Rozka
Rozka war ein kleines semmelblondes Etwas, kaum größer als eine Katze, als ich sie das erste Mal sah. Ihr Fell war gepflegt, die Haare frisch gebürstet und sie war äußerst tollpatschig. Mehr stolpernd als laufend, begleitete sie den russischen Wachsoldaten, der beim Eingangstor des Schlosses Wache hielt – immer fünf Schritte vor und wieder fünf zurück.
Auch aus Russland stammend, sollte die kleine Hundedame das Maskottchen der Besatzungssoldaten werden, die in unserer Stadt im Schloss einquartiert waren.
Der rechte Trakt des Gebäudes war ausschließlich den Russen vorbehalten, im anderen Teil waren Wohnungen und Büros der Erdölgesellschaften untergebracht.
Links im Parterre, gleich neben dem Haupttor war die Telefonzentrale, in der meine Mutter als Telefonistin beschäftigt war. Sie hatte abwechselnd Tag- oder Nachtdienst und manchmal durfte ich – damals ein Mädchen von knapp zehn Jahren – sie besuchen. Klopfenden Herzens schlich ich dann immer am russischen Wachposten vorbei, der aber keinerlei Notiz von mir nahm.
Im Sommer spielten die Soldaten oft Fußball im Schlosshof und mitten unter ihnen lief auch ein riesiger Schäferhund umher. Vor dem Hund hatte ich Angst, aber Rozka, seine Nachfolgerin, gefiel mir so gut, so dass ich nun jeden Tag nach der Schule zum Schlosstor ging, in der Hoffnung, sie wieder zu sehen Doch meist vergeblich, denn für Rozka hatte bereits die `militärische Ausbildung` begonnen und sie musste mit den Soldaten auf den Exerzierplatz oder zum Schießstand.
Da sie eine gelehrige Schülerin war, beherrschte sie bald die verschiedensten russischen Kommandos, sie blieb zum Beispiel wie angewurzelt stehen, wenn jemand `Stoj` rief und verstand es auch sich völlig geduckt lautlos an den vermeintlichen Feind anzupirschen. Sie konnte richtig robben, indem sie die Hinterläufe völlig ausgestreckt ließ und sich nur mit den Vorderpfoten vorwärts zog.
Auch auf dem Schießplatz zeigte sie keinerlei Angst und lag stundenlang ruhig neben den Soldaten.
So gehorsam sie auch tagsüber war, abends und später auch nachts wollte sie von ihren Ausbildern nichts mehr wissen. Da wechselte sie auf die österreichische Seite, ging hier von Tür zu Tür, holte sich Streicheleinheiten und ab und zu kleine Leckerbissen. Oft kam sie auch zu meiner Mutter in die Telefonzentrale. Hier schien es ihr besonders gut zu gefallen, denn sie kam immer öfter und blieb immer länger. Des Öfteren kratzte sie auch nachts an der Tür und wartete geduldig bis ihr geöffnet wurde.
Den Soldaten gefiel diese Entwicklung nicht, denn ihnen war der Kontakt zu Zivilpersonen streng untersagt und genauso wollten sie es mit Rozka halten. Anfangs lachten sie zwar über die kurzen Ausflüge des Hundes und holten ihn zurück, doch mit der Zeit wurden sie immer zorniger und schlugen den Hund, wenn er auf ihr Rufen nicht sofort reagierte.
Einmal war Rozka drei Tage lang nicht zu sehen. Am vierten Tag kam sie halb verhungert wieder zu ihren österreichischen Freunden – die Soldaten hatten sie zur Strafe im Keller eingesperrt.
Inzwischen hatte sie auch ein gutes Zeitgefühl entwickelt und wusste ganz genau wann meine Mutter Dienstschluss hatte, denn kaum hatte meine Mutter das Tor passiert, sah man auch Rozka, die ihr in angemessenem Abstand folgte.
Um dem Hund keine weiteren Schwierigkeiten zu bereiten, scheuchte ihn meine Mutter immer wieder zurück, was Rozka nur knurrend zur Kenntnis nahm.
Es war offensichtlich, Rozka wollte desertieren und wartete nur auf eine günstige Gelegenheit zum Absprung. Die sollte auch bald darauf kommen.
Eines nachts – der Hund war wieder einmal schon längere Zeit nicht mehr gesehen worden – klopften Soldaten an die Tür der Telefonzentrale und forderten energisch Einlass.
Erschrocken öffnete meine Mutter die Tür. In gebrochenen Deutsch forderte sie einer der Russen auf, den Hund sofort herauszugeben, denn der müsse auf Anordnung des Kommandanten erschossen werden, weil er immer wieder davonlaufe.
Wahrheitsgemäß beteuerte meine Mutter, Rozka schon längere Zeit nicht mehr gesehen zu haben. Zornig durchsuchten sie das Zimmer und sahen in jeden Kasten. Meine Mutter hatte Angst und hoffte nur, dass Rozka nicht gerade in diesem Augenblick an der Tür kratzen würde. Gott sei Dank blieb sie verschwunden.
Als meine Mutter am nächsten Morgen nachhause kam, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Rozka saß vor unserer Haustür und sah sie bittend an. Diesem Blick konnte niemand widerstehen, auch meine Mutter nicht.
Ungeachtet der Schwierigkeiten, in die sie kommen konnte, schnappte sie kurzerhand die Hundedame und brachte sie zu meinen Großeltern, die in einem anderen Ort - fünf Kilometer weit entfernt – wohnten. Hier war sie erst einmal in Sicherheit.
Einige Monate später holten wir Rozka zu uns.
Anfangs gab es Verständigungsschwierigkeiten, denn sie verstand kaum deutsch und wir sprachen nicht russisch. Doch nach einiger Zeit gehorchte sie aufs Wort und führte uns stolz alle Kunststücke vor, die sie bei den Soldaten gelernt hatte.
Sie blieb uns noch viele Jahre eine treue Gefährtin, doch Uniformen hasste sie bis an ihr Lebensende und Briefträger und Gendarmen betrachtete sie immer als ihre ganz persönlichen Feinde.