Tausende Kirschblüten fallen jeden Tag
Nur noch zwei Schnitte davon entfernt. Von was eigentlich entfernt? Er setzt die Rasierklinge am linken Arm an und schneidet sich die Pulsader mit einem sauberen tiefen Schnitt auf. Nicht quer wie die ganzen Möchtegern-Selbstmörder, die nur Aufmerksamkeit wollen, sondern längs vom Handgelenk bis zum Oberarm. Nicht Aufmerksamkeit, sondern den Tod wünsche ich mir. Für Aufmerksamkeit ist es zu spät. Vor einem halben Jahr hätte mir Aufmerksamkeit gereicht, aber damals hätte ich nie den Mut zum Selbstmordversuch aufgebracht. Ist es wirklich Mut der mir jetzt dabei hilft?... Oder doch nur Feigheit.
Er schaut sich in seinem Zimmer um.
Überall Krimskrams, Andenken an mein Leben, Beweise dafür das ich einmal existiert habe. Nach meinem Tod werden viele Dinge von Freunden und Verwandten als Erinnerungshilfe benutzt, aber die meisten Sachen werden wohl einfach verkauft oder weg geschmissen. Schon fast lächerlich, dass ich auf so was, wie eine Mikrowelle, gespart habe, wobei sie eigentlich komplett wertlos ist. Die wichtigsten Dinge und die einzigen Sachen mit wahrem Wert, sind die kleinen Dinge in denen ein Stück meiner Seele steckt. Die Dinge die ich nie wirklich beachtet habe. Nehmen wir zum Beispiel, das für mich momentan wichtigste Werkzeug: Die Rasierklinge - klein, unscheinbar - wird nach meinem Schaffen zu einem großen, mächtigen Symbol. Vielleicht nicht immer und nicht bis an ihr Lebensende, werden Freunde, Familie und Bekannte von mir, wenn sie eine kleine, unscheinbare Rasierklinge sehen, an mich denken.
Er setzt die Rasierklinge am rechten Handgelenk an, stoppt und starrt die Bilder auf seinem Wohnzimmertischchen an.
Meine Freunde. Meine Familie. Für sie tut es mir Leid. Für sie wird der Abschied schwerer sein, als für mich. Das Warum wird sie quälen. Ich kenne das Warum, habe mich lange mit ihm beschäftigt. Inzwischen verstehen wir uns sehr gut, seine Argumente sind schlüssig und kompromisslos, es ist mein innerstes Selbst, mein Spiegelbild.
Er drückt nun fester auf und zieht die Klinge bis zum Oberarm hinunter.
Schmerz. Ein gutes Gefühl, ein echtes Gefühl, niemals unaufrichtig. Er wird immer schwächer.
Er wird immer müder. Seine Blutlache wird immer größer. Weil er von der Wand langsam abrutscht, versucht er sich wieder aufzurichten.
Gar nicht so leicht mit schmerzenden, aufgeschnittenen Armen.
Er stößt gegen das Wohnzimmertischchen und das Gruppenphoto seiner Freunde fällt herunter und zerbricht.
Ich werde euch vermissen. Ihr wart im Großen und Ganzen immer gut zu mir. Entschuldigt meine Flucht, aber ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Ich bin es so satt. Hätte nie gedacht, dass ich mal auf so feige Weise abtrete, wie hab ich die letzten Tage darum gebeten, dass ich irgendwo per Zufall erschossen, überfahren werde oder sonst wie verunglücke. Aber Nein, nichts dergleichen passierte! Naja jetzt hab ich es ja selbst in die Hand genommen... Ich bin alles so Leid. Kurz und knapp: Ich bin des Lebens müde, will nur noch meine Ruhe.
Seine Augen fallen ihm kurz zu. Sein blick wird verschwommen. Es klingelt. Es klopft. Es klopft immer lauter und hektischer. Jemand schreit, was genau versteht er nicht. Es rumst an der Türe. Sie fliegt aus den Angeln, sein bester Freund stürzt herein, sieht ihn und stürmt zu ihm.
Ich sehe nur noch verschwommen. Wer ist es? Wer bist du? Hör auf mich zu schütteln ich bin müde, ich will schlafen. Für immer. Alles wird immer dunkler. Endlich geht es zu Ende. Mein lang ersehnter Frieden. Kirschblüten fallen 5 Zentimeter pro Sekunde, bei mir hat es bis zur Erde immerhin ganze 23 Jahre gedauert.