Kurzgeschichte
Regentropfenherzen

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"Regentropfenherzen"
Veröffentlicht am 17. August 2011, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

gelernte Buchhändlerin, Mediapublishing-Studentin, lesesüchtiger Gedankenmaler, Katzenpersonal. Mehr von mir gibt's hier: www.gedankenmaler.blogspot.com (Kreatives) www.das-buecherei.blogspot.com (Gelesenes)
Regentropfenherzen

Regentropfenherzen

Regentropfenherzen

Die Zugtüren schließen sich mit einem dumpfen Krachen. Ich sitze am Fenster, du stehst auf dem Bahnsteig. Das Glas, das uns trennt, erscheint mir meterdick. So undurchdringbar, dass ich die Worte nicht hören kann, die deine Lippen formen. Doch das macht nichts. Ich weiß, was du sagst, denn wir fühlen beide dasselbe.
Mit dem Finger malst du ein kleines Herz auf die regenfeuchte Fensterscheibe, dann noch eins daneben. Ich lege meine Hand gegen deine, ein letztes Mal, bevor sich der Zug in Bewegung

setzt.
Zuerst langsam, dann immer schneller nimmt er mich mit, lässt dich zurück. Reißt mich fort von dir. Ich kann dich noch sehen, dort am Bahnsteig. Ich winke dir zu und versuche dabei irgendwie zu lächeln, während du immer kleiner wirst, dich immer weiter von mir entfernst. Doch das Lächeln schwindet schnell, als der Zug um die Kurve biegt und du endgültig aus meinem Blickfeld verschwunden bist. Ab jetzt werde ich mich mit jeder Minute mehr von dir entfernen. Der Gedanke schmerzt.
Du wolltest mich trösten, sagtest mir, dass wir uns bald schon wiedersehen. Doch die Worte trösten schon lange nicht

mehr. Keinen von uns. Du weißt es genauso gut wie ich.
Es fängt an zu regnen, wieder einmal. Das Wasser fließt in kleinen Bächen über die Fensterscheibe. Verwischt die Herzen. Bald werden sie ganz verschwunden sein. Bleiben wird nur eine makellose Decke aus Regentropfen und nichts wird mehr an die Sehnsucht erinnern, die ich in diesem Moment fühle. Niemand wird je die Tränen sehen, die ich mühsam hinunterschlucke, eine für jede Minute, die ohne dich vergeht.
Der Platz neben mir ist immer noch frei. Ich wünschte, du wärst hier. An meiner Seite, meine Hand in deiner. Doch das

ist unmöglich. Der Platz bleibt leer und wird es auch die ganze Fahrt über bleiben, wie um mich beständig daran zu erinnern, dass du nicht bei mir bist. Als ob ich dafür eine Erinnerung bräuchte ...
"Besser so", will die Stimme in meinem Kopf sagen. "Ein bisschen Zeit für dich." Doch mehr als ein heiseres Flüstern bringt sie nicht mehr heraus. Zu viel hat sie schon geredet. Zu oft immer wieder dieselben Sätze wiederholt. Ihr fällt längst nichts Neues mehr ein, denn sie weiß, dass sie Unrecht hat. Weiß es ebenso gut wie du und ich.
Es ist merkwürdig - man kann immerzu allein sein, ein ganzes Leben lang, und sich nie daran stören. Doch sobald man

einmal erfahren hat, was es heißt, zu zweit zu sein, kann man mit dem Alleinsein plötzlich nicht mehr umgehen.
Ob man es wieder lernen kann? Lernen, allein zu sein, wenn man es muss?
Vermutlich ist es eine Frage des Wollens, wie so Vieles im Leben. Und mir wird klar, dass ich es nicht will, im Gegenteil. Am liebsten würde ich alles vergessen, was ich über das Alleinsein weiß, hier und jetzt, und es nie wieder lernen müssen.
Draußen wird es langsam dunkel. Die Nacht schluckt, was von den Herzen am Fenster noch übrig ist und macht sie unsichtbar. Nur manchmal werden sie

noch von vorbeiziehenden Lichtern beleuchtet. Dann kann ich sie kurz sehen. Doch sie sind kaum mehr da.
Die Frau auf dem Platz gegenüber ist eingeschlafen. Ich sehe ihre Spiegelung in meiner Fensterscheibe. Sehe, wie sich ihre Brust langsam hebt und senkt. Sie hat ein Lächeln auf den Lippen, sicher träumt sie etwas Schönes. Vielleicht sollte ich auch schlafen. Vielleicht würde ich dann auch etwas Schönes träumen. Vielleicht sogar von dir. Aber ich schlafe nicht ein. Ich habe zu viel Angst, den Ausstieg zu verpassen. Dabei ist das unmöglich. Auf der Fahrt ins Nirgendwo bleibe ich bis zur Endstation

sitzen.
Ich beobachte die Regentropfen, die an der Scheibe hinabrinnen. Sie fließen ineinander, vereinen sich zu einem. Wie zwei Herzen, die sich gesucht und gefunden haben. Die man nicht mehr trennen kann. Nicht trennen darf. Wie du und ich.
Es ist wieder dunkel, weit und breit keine Straßenlaterne in Sicht. Ich lehne den Kopf gegen das Fenster. Dort, wo bis eben noch deine Herzen waren. Die Scheibe ist kalt. Keine Spur mehr von der Wärme deiner Finger. Es erinnert mich daran, dass ich heute Nacht allein ins Bett gehen werde, ohne deine Arme, die mich halten. Ohne deinen sanften

Atem an meinem Ohr. Ohne dich.
Der Schaffner kündigt die letzte Haltestelle an. Ich steige aus, werfe einen letzten Blick auf das Fenster mit den Herzen. Von außen sind sie besser zu sehen.
Ich lege meine Hand darauf, versuche ein letztes Mal deine Wärme zu spüren. Dann wische ich sie weg, nehme sie mit mir. Zurück bleibt nur eine makellose Decke aus Regentropfen und nichts erinnert mehr an die Sehnsucht, die ich in den letzten Stunden fühlte.
Ich wische mir mit der feuchten Hand über die Augen. Niemand sieht die Tränen, die mir in diesem Moment über die Wangen laufen. Denn es sind keine

Tränen.
Es sind Regentropfenherzen.

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Über den Autor

Moena90
gelernte Buchhändlerin,
Mediapublishing-Studentin,
lesesüchtiger Gedankenmaler,
Katzenpersonal.

Mehr von mir gibt's hier:
www.gedankenmaler.blogspot.com (Kreatives)
www.das-buecherei.blogspot.com (Gelesenes)

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Moena90 Re: wundervolle Sehnsuchtsgeschichte..... -
Zitat: (Original von Feedre am 04.08.2012 - 12:42 Uhr) Oh ja Erinnerungen werden wach....zwischen uns lag der Atlantik....viele...viele Regenbogenherzen!
Lg
Feedre

Hallo Feedre!

Ein ganzer Atlantik? Oje. Mir reichen schon fünf Stunden Zugfahrt.
Danke dir fürs Lesen und für dein Lob. :)

Gruß,
Moena
Vor langer Zeit - Antworten
Feedre wundervolle Sehnsuchtsgeschichte..... - Oh ja Erinnerungen werden wach....zwischen uns lag der Atlantik....viele...viele Regenbogenherzen!
Lg
Feedre
Vor langer Zeit - Antworten
Moena90 Re: Ich fühl mich ja böse erinnert, -
Zitat: (Original von LadyLy am 27.10.2011 - 21:15 Uhr) an den Moment, als mein Liebster und ich noch in unterschiedlichen Leben lebten und es macht mich beinahe schwermütig wenn ich lese, wie es bei Euch und für Euch sein muss.

Du setzt Deine Gedanken großartig um, insbesondere wenn sie eine reale Momentaufnahme sind, denn eben diese in Worte zu fassen erscheint mir oft noch schwieriger.

Überhaupt mag ich den Begriff der Regenbogenherzen. Ich persönlich liebe ja derartige Wortschöpfungen.

Es grüßt herzlichst eine Wissende über den Abschied
Ly


Hallo Ly!

Nun ja, da müssen wir wohl oder übel durch. Zumindest für die nächsten ein einhalb Jahre. Bis dahin werden mir solche Bahnfahrten zu regelmäßigen Begleitern. *seufz*

Die Geschichte ist wirklich mal zum Großteil real und auch zum Großteil tatsächlich im Zug erdacht. Sie ist am Ende auch länger geworden als gewollt, aber wie das so ist ... Wenn die Gedanken einmal am Wandern sind - man kennt das ja. Dann muss man ihnen den nötigen Raum zugestehen.

Das Wort "Regentropfenherzen" war an dem Abend auch einfach da. Ich meine, ich hatte die Herzen ja die ganze Zeit vor Augen und irgendwann kam mir dieses Wort in den Sinn. Da war dann auch beschlossen, dass daraus ein Text werden muss - zugegebenermaßen fand ich das Wort nämlich auch einfach zu schön, um es ungenutzt vorbeiziehen zu lassen. ;)

Ich danke dir mal wieder fürs Lesen und für deine lieben Worte. :)
Mo
Vor langer Zeit - Antworten
LadyLy Ich fühl mich ja böse erinnert, - an den Moment, als mein Liebster und ich noch in unterschiedlichen Leben lebten und es macht mich beinahe schwermütig wenn ich lese, wie es bei Euch und für Euch sein muss.

Du setzt Deine Gedanken großartig um, insbesondere wenn sie eine reale Momentaufnahme sind, denn eben diese in Worte zu fassen erscheint mir oft noch schwieriger.

Überhaupt mag ich den Begriff der Regenbogenherzen. Ich persönlich liebe ja derartige Wortschöpfungen.

Es grüßt herzlichst eine Wissende über den Abschied
Ly
Vor langer Zeit - Antworten
Moena90 Re: -
Zitat: (Original von MysticRose am 17.08.2011 - 22:14 Uhr) Das ist sooooooooooooooooooooooo schön geschrieben! :-)
Ich weiß, diesen Kommentar hätte ich mir auch sparen können, aber ich weiß nicht, was ich dem sonst hinzufügen soll :-P total schöne Geschichte :-)


Ach was, Kommentare sollte man sich nie sparen. :) Ich jedenfalls find ihn sehr schön. ;)
Danke fürs Lesen und für das Lob! :)
Vor langer Zeit - Antworten
MysticRose Das ist sooooooooooooooooooooooo schön geschrieben! :-)
Ich weiß, diesen Kommentar hätte ich mir auch sparen können, aber ich weiß nicht, was ich dem sonst hinzufügen soll :-P total schöne Geschichte :-)
Vor langer Zeit - Antworten
Moena90 Re: Re: Re: -
Zitat: (Original von Ryna am 17.08.2011 - 21:31 Uhr)
Zitat: (Original von Moena90 am 17.08.2011 - 21:19 Uhr)
Zitat: (Original von Ryna am 17.08.2011 - 20:42 Uhr) Liebe Moena,

ganz still ist es in meinem Herzen geworden,
tief berührt klopft es
und schenkt deinen Regentropfenherzen
ein kleines Lied ...

wunderschön geschrieben ...

liebste Grüße zu dir
Ryna


Der Text mag schön geschrieben sein, aber an deinen Kommentar kommt er nicht ran. Dankeschön dafür. Hätte ich den Text damals schon zuende geschrieben, als ich ihn angefangen hab, hätte dein Kommentar den Tag vermutlich um Einiges besser gemacht. :)

Und ja, die Regentropfenherzen sind ausnahmsweise mal nicht erfunden gewesen. Die gab es wirklich.

Liebe Grüße,
Moena


jetzt hast du mir aber unter die Haut geschrieben ....
bin ganz berührt
DANKE ...
doch sei dir sicher,
der Text mag nicht... er IST wunderschön!
eine Kurzgeschichte vom Feinsten *lächel*
und einen Anker hast du auch gesetzt, ich werde oft an deine Regentropfenherzen denken ...
schon allein das Wort ist ein Märchen ...


Das Wort ist auch mein neues Wort des Jahres. Das war irgendwie einfach da und passte so perfekt, dass es mir nicht mehr aus dem Kopf wollte. Schön, wenn das nicht nur bei mir so ist. :)
Vor langer Zeit - Antworten
Moena90 Re: Ach Mensch, so was ... -
Zitat: (Original von PhanThomas am 17.08.2011 - 21:03 Uhr) ... kannste mir doch nicht zu lesen geben, wenn ich neben dir auf dem Sofa sitze. Und jaaaa, ich weiß schon, ich sollt's ja erst morgen lesen. ;-) Haste fein gemacht. Da male ich doch gern Herzchen auf die Zugfenster. :-*


Lass das mal lieber mit den Herzen. Herzen an Zugfenstern machen doofe Gedanken, wie du siehst, vor allem wenn ich sie dann sechs Stunden lang sehen muss. Aber du kannst ja beim nächsten Mal was anderes dran malen, vielleicht wird dann wieder eine Geschichte draus. :)

Übrigens: Nichts mit "na ja, vielleicht" - Davon ist gar nichts geträumt gewesen. Die Gedanken im Text sind quasi originale Berlin-Stuttgart-Zugfahrtgedanken.
Vor langer Zeit - Antworten
Moena90 Re: -
Zitat: (Original von Ryna am 17.08.2011 - 20:42 Uhr) Liebe Moena,

ganz still ist es in meinem Herzen geworden,
tief berührt klopft es
und schenkt deinen Regentropfenherzen
ein kleines Lied ...

wunderschön geschrieben ...

liebste Grüße zu dir
Ryna


Der Text mag schön geschrieben sein, aber an deinen Kommentar kommt er nicht ran. Dankeschön dafür. Hätte ich den Text damals schon zuende geschrieben, als ich ihn angefangen hab, hätte dein Kommentar den Tag vermutlich um Einiges besser gemacht. :)

Und ja, die Regentropfenherzen sind ausnahmsweise mal nicht erfunden gewesen. Die gab es wirklich.

Liebe Grüße,
Moena
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