KOPFBILDER - ZERRBILDER
Er liegt vor dir: ein Stück Glas, in eine bestimmte Form geschliffen, eine begrenzte Fläche, untadelig, glänzend, hell silbrig und von unerhörter Ehrlichkeit. Er verleugnet und beschönigt nichts, egal wie du ihn auch drehst und wendest. Seine Oberfläche ist makellos und umso klarer zeigt er dir ein Bild.
Das Bild eines Menschen, aus dessen Gesicht die kindliche Unschuld gewichen ist. Die Erfahrungen von einem Jahr oder gar Jahrzehnten – lustvoll, schmerzlich, nichtig, brutal, freudig, und wie sie auch sonst noch gewesen sein mögen – blicken dich an. Trotzdem ist eine gewisse Ausstrahlung vorhanden, die sehr anziehend ist.
Es ist das Bild eines Menschen, zu dem sich plötzlich noch mehr Bilder gesellen: Kinder, Greise, Jugendliche, Babys, schöne Frauen, edle Männergestalten, hutzlige alte Weiblein, die Wetter gegerbten Gesichter von draußen schwer arbeitenden Menschen. Und immer weiter wird das Bild und größer die Zahl derer, die sich im Spiegel finden. Schwarze und Indianer, Inder und Chinesen, und schließlich sind es alle Rassen dieser Erde. Was wollen sie von dir? Warum schauen sie dich an?
Dann erscheint wieder dein eigenes Bild und zwischen den Augen trägt es jetzt ein Herz und auf geheimnisvolle Weise wird aus diesem Herzen ein Auge, das dich milde ansieht.
Und nun erkennst du sie in all den anderen Menschen wieder: deine Sehnsucht nach lieben und geliebt werden, deine Wut und deine Tränen, deine Ängste und deine Schmerzen, deine Trauer und deine Freude, dein Lachen, alle Emotionen, die du bisher bewusst oder unbewusst durchlebt hast, auch deine Scham und deinen Hass, deine Lust und deine Ekstasen, deine Kreativität und deine Depressionen, deinen Hunger und Durst, deine Sehnsucht nach Frieden und Toleranz und Akzeptanz. Ja, deine geheimsten Wünsche und Gedanken offenbaren dir die Gesichter der anderen.
Und ihre Augen sehen dich an: fragend und zugleich wissend – Mensch ich bin wie du, du bist wie ich, wir sind alle gleich wie die Blätter am Baum, genährt aus den gleichen Wurzeln und doch jeder ein Individuum, untrennbar miteinander verbunden, ein jeder Teil des Ganzen, wichtig und doch sich verlierend in der Masse, aber nicht verloren, sondern gehalten vom Baum, der da Erde heißt.
Ihr fragender Blick irritiert dich? Er lässt dich nicht los. Er hält deinen Blick fest. Was wollen sie alle von dir wissen?
Zu deinem großen Erstaunen verschwindet das Auge des Herzens und deine Stirn öffnet sich. Du siehst die vielen Leitungen, Kabel, Drähte und Windungen eines ungeheuren Computers, in dem alle deine Fremd- und Eigenbilder gespeichert sind. Und du siehst einen riesigen Drucker, aus dem eine immer länger werdende Papierfahne quillt, die dicht mit lauter fett gedruckten Worten gefüllt ist.
Angst breitet sich in dir aus und doch kannst du nicht widerstehen und beginnst die Worte zu lesen, die da aus dem Maul des Druckers quellen: Politik und Krieg, Fluchthelfer und Asyl, Despoten und Verfolgung, Folterung und Kindersoldaten, Lüge und Folterung, Wohlstand und soziales Netz, Armut und Hoffnung, Hunger und Tod, Schlaraffenland, Angst vor dem Teilen-müssen, arbeitslos und ungelernt, Völkerwanderung und Überfremdung, Kindermangel und Überalterung, Ausbeutung von Mensch und Natur, Geld bedeutet Macht, wirtschaftlicher und sozialer Ruin, Selbstmordattentäter und "Du sollst nicht töten!", Tschernobyl und Fukushima, Angst vor dem Islam, Vulkanausbruch und Tsunami, Kernenergie und Sonnenenergie, wenige besitzen alles, die meisten besitzen so gut wie nichts, Angst vor der Umverteilung , die Welt und die Menschen und das Leben sind schlecht, und all die anderen Klischees, die in den Medien um den Erdball kreisen.
Plötzlich sind es viele Drucker in den Köpfen der Amerikaner und Europäer, in den Köpfen der Reichen, in allen Köpfen. Und aus allen ihren Mäulern quellen die gleichen Papierfahnen mit den gleichen Worten in vielen Sprachen. Und die Papierfahnen werden zu einer immer größeren Flut, die sich zwischen die Menschen schiebt und sie weg zu spülen scheint. Mit den Händen kannst du die Papierflut nicht aufhalten, du versinkst darin, sie verschlingt dich.
Wer hat den Mut und legt ein Streichholz daran? Willst du es tun, für dich und all die anderen? Wer will es tun und die papierene Flut der Vorurteile, der Urteile, des Ver-Urteilens, der Fremd- und Eigenbilder zwischen dir und den anderen, deinem Nachbarn oder deinem Kollegen, deiner Kollegin, einfach deinem Mitmenschen, anzünden und alles verbrennen?
Würde dann die Welt wieder menschlich und das Leben lebenswert? Und hätten dann alle Platz und würden satt auf unserer wunderbaren Erde?
© HeiO 06-09-2011