Kurzgeschichte
Ein neues Leben

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"Ein neues Leben"
Veröffentlicht am 06. Oktober 2011, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Rainer Güllich, Jahrgang 1954, lebt in Marburg/Hessen. Als begeisterter Leser schon ewig von dem Wunsch getrieben selbst zu schreiben, nahm er an einem Kurzkrimiwettbewerb teil, der im Rahmen des 1. Marburger Krimifestivals stattfand. Er kam auf einen der vorderen Plätze und sein Kurzkrimi ?Hass? wurde in der regionalen Presse veröffentlicht. Dadurch motiviert belegte er seinen ersten Schreibkurs in kreativem Schreiben. Weitere schlossen sich an ...
Ein neues Leben

Ein neues Leben

Ein neues Leben

Paul stand hinter dem Tresen und schaute unglücklich. Er hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe und ließ seine Schultern hängen. Die kurz geschnittenen Haare ließen seinen Kopf übergroß erscheinen.

An seiner Seite waren Bettina und Armin, beide sollten ihn einarbeiten. Ob das was werden würde, fragte er sich. Er hatte keine Ahnung von den Produkten, die er hier an den Mann beziehungsweise die Frau bringen sollte.

Was gab es hier nicht alles: Pizza-Teig Backmischung, Joghurt Holunderblüte-Orange, Apfel-Mango-Saft, Möhrensaft feldfrisch, Hüttenkäse, Hafer entspelzt, Amaranth Honigpoppelchen, Bandnudeln Bärlauch, Waschmittel Waschnuss und und und …

Alle Zutaten der Angebote stammten aus biologischem Anbau. Und das genau war sein Problem. Er hatte das Gefühl, dass er von all dem keine Ahnung hatte und erlebte sich total überfordert.

Er war seit einer Woche auf dem Gutshof, der gleichzeitig eine therapeutische Einrichtung war. Direkt nach seiner Entlassung aus seiner sechswöchigen Entziehungstherapie war er hier in dieser Einrichtung aufgenommen worden. Auf seinen eigenen Wunsch. Er brauchte noch etwas Zeit um sich dem Leben draußen zu stellen.

„Wo kommst du eigentlich her?“ Bettina, die junge Frau mit den dunklen Haaren, schaute ihn interessiert an.

„Wo ich herkomme? Aus einem kleinen Nest in der Nähe von Kassel. Kennst du nicht. Da ist der Hund verfroren.“

„Nein, ich meine aus welcher Einrichtung. Du kommst doch direkt aus einer Therapie, oder?“

„Ach, das meinst du. Ich war im Adlerhof. Bei Frankfurt. Harte Sache. Kein Ausgang, um zehn Uhr musste man in die Kiste, Rauchverbot, kein Kaffee. Jeden Tag Arbeitstherapie und Gruppenstunden bis zum Haarausfall.“

„Ja, man sieht’s“, lachte Bettina und fühlte ihm über seine kahle Stelle am Kopf. „Du siehst aus wie ein Mönch.“

„Das zeigt nur, dass ich übermäßig viele männliche Hormone habe.“

„Du bist ein Spinner, sonst nichts.“

„Wenn du meinst …“ Paul wendete sich ab, seine Schultern sanken nach unten.

„Komm – jetzt sei nicht sauer. War nicht so gemeint.“ Bettina nahm ihn sanft an einem Arm und schaute ihn offen an.

„Warst du wegen Alkohol oder Drogen …“

„Alkohol. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr. Jetzt bin ich zweiundzwanzig. Ich weiß, ich sehe älter aus. Vorgealtert hat der Doc bei der Aufnahmeuntersuchung gesagt.“ Paul sah Bettina mit zusammengepressten Lippen an.

„Da bist du hier in unserem Bioladen genau richtig. Wir werden dich mit unserem Biosachen schon auf Vordermann bringen, wirst es sehen.“

„Du hast sie ja nicht alle! Das ist doch wohl nicht dein Ernst.“ Paul schaute Bettina zweifelnd an.

„Quatsch! Ohne Scheiß. Als ich vor einem Jahr hier ankam, war ich nur Haut und Knochen. Stumpfes Haar, schlechte Zähne, ich sah doppelt so alt aus wie ich bin. Ich kam direkt von der Straße. Drei Jahre auf Junk … und jetzt schau mich an.“

Ungläubig sah Paul Bettina von oben bis unten an. Was er sah, gefiel ihm. Bettina war mittelgroß, ihre dunklen Haare glänzten matt, ihr muskulöser Körper wirkte sportlich und gesund. Ihre Augen waren von einem leuchtenden Braun.

„Du willst mich doch nur veräppeln … durch den Kakao ziehen kann ich mich auch alleine.“ Pauls Stimme klang unsicher.

„Es stimmt. Du kannst ihr glauben.“ Armins Bass drang durch den Raum. „Ich habe gesehen, wie sie hier ankam. Eine kaputte Fixerin, wie du noch keine gesehen hast. Ich dachte, die kommt nie mehr auf die Beine. Und jetzt ist sie unser Vorzeigebeispiel. Wenn wir unseren Tag der offenen Tür haben, darf sie immer die Begrüßungsrede für die Gäste halten. Echt irre!“

Paul winkte ab. „Ich glaub’s nicht. So was kann nicht von bisschen Müsli, Karottensaft und Dinkelbrötchen kommen.“

Seufzend schaute Armin zu Paul. „Sicher nicht allein. Aber schau mal … was machen wir hier denn? Wir stehen früh auf, dann geht es in den Stall, aufs Feld, in die Küche oder hier in den Bioladen. Nachmittags Sport, abends Gruppenstunden, kein Alkohol, keine Drogen, nicht mal Nikotin. Dann die gesunde Ernährung. Mach das nur mal ein halbes Jahr mit und du wirst sehen … dir wachsen bestimmt deine Haare wieder.“

„Jetzt reit’ du nicht auch noch auf meiner Glatze rum.“ Paul kniff die Augen angriffslustig zusammen.

„Komm, Alter. Ist schon gut. Lass uns mal nach hinten in’s Lager gehen. Ich zeig dir mal unser gesamtes Sortiment.“ Versöhnend legte Armin einen Arm um Pauls Schulter.

 

Der Wecker klingelte. Wie vom Bogen geschnellt sprang Paul aus dem Bett und war in wenigen Augenblicken im Bad unter der Dusche. Er prustete und stöhnte unter dem kalten Wasserstrahl, der seinen muskulösen Körper massierte. Als er vor dem Badezimmerspiegel stand, um sich zu rasieren, prickelte sein Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Was für eine Wohltat, dachte er. Er schaute sich im Spiegel an. Dicht gewachsene Brauen, blitzende Augen, eine kräftige Nase und fleischige Wangen zierten sein Gesicht. Sein Kinn zeigte eine markante Note.

Jeden Tag wunderte er sich auf’s Neue. Wo war nur der Kerl mit den eingefallenen Wangen, den Gramfalten um die Mundwinkel und den hängenden Schultern geblieben? Verschwunden, einfach verschwunden. Aber er hatte keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen. Er musste los. Heute war sein großer Tag.

Der erste Tag seiner Ausbildung als Bäcker stand bevor.

Nach seiner Einarbeitung damals im Bioladen hatte er noch andere Arbeitsbereiche des Gutshofes kennen gelernt. Er durchlief die Töpferei, Käserei, Metzgerei, Malerservice und Bäckerei. Die Bäckerei hatte es ihm angetan. Er musste zwar mitten in der Nacht aufstehen, doch bereitete ihm die Zubereitung der Waren aus den natürlichen Rohprodukten, die größte Freude. Keine Zugaben von Geschmacksverstärkern, Farb- und Konservierungsstoffen standen für seine gewonnene Überzeugung ein möglichst naturbezogenes Leben zu führen.

Er zog ein Gummiband durch seine kräftig wirkenden Haare und lupfte seinen Pferdeschwanz auf seinen Rücken. Seine kahle Stelle auf dem Kopf leuchtete hell im Morgenlicht. Haare waren ihm leider keine nachgewachsen.

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Hörbuch

Über den Autor

Epilog
Rainer Güllich, Jahrgang 1954, lebt in Marburg/Hessen. Als begeisterter Leser schon ewig von dem Wunsch getrieben selbst zu schreiben, nahm er an einem Kurzkrimiwettbewerb teil, der im Rahmen des 1. Marburger Krimifestivals stattfand. Er kam auf einen der vorderen Plätze und sein Kurzkrimi ?Hass? wurde in der regionalen Presse veröffentlicht. Dadurch motiviert belegte er seinen ersten Schreibkurs in kreativem Schreiben. Weitere schlossen sich an und als Folge davon erschienen in kurzer Zeit seine beiden ersten Krimianthologien. Der Kriminalroman ?Unter Druck - Ein Marburg Krimi? folgte.

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Epilog Re: Eine berührende ... -
Zitat: (Original von Gunda am 07.10.2011 - 11:35 Uhr) ... GEschichte, Rainer, und vermutlich eine, die ein reales Vorbild hat. Es ist gut, dass es solche Einrichtungen wie diesen Biohof gibt (hier in der Nähe gibt es ebenfalls einen derartigen Hof, auf dem auch einige geistig Behinderte ihre festen Aufgaben haben). Wer so wie dein Protagonist auf einem solchen Hof zurück ins Leben kehren kann, sollte sich glücklich schätzen, aber er muss sich auch darauf einlassen WOLLEN!

Lieben Gruß
Gunda


Liebe Gunda,
es freut mich, wenn dich meine Geschichte anspricht. Dieser Biohof liegt einige Kilometer von hier. Ich besuche ihn an Ostern und Weihnachten. Dann ist dort "Tag der offenen Tür". Das therapeutische Angebot finde ich sehr überzeugend. Zu "meiner Zeit" gab es so etwas leider nicht.
Liebe Grüße
Rainer
Vor langer Zeit - Antworten
Gunda Eine berührende ... - ... GEschichte, Rainer, und vermutlich eine, die ein reales Vorbild hat. Es ist gut, dass es solche Einrichtungen wie diesen Biohof gibt (hier in der Nähe gibt es ebenfalls einen derartigen Hof, auf dem auch einige geistig Behinderte ihre festen Aufgaben haben). Wer so wie dein Protagonist auf einem solchen Hof zurück ins Leben kehren kann, sollte sich glücklich schätzen, aber er muss sich auch darauf einlassen WOLLEN!

Lieben Gruß
Gunda

Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster also ich kann Paul raten, seine Haare nur an einem Löwetag zu schneiden - (mach ich bei meinem Mann und seit 20 Jahren sind die Haare nicht weniger geworden)...

O die Sache mit den Geschmacksverstärkern, bitte warum verbietet die keiner????
Kindern ginge es besser und Erwachsenen auch.
Im Sommer vertrage ich es einigermaßen, aber wenn ich ab Herbst nicht aufpasse, dann falle ich in ein tiefes Loch. Geschmacksverstärker lösen bei mir Allergie und Depressionen aus.
Leider lockt mich ab und an mal ein Frankfurter Würstchen, aber schon in der Nacht weiß ich, ich hätte es lassen sollen.

Deine Geschichte hat mich mal wieder zum Nachdenken gebracht.

Ganz liebe Grüße zu Dir,
Deine Ute

Vor langer Zeit - Antworten
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