Beschreibung
Da war irgendetwas schiefgelaufen ...
Ihre drei Geschwister - ein Bruder, zwei Schwestern - waren viel hübscher als sie. Auch leichter erziehbar, geradezu Spalierobst im Vergleich mit diesem Wildschössling. In ihr kam noch einmal jener Furor zum Vorschein, der in der Verwandtschaft hier und da schon aufgefallen war: der leicht unzurechnungsfähige Onkel, die übernervösen Tanten ... Ihre Mutter war eine zwar lebhafte, doch im Umgang mit anderen eher sanfte Frau. Nur wenn sie Hilde ansah, verspürte sie diesen Unwillen. Wie klobig ihr das Kind vorkam, dabei oft bockig und immer zu dummen Späßen aufgelegt: Etwas zerreißen, eine Zeitung, einen Zettel, etwas zerbrechen, einen Teller, eine Puppe - das musste sie ihr austreiben, um jeden Preis. Und sie, die sonst so sanfte Frau, verspürte jetzt selbst diesen Ingrimm und griff zum Handfeger, um ihr Kind damit zu züchtigen.
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Hilde fiel immer auf. Sie fiel unangenehm auf, gerade auch in der Öffentlichkeit. Sie zupfte unbekannte Damen am Rock und lachte sich dann scheckig. Fremdes Missgeschick erfüllte sie mit Schadenfreude. Auf der Bahnhofstraße knickte eine Dame mit Hütchen um, Hilde konnte sich nicht mehr beruhigen. Die Dame erklärte: "Das Kind ist nicht richtig im Kopf. Sie müssen es besser im Zaum halten. Wenn es noch einmal vorkommt, melde ich es den Behörden. Sie wissen, was dann geschieht ..." Hildes Mutter griff daheim wieder zum Handfeger und schlug Hilde mit dem Holzteil auf den Kopf. Hilde lachte und weinte zugleich. Diese Szenen häuften sich. Eine von Hildes Tanten warnte ihre Schwester: "Du machst es nur noch schlimmer. Willst du, dass das Kind einen Hirnschaden bekommt?"
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Ihr Bruder wurde ein ehrbarer Versicherungskaufmann. Die ältere Schwester wanderte ins Rheinland aus. Alle sprachen nur mit Ehrfurcht von ihrer Berufstätigkeit: Sie war an der Oper in Köln, und zwar als Logenschließerin. Sie durfte sogar Adenauer die Loge öffnen. Hilde nahm Putzstellen an, viele Putzstellen im Lauf der Zeit. Niemand behielt sie lange. Sie zerbrach manches oder sie stahl. Hildes Mutter erzählte ihren Schwestern: "Frau Eisenbeis war bei mir ... Zehn Mark diesmal. Ich habe es ihr zurückgegeben. Die Stelle ist sie auch los."
Eine von Hildes Tanten kam zu Hildes Mutter. Die große Neuigkeit: "Weißt du, dass sie angeschlagen ist?" Sie hatte nicht einmal etwas geahnt. Hilde war schon in den Dreißigern und heiratete also einen Blinden aus der Hottentottensiedlung. Die Stadt hatte diese sehr schäbigen Häuser vor Jahren für jene gebaut, die für ein auch nur halbwegs bürgerliches Leben erwiesenermaßen ungeeignet waren. Es waren beinahe noch Baracken, mit nur einem Obergeschoss und billigster weißer Anstrichfarbe. Die Außenanlagen beschränkten sich auf die Toiletten zwischen den Häusern. Es war das Unterste vom Untersten. Dorthin zog Hilde nun und fertigte mit dem Blinden Bürsten und Handfeger an, die im Stücklohn vergütet wurden. Der Blinde fiel bei seltenen Besuchen in der Verwandtschaft unangenehm auf. Ein heller Kopf, gewiss, doch boshaft schien er auch, machte alles herunter ... Einige zweifelten sogar an seiner Blindheit: "Er guckt sogar Fernsehen."
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Hilde kam meistens ohne ihn. Dann regte sich in der Verwandtschaft eher Mitleid mit ihr. Man lud sie zum Kaffeetrinken ein. Manchmal war sie in sehr weicher Stimmung, weinte beinahe. Oder sie berichtete von neuem Streit mit ihrer Mutter. Sie werde in Zukunft nicht mehr zu ihr gehen. Sie war noch keine fünfzig, als sie plötzlich starb. Das Herz, hieß es. Ihre Mutter wurde doppelt so alt, fast hundert, lange betreut von ihrer jüngsten Tochter. Das war eine patente Frau: hübsch, gescheit, anstellig. Da gab es nie einen Grund zur Klage.
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