Scylla Jeruscha
Stumme Schreie
* * *
~ Kinderaugen lügen nicht ~
*Nach einer wahren Begebenheit*
Stumme Schreie
* * *
~ Kinderaugen lügen nicht ~
Sie sitzt in der Klasse, die Augen brennen ihr, der Schlaf fehlt ihr. Sie ist so unglaublich müde. Die letzte Nacht war schrecklich - mal wieder. Sie sieht an der Tischreihe entlang. Dort steht die Lehrerin, nun nichtmehr weit entfernt und möchte die Hausaufgaben sehen. Sie sieht auf ihr heft und sieht... nichts. Gähnende leere herrscht dort. Sie greift zu ihrem Bleistift und setzt ihn an, versucht eine Linie zu ziehen, doch ihre Finger tun so furchtbar weh. Sie lässt ihn wieder fallen und kurz darauf steht die Lehrerin auch schon vor ihr. Sie zieht die Stirn kraus und sieht auf das leere Heft des Mädchens.
"Vanessa, du hast ja wieder keine Hausaufgaben gemacht!"
Sie sieht auf ihr Heft, sieht die Lehrerin nicht an.
"Was soll ich noch mit dir machen? Du hast in diesem Monat noch nicht eine Aufgabe zuhause gelöst!"
Sie nickt, wieder ohne die Lehrerin anzusehen.
"Ich werde deine Oma einladen müssen, so geht das nicht weiter. Du kommst mit dem Stoff nicht mehr hinterher."
Sie sieht die Lehrerin an, ihre Augen sind geweitet und regelrecht aufgerissen. Wieder nickt sie, ergeben und wie geschlagen.
"Du brauchst doch keine Angst zu haben, dein Onkel und seine Freunde werden wieder auf dich aufpassen und es wird dir schon nichts passieren."
Frau Schenk sieht sie lächelnd an, doch das Mädchen schaut sie selbst nur panisch an. Die Lehrerin hatte nie verstanden, was mit dem Mädchen war.
Sie hat eine fürsorgliche Großmutter, welche sich um das Wohl der Enkelin sorgt, einen wundervollen Onkel, der die Kleine liebt und selbst seine besten Freunde kümmern sich um sie und spielen mit ihr.
Doch Frau Schenk weiß nur das, was die "Außenwelt" wissen soll.
Sie weiß nichts von den Schlägen, die das Mädchen bekommen wird, wenn es den Brief der Lehrerin abgibt. Dann muss sie wieder in die Abstellkammer, in die Dunkelheit. Dann muss sie wieder die groben Hände ertragen.
Und später, in ihrem Bett, die Schmerzen über sich ergehen lassen. Doch davon weiß Frau Schenk nichts.
Am Ende des Schultages bittet sie das Mädchen, kurz zu bleiben. Sie gibt ihr den Brief und sieht ihr ins Gesicht.
"Hast du zuhause irgendwelche Probleme?"
Das Mädchen sieht sie an. Es schüttelt den Kopf. "Nein..." flüstert sie kaum hörbar.
"Dann geh jetzt nach Hause. Und mach deine Hausaufgaben."
Hätte Frau Schenk nur einen Moment länger hingeschaut, dann hätte sie in den Augen des Mädchens vielleicht lesen können, welches Leid sie Tag für Tag durchlebt.
Doch sie hat auf die Lügen des Mädchens reagiert, nicht auf die stummen Schreie, welche aus ihren Augen drangen.
Denn Kinderaugen lügen nicht...