Strahlendes Rot
Da steht aufrührerisches Graffiti an der Wand. In leuchtendem Rot greift es das Kabinett an, macht sich über den Kanzler lustig. Seine Frau ist eine Schlampe, sagt es, die mächtigen Männer alles korrupte Schweine. Es entlarvt die Zensur, enttarnt Vater Staat als widerlichen Transvestiten. Die Männer in den Overalls kommen, um es abzuwischen, das Rot zu übertünchen, den gemeinen Lügen das Maul zu stopfen.
Den Mann, der für das Graffiti verantwortlich ist, haben sie gefasst. Er wurde gefangen genommen, als er gerade Eimer roter Farbe kaufen wollte, mit einem großen Pinsel, um noch mehr von diesem unflätigen Kram in der Stadt zu verteilen. Vor dem Baumarkt haben sie ihn geschnappt. Sie kamen mit einem schwarzen Transporter. Sie sind herausgesprungen, haben ihn gefasst, ins Auto gezerrt, niemand hat's gesehen.
Der Mann mit der roten Farbe sitzt in einem Keller. Eine Lampe leuchtet in sein Gesicht, er kann nichts sehen. Nur eine Silhouette, eingehüllt in kaltem Rauch. Der Mann mit der Farbe hat Angst. Er bemerkt, dass er nackt ist, an einen Stuhl gefesselt, völlig ohne Kleider. Ihm ist kalt und sein Gesicht tut weh. Man hat ihn geschlagen, mehrmals. Seine Lippe blutet.
Wir werden dich foltern, sagt die Silhouette hinter der Lampe, dich mit Nadeln stechen, wenn du uns nicht sagst, was wir wissen wollen. Aber er sagt nichts. Sie nehmen ihm den Schlaf, halten ihn tagelang wach, spielen laute Musik die in seinen Ohren klingelt. Sie drehen an den Uhren, geben ihm nichts zu essen und langsam wird er wahnsinning. Immer wieder Verhöre: Was weißt du? Wer ist noch dabei? Wo ist der Untergrund? Was habt ihr geplant? Aber der Mann mit der Farbe sagt nichts. Er weiß nichts.
Er ist nur ein einfacher Mann, ein Bauer, der zufällig etwas rote Farbe übrig hatte. Im kalten Winter hat er mit dem Esel auf dem Feld die Acker umgepflügt, unter Schweiß und Tränen seinen Hof am Laufen gehalten. Das Geld ist knapp, wissen sie, sehr knapp, und der Kanzler ein Nazi, jawohl, ein Nazi! Wegen ihm gibt es kein Geld, denn immer müssen seine Soldaten in Reih und Glied stehen, während der arme Mann auf der Straße hungert. Und mit Röntgenlampen durchleuchten sie einen im Kaufhaus, bis auf die roten Äderchen unter der Haut, man wird überwacht und abgehört! Eine Unverschämtheit! Sowas hat man nicht verdient, so geht man nicht mit einem ehrlichen Mann um! Da habe er hat die Farbe genommen und das Graffiti an die Wand gemalt, um seinem Ärger Luft zu machen. Das war alles.
Aber sie glauben ihm nicht. Sie stellen mehr Fragen, härtere Fragen, werden ungeduldig. Sie kommen mit größeren Nadeln, mehr Schlafentzug, drücken seinen Kopf unter Wasser und lassen ihn tagelang hungern. Doch er sagt immer noch nichts, er wisse immer noch nicht mehr, nur, dass sie grausame Dämonen sind, die wollen, dass man die Klappe hält. Die geheimen Totenkopfbataillone des Kanzlers, sie haben die Menschen am liebsten als Nummer, ruhig und schweigsam, Rädchen im System, mit grauem Job, weißem Hemd, schwarzer Krawatte. Man soll am Schreibtisch hocken, den Mund halten und ja die Steuer rechtzeitig zahlen! Aber nicht mit ihm, nicht mit dem Mann mit der Farbe! Durch seine Adern fließt echtes Blut, rotes Blut, er arbeitet für seinen Lebensunterhalt, echte Arbeit, mit ihm kann man sowas nicht anstellen! Es gibt keine Zelle, sagt er, keinen Untergrund, keine Verschwörung. Nur etwas rote Farbe!
Und so endet der Mann mit der roten Farbe als roter Fleck auf dem Kellerboden. Hingerichtet, Kopfschuss, die Leiche lässt man verschwinden. Einsam und allein, irgendwo bei der Mülldeponie, oder im Fluss, eingefroren über den Winter, zersetzt oder fortgespült wenn der Frühling kommt. Die Nachrichten werden kurz über ihn berichten. Ein Protokoll der Verhöre kommt zu den Akten, geschwärzt natürlich, alles wichtige zensiert. Der Mann mit der roten Farbe ist vergessen und alles ist wieder gut. Doch so sehr die Männer in den Overalls auch schrubben, so oft sie es übermalen, egal welches Lösungsmittel sie benutzen: Das Graffiti lässt sich nicht abwaschen. Das Rot strahlt immer noch widerspänstig von der Wand und macht sich weiter ungestraft über den Kanzler lustig.