest." "Hast du denn heute nichts mehr vor? Denn dann könnten wir außen herum gehen." "du führst, ich folge dir." Ich grinse, diese Rolle ist für mich mehr als ungewohnt. "Also gut, dann zeige ich dir mal die dunklen Ecken der Stadt." Wir gehen durch das Frauenviertel, zuerst entlang der Hauptstraße, später hinein in die Gassen. Hier gibt es weniger Straßenlaternen, die Fenster in den Häusern sind dunkel, die Rolläden sind heruntergelassen und es ist totenstill, abgesehen von unseren Schritten, die gedämpft auf dem bemosten Boden nachhallen. Dieses Mal remple ich vor seine Schulter und muss lachen, als er sich dafür entschuldigt. "Ich bin nicht aus Zucker. Blaue Flecken vertrage ich auch. du musst dich nicht immer entschuldigen." Er erwidert mein Grinsen, was mich erstaunt. Bislang habe ich ihn selten lächeln sehen. "Ich werde es mir merken." Inzwischen zeigt sich der Mond teilweise hinter den Wolken, ein Naturschauspiel wie ich es liebe. Ohnehin genieße ich diesen abendlichen Spaziergang ungemein. "Seltsam wie sehr ich dir doch vertraue." "Wieso das?" Er wirkt sichtlich irritiert. "Ich laufe selten mit Männern die ich kaum kenne allein durch die dunkelheit." "Was sollte ich dir denn tun?" "Frag mich lieber nicht, ich könnte die antworten." Dieses mal verdunkeln sich meine Augen, ich weiß nicht ob er es wahrnimmt. "Naja, jedenfalls habe ich nicht vor dich zu verschleppen und dir etwas anzutun. Ich bin also nicht gefährlich." "Seltsam, ich habe dich bisher schon für gefährlich gehalten. du bringst mich zum reden. Und auch zum lachen." "Also gut, ich bin beinahe überzeugt davon... Oder nein besser – Ich bin mir zu fast 98 % sicher.... Ach ich zieh es durch. Ich bin mir zu 100 % sicher gefährlich für dich zu sein." Dieses Mal werfe ich den Kopf in den Nacken, als ich lache. Ich spüre seinen Blick auf mir, er ruht zunächst auf meinen Wangen, wandert dann über meinen Hals hinab zur Brust. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt, bemühe mich aber, mir nichts anmerken zu lassen. "Das stimmt sogar. du bist ein wenig größer als ich, außerdem bist du vermutlich schnell und stark genug, dass du mich in eine Lage bringen könntest, in der ich mich schwerlich wehren könnte." "Stimmt. Und wir sind in der Großstadt, in einer dunklen Gasse, hier hört dich niemand." Irgendwie hat sich etwas überzeugend Bösartiges in seine Stimme geschlichen und ich merke, wie sich jede Faser meiner Muskeln zusammenzieht. 'Bereit zum Sprint' denke ich bei mir. "Weißt du was viel schlimmer ist? Es würde niemanden interessieren. Ich könnte mir hier die Seele aus dem Leib schreien und die Rolläden würden geschlossen bleiben. Selbst wenn ich es schaffen würde eine Klingel zu drücken, es würde wohl niemand öffnen." "Wie wahr." Wieder dieses Lächeln, aber inzwischen kann ich es nicht mehr deuten. "Aber ich tu dir ja nichts." "Warum eigentlich nicht?" Ich blicke ihn fragend an. "Warum sollte ich denn?" Sein Blick beinhaltet die selben Fragezeichen wie der meine. "Das müsstest du schon selbst herausfinden." Mein Lachen kehrt zurück, ich genieße die Spannungen zwischen uns beiden, das Prickeln, dass meine Haare sich aufstellen. Wir stehen voreinander, mustern uns abschätzend. Dieses Mal starre ich ihn ungeniert an, die breiten Schultern, der klare Blick. Er hat eine gute Figur, es beindruckt mich mit welcher Selbstverständlichkeit er dort steht. Innerhalb von Sekunden dreht sich das Bild, sein Arm liegt um meinen Hals, seine Hand schwer auf meinen Lippen. "Hattest du dir das so vorgestellt? Schreien geht nun ohnehin nicht mehr, darüber musst du dir also keine Sorgen machen." Ich lasse mich fallen, sein Herz pocht hart gegen meinen Rücken, seltsamer Weise verspüre ich keine Angst. Mein Herz pocht zwischen meinen Schläfen. Ich würde ihm antworten, aber sein Griff drückt mir perfekt die Luft ab. Dennoch ist seine Hand warm, wie sie es vorhin war, als sie federleicht und dennoch beschützend auf meiner Schulter lag. Ich erstarre nicht, ich wehre mich nicht, ein Zittern läuft leicht durch meinen Körper. Er verändert seinen Griff, die Hand streicht zart über meine Wange, ich atme tief ein, huste, weil sein Arm noch immer auf meine Kehle drückt, er lockert seinen Griff nur leicht. Noch immer stehen wir Haut an Haut – Oder stünden derart, wären nicht Pullover und Mantel dazwischen. Sein Atem streift über mein Ohr. "Hast du Angst?" Das Flüstern direkt an meinem Ohr jagt mir tatsächlich Schauer über den Rücken. Ich nicke bloß. "Seltsam – Vorhin klangst du noch mutig." "Ich habe Angst, dass es aufhört." Sein Griff lockert sich, er packt mich an der Schulter und dreht mich so, dass ich ihm in die Augen sehen kann. "Dass es aufhört?" Seine Stimme ist vom selben Unglauben gezeichnet wie sein Blick. Ich nicke bloß, selbst überrascht von meinen Worten. "Ich hätte dich umbringen können.""Ich weiß." "Ah, da spricht die Geschichtenerzählerin, richtig? Der ästhetische Tod und so, habe ich Recht?" "Vermutlich ist das so, ja. Anders könnte ich mir das jetzt auch nicht erklären." Es herrscht Schweigen zwischen uns, niemand wagt es sich zu bewegen oder gar zu sprechen. Schließlich weiche ich seinem Blick aus und gehe weiter. Er folgt mir auf dem Fuß aber dieses Mal streift seine Hand nicht die meine, sie legt sich hinein, hält sie fest. Ich entgegne den Druck sacht, vorsichtig. Und so gehen wir die nächsten Meter Hand in Hand, bis er sich mir entzieht, ein müdes Lächeln auf den Lippen. "du hast mich mal gefragt, was ich tun würde, wenn ich einen Tag lang ohne Strafe tun und lassen könnte, was ich wollte." "Ja, das habe ich." "Vielleicht hätte ich dann gerade nicht aufgehört." Wieder ist sein Blick undurchdringlich, es ist die Ruhe mit der er es sagt. 'Warum?' dröhnt mir durch die Schläfen, aber ich spreche die Frage nicht aus. Ich möchte die Antwort nicht hören. Kurz darauf sind wir bei anderen Themen, weit weg von Mord oder Schmerz, wir spreche über Schule und Lehrer, über Freunde und Schicksal. Doch unsere Schritte führen uns im Kreis, anstatt vor meiner Türe stehen wir schließlich vor der seinen, erneut. "Ich möchte Deine Wohnung sehen." Wir lehnen am kalten Metallgitter vor der Haustür und versuchen uns seit vielen Minuten zu verabschieden, ohne die richtigen Worte gefunden zu haben. "Ich sag doch, sie ist noch nicht fertig." "Ich möchte sie trotzdem sehen. Und mich von dem Vogel beschimpfen lassen." "Bitte." füge ich an, als die Stille zwischen uns mit den Händen zu greifen wird. "du wirst dich nicht überzeugen lassen, oder?" "Nein." Wieder lächle ich ihn an, als er gespielt theatralisch seufzt und den Schlüssel aus der Tasch zu ziehen beginnt. "Aber wir nehmen die Treppen." "Ist das Dein letzter Versuch mich abzuschrecken?" "Hat es denn funktioniert?" "Nein." "Dann war es der Versuch Deine Begeisterung für Sport zu wecken." "Das klappt aber auch nicht." "Trotzdem, das ist meine Bedingung." "Einverstanden." Die elektrischen Glastüren öffnen sich, als er den Schlüssel im Schloss dreht. Wir steigen still die Treppen auf, ich immer einen Fuß hinter ihm. Das erste Mal an diesem Abend, dass er die Führung übernommen hat. Ich bekomme kaum mehr Luft, als wir schließlich oben an der schmucklosen Eingangstüre ankommen. Er dagegen atmet ruhig und stetig, als wäre dies die leichteste Übung für ihn gewesen. "Okay, das nächste Mal treffen wir uns bei mir." bringe ich hervor, während er die Türe aufschließt. "Willkommen in meinem Reich." Er wirkt unsicher, als wäre dies unbekanntes Terrain für ihn. Ich beobachte ihn, wie seine Augen von Links nach Rechts wandern, als suche er etwas. Und dennoch verweilt er immer wieder bei mir. Aber kaum fange ich seinen Blick auf, schon sieht er wieder zur Seite. Und damit stehen wir auf dem nicht vorhandenen Boden, sehen uns die derzeit noch leeren Wände an und schweigen. "Möchtest du mir nichts zu Trinken anbieten?" frage ich schließlich, nur um das Schweigen zu brechen. "Entschuldige, du musst mich für einen Idioten halten. Natürlich. Möchtest du etwas trinken? Ich hab allerdings nur Wasser." "Wasser ist vollkommen in Ordnung für mich." "Setz dich ruhig schon." Also lasse ich mich aufs Sofa fallen und sehe ihm nach, während er in die kleine Küche geht, zwei Gläser aus dem Schrank nimmt, Wasser einschenkt und zu mir zurück kommt. Er setzt sich auf einen der freien Stühle, was ihm einen schiefen Blick von mir einbringt. "Möchtest du dich nicht zu mir setzen?" "Ich dachte, das würdest du nach gerade vielleicht nicht wollen." "Habe ich den Eindruck gemacht vor dir weglaufen zu wollen?" meine Augen bohren sich in seine. "Nein, das hast du nicht." Also nimmt er sein Glas und setzt sich neben mir auf die Couch, unsere Knie berühren sich. Ich nehme den ersten Schluck aus meinem Glas, verschlucke mich, fange an zu husten und lasse mich auf ihn fallen. Er fängt mich, seine Hände an meinen Armen, sein Gesicht direkt vor meinem, die Haare fallen mir in die Stirn, er streicht sie weg, während er mich vorsichtig zurück in die Couch drückt. "Ein sehr gelungener Auftritt." Und jetzt lacht er, ein helles, warmes Lachen. "Das ist gar nicht lustig." maule ich. "Nein? Seltsam, mich amüsiert es." Sein Lachen ist ansteckend, also erwidere ich es. "Also, hast du Hunger?" "Hast du denn mehr im Kühlschrank als Cracker und Käse?" "Ich hätte Schokolade." "du weißt wie man eine Frau glücklich macht." Also steht er nochmals auf, in der Küche höre ich ein leises Knacken und schließlich kommt er mit einem Teller zurück, auf dem viele kleine Schokoladenquadrate liegen. "Hm, köstlich." murmele ich, als das erste Stück Schokolade auf meiner Zunge zerschmilzt. "du bist leicht glücklich zu machen." "Eigentlich bin ich anspruchsvoll. du genügst nur meine Ansprüchen." Ich lecke mir die Lippen um den Schokoladengeschmack so lange wie möglich auf der Zunge zu behalten, bevor ich mir das nächste Stück nehme. "Ich fühle mich geschmeichelt." "Das solltest du auch." Das nächste Stück zerkaue ich mechanisch zu Pulver, bevor es schmelzen kann. Auf diese Art kitzelt der Geschmack sämtliche Nervenenden. "Isst du selber gar nichts?" "Ich bin vollauf glücklich damit dir zuzusehen." Der Satz wirkt deplaziert, aber ich ignoriere meine Gedanken, schüttle leicht den Kopf um meine Haare zu richten. "Gut, dann bleibt mehr für mich." Stück um Stück schwindet die Schokolade und mit ihr tatsächlich auch mein Hunger. Während der ganzen Zeit beobachtet er mich, wir sprechen kein Wort. Und dann bemerke ich, wie die Welt um mich herum zu verschwimmen scheint, wie sein Gesicht keine Konturen mehr hat. "Ich..." Die Übelkeit bricht wie eine Welle über mich hinein, schlägt über mir zusammen, meine Lider fallen zu, meine Bewegungen sind steif, als ich versuche nach ihm zu greifen, nach irgendetwas zu greifen. Und dann ist die Welt nur noch schwarz und weiß, es gibt nichts mehr dazwischen. Als würde ich in tiefen Schatten sehen, durchbrochen von gleißenden Lichtblitzen. Seine Zähne sind so weiß, als könnte ich das Licht durch sie hindurch sehen. Sein Gesicht muss über mir sein, aber ob ich sitze, stehe oder liege entzieht sich meiner Kenntnis. Meine Glieder sind taub, sie reagieren nicht, als kämen die Reize niemals an den Nervenenden an, die notwendig wären um die Hände zu heben. Oder auch nur den Finger.
Seine Lippen bewegen sich, aber seine Worte dringen nicht durch den Nebel meines Verstandes. Es dauert Minuten, bevor ich einen Sinn daraus lesen kann, was ich sehe. "Endlich." Das Wort kreist in meinem Kopf. "Endlich wirst du mir gehören." Meine Lippen bewegen sich lautlos. "Ja." Kein Geräusch, kein Laut, bloß eine Lippenbewegung. Und dann presst sich Stoff auf meine Lippen, verdunkelt meinen Blick, ich schnappe nach Luft, würge, versuche krampfhaft mich zu bewegen, doch nichts gelingt. Sein Arm drückt mich nach unten, die andere Hand presst offensichtlich etwas auf mein Gesicht. Ich frage mich, wie ich jemals hatte glauben können, dass Ersticken ein schöner Tod wäre. Der Moment verschwimmt, ich spüre seine Hand irgendwo auf meiner Haut, warm, weich, beruhigend. Und ich lasse mich fallen, in dem selben Moment gebe ich nach, in dem mein Herz aufhört zu schlagen. Sein Lächeln ist nicht erloschen.
Mit einem stummen Schrei auf den Lippen wache ich auf, meine Hände an meine Kehle gelegt. Vorsichtig stehe ich auf, mein Blick ist seltsam verschwommen, als ich langsam ins Bad taumle. Der Blick in den Spiegel lässt mich zusammenzucken. Auf meinem Hals sind deutliche Spuren von Fingern zu sehen. Ich lege meine Hände darauf – Sie sind zu klein.