„Ach, wie froh ich bin, dass du uns wieder einmal besuchen kommst, Mutter. Ich habe so oft an euch gedacht, in den letzten Tagen. Wie geht es Vater? Macht sein Fuß noch Probleme?“
Stefanie freut sich sehr ihre Mutter wieder zu sehen. Leider lehnt Vater noch immer jeden Kontakt zu Stefanie ab und weigert sich auch seinen kleinen Enkel kennen zu lernen.
„Fahren die Züge noch pünktlich? Man hört ja soviel in letzter Zeit.“
„Also, jetzt schön der Reihe nach, mein Kind. Vater geht es soweit ganz gut. Sein Fuß kommt langsam wieder in Ordnung. Beim Gehen hinkt er kaum noch, es wird immer besser. Auch seine starre Haltung dir gegenüber scheint sich langsam zu ändern. Heute hat er mir beim Einpacken zugesehen und kein Wort gesagt. Ja, stell dir vor, das Stück Butter hat er mir sogar selber in die Tasche gesteckt. Vor einem halben Jahr wäre das undenkbar gewesen. Du wirst sehen – eines Tages bringe ich ihn mit. Die Züge verkehren - Gott sei Dank – noch halbwegs pünktlich.“
Während die Mutter beginnt ihre Taschen auszupacken, versucht Stefanie das schwarze Verdunklungspapier hoch zu rollen. „Wird bei euch auf dem Land auch so genau kontrolliert, ob alle Fenster richtig verdunkelt sind?“
„Aber natürlich, Stefanie. Erst kontrolliert die Polizei und dann kommen die Nachbarn - jeder versucht, dem anderen eins auszuwischen. Ist eine schlimme Zeit, so ein Krieg. Schau, was ich euch mitgebracht habe: Da sind Kartoffeln, Karotten und ein paar Eier - viel legen die Hühner jetzt, in der kalten Jahreszeit, nicht. Da sind auch Milch und Butter. Pfannkuchen isst doch Peter so gerne. Aus den getrockneten Lindenblüten und Kamillen kannst du Tee kochen. Wasser darf man jetzt nicht mehr ungekocht trinken, es könnte verseucht sein. Im Nachbarort sind schon einige Menschen an Typhus gestorben, habe ich gehört. Angeblich war verseuchtes Wasser schuld daran. Bitte, sei vorsichtig! Der Kleine ist ja so empfindlich. Ist sein Husten schon etwas besser?“
„Mutter, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Du kümmerst dich so rührend um Peter und mich. Ich freue mich, dass es Vater wieder besser geht. Hoffentlich hast du recht, und er will uns wirklich einmal sehen. Dann hätte Peter einen richtigen Großvater. Das wäre schön.“ Stefanie räumt die Lebensmittel in den großen, weiß-lackierten Küchenkasten..
„Sag jetzt bitte ehrlich: Hustet Peter noch immer so viel? Ich habe mir große Sorgen um ihn gemacht. Hoffentlich ist es nicht Keuchhusten. Übrigens, ich soll dich von Erika herzlich grüßen. Über das Mäntelchen von Peter hat sie sich sehr gefreut. Peter ist es ja wirklich schon zu klein, aber ihrem Kleinen passt es gerade. Sie lässt sich recht herzlich bedanken.“
„Freut mich, dass ich ihr helfen konnte, sie hat es ja mit ihren drei Kindern besonders schwer. Leider wird Peters Husten immer schlimmer. Aber wie soll er denn gesund werden? Du weißt ja selbst, gestern war wieder zweimal Fliegeralarm. In dem finsteren, feuchten Luftschutzkeller kann seine Erkältung nicht besser werden. Meistens weint er dann viel, weil er sich in der Dunkelheit fürchtet. Gestern hat sich die alte Frau Huber beschwert, aber ich konnte ihn einfach nicht beruhigen. Ich verstehe sie ja auch. Sie leidet ja selbst unter Asthma und bekommt schwer Atem. Wahrscheinlich hat sie Angst vor einer Ansteckung. Ich habe mich dann bei ihr entschuldigt, da ist sie gleich wieder freundlicher geworden.“
„Mami! Mami!“ Peter ist erwacht und streckt seine Ärmchen aus. Er will aus dem Gitterbett geholt werden.
„Ja, mein kleiner Liebling. Ich komme ja schon. Jetzt bekommst du erst einmal deinen Grießbrei. Schau, Oma hat dir frische Milch mitgebracht.“
Stefanie will den Kleinen aus seinem Gitterbett holen, doch Peter bekommt wieder einen schlimmen Hustenanfall. Hochrot im Gesicht ringt er um Luft. Sein Mund ist voll Schleim. Stefanie versucht mit einer Windel den Schleim wegzuwischen. Endlich beruhigt sich Peter wieder, aber er atmet noch immer schwer und rasselnd.
„Um Gottes Willen, Kind, der Kleine ist ja schwer krank. Geh doch mit ihm zu Doktor Baier. Irgendwie werden wir das Geld dafür schon auftreiben.“
„Doktor Baier ist vorige Woche abgeholt worden. In der Nacht sind sie gekommen, in einem Jeep. Seine Frau und seine Kinder, alle mussten weg. Die Praxis ist beschlagnahmt. Wir haben keinen Arzt mehr hier. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“ Stefanie sagt es resignierend, während sie den Grießbrei für Peter zubereitet.
„Das Kind braucht unbedingt einen Arzt. Ach, wenn doch Vater nicht so starrköpfig wäre. Ich werde mit Simon sprechen, der kann uns bestimmt helfen. Für seine Lastwagen bekommt er noch immer genug Treibstoff. Er könnte dich mit Peter ins Spital bringen.“
„Nein, Mutter! Das wirst du nicht. Nicht mit Simon. Wenn Hans...“
„Hans lebt nicht mehr, Stefanie. Bitte, begreife es endlich. Simon ist ein anständiger junger Mann mit gesichertem Einkommen, der dich verehrt und auch Peter ein liebevoller Vater sein würde. Er liebt Kinder, ich weiß es. Wie lange willst du noch warten?“
„Ich kann nicht, Mutter. Ich kann Hans einfach nicht vergessen. Ich werde auf ihn warten, vielleicht kommt er doch eines Tages nach Hause,“ erwidert Stefanie leise, während sie Peter mit Grießbrei füttert.
„Du kannst nicht? Aber zusehen wie dein Kind leidet und jeden Tag schwächer wird, das kannst du? Stefanie, die Zeiten werden immer schlechter, du wirst es allein nicht schaffen und Peter braucht einen Vater. Denk an dein Kind, willst du dein Kind auch noch verlieren? Bitte überlege es dir noch einmal. Simon könnte deinem Kind helfen.“
Peter hat inzwischen seinen Grießbrei aufgegessen und will seiner Großmutter ein Bilderbuch zeigen. Die ernsten Worte ihrer Mutter haben Stefanie tief betroffen gemacht. Langsam geht sie zum Klavier und beginnt zu spielen. Ihre Mutter soll die Tränen in ihren Augen nicht sehen.
Während sie ein Wiegenlied von Mozart intoniert, überschlagen sich in ihrem Kopf die Gedanken: Simon ist zwar ein netter Kerl, aber Liebe, nein, Liebe kann ich für ihn nicht empfinden. Aber habe ich überhaupt ein Recht nur an mich zu denken, ist mein Kind nicht wichtiger? Peters Zustand verschlechtert sich wirklich zusehends. Ich darf mein Kind nicht leiden lassen, ich werde Simon um Hilfe bitten müssen. Vorige Woche habe ich schon die Pendeluhr verkauft, weil die Miete fällig war. Hoffentlich merkt es Mutter nicht. Wie soll es nur weitergehen? Gibt es den keinen Ausweg? Dieser verdammte sinnlose Krieg!